Manchmal wundert man sich. Das sind wertvolle Momente, denn am meisten lernen kann man, wenn man in der Lage bleibt, sich über sich selbst und seine Fehler zu wundern. Aber wer gibt die schon gerne zu? Die Gattung Mensch hat eine ganze Reihe kluger Mechanismen erfunden, die uns vor allzu tiefer Einsicht in eigene Fehler schützen sollen (bspw. Schuldzuweisungen oder Projektionen). Selbstwert und Status könnten darunter leiden. Deshalb sind die meisten Projekt- oder Ergebnispräsentationen, aber auch viele der wirtschaftsnahen Fachzeitschriften voller “Best-Practice-Beispiele”. Das Problem ist nur: Uns ist noch kaum ein echtes Exemplar dieser viel besungenen Spezies begegnet, und offenbar ist sie viel seltener als behauptet wird. Wenn man ein Exemplar von Weitem entdeckt, steht meist ein Rufer daneben, der die Vorzüge genau dieses Exemplars lobt. Es reicht dann zumeist aus, eben nicht auf den Rufer zu hören, sondern eine andere beteiligte Person zu fragen, und man erhält ein ganz anderes Bild: Best Practice war doch nicht da, sondern nur eine Fata Morgana. Nach unserer Erfahrung ist es nur sehr selten “einfach”, sondern in der Regel spezifisch (von Fall zu Fall anders) und komplex. Standardisierte Vorgehensweisen und Modelle helfen wenig, sondern es ist notwendig, sich tief in einen “Fall”, also eine Kundenorganisation, zu involvieren. Erst aus dieser “Innensicht” werden die – häufig mehrdimensionalen – Problemlagen klar. Entgegen der weit verbreiteten systemischen Lesart gibt es nach unserer Erfahrung auch nur selten eine “Lösung” im Sinne des Wortes, sondern eher einen – mitunter langen – Entwicklungsweg, der viel mehr mit kontinuierlichen kleinen Schritten als mit einem großen “Klick” zu tun hat. Der “Moment, in dem es Klick gemacht hat” entsteht nach unseren Erfahrungen eher erst in der Rückschau – wenn man tatsächlich einige Schritte gemacht hat und zurückblickt, reduziert sich die Vielfalt der Ereignisse zu einigen signifikanten Momenten, nach denen etwas wahrnehmbar anders war als vorher.
Wir haben beispielsweise im vorvergangenen Jahr in einem unserer Projekte einen Fehler gemacht, aus dem wir viel gelernt haben. Sowohl aus der Literatur als auch aus eigenen Erfahrungen wissen wir, dass Organisationsentwicklung in Krisensituationen eher ungeeignet ist, weil der existentielle Druck einerseits und die Zeit, die ein solches Projekt braucht, nicht zusammen passen. Des Weiteren sind die Beteiligten in Krisensituationen nicht offen für Lernprozesse, weil Selbstreflexion und das Nachdenken über Prozesse, das ebenfalls viel mit kontinuierlicher Reflexion in Teams und unter Führungskräften zu tun hat, aufgrund des herrschenden Drucks kaum möglich sind. Aber wo verläuft die Grenze? Wann ist ein Unternehmen in der Krise? Hier bestimmte Kennzahlen anzusetzen, führt zu keinen tragfähigen Beurteilungen, denn wir haben bereits in Krisensituationen beraten, die existentiell bedrohlich waren, es den Führungskräften jedoch gelungen ist, das “Ruder herumzureißen”. In diesem konkreten Fall versicherten uns die Verantwortlichen, dass sie gerade die Krise als Chance zur Veränderung begreifen, und dass sie diesen Weg mit uns gehen wollten. Wir wiesen darauf hin, dass die “Krisenfrequenz” in den vergangenen Jahren zugenommen hatte – von Krisen etwa alle zwei bis drei Jahre über ähnlich bedrohliche Ereignisse alle etwa zwölf Monate bis hin zur manifesten Insolvenzgefahr alle etwa sechs bis acht Monate. Unsere von Anfang an guten Beziehungen zur Leitung und deren Versicherung, dass wir im Unterschied zu früheren Beratern ein gutes Verständnis für das Unternehmen und seine spezifische Situation entwickelt hätten, ließen uns dennoch zu der Entscheidung kommen, ein OE-Projekt zu beginnen. Wir vereinbarten eine Reihe von Schritten, darunter Schulungen und Workshops für Bereichs- und Projektleiter, die Einführung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses und regelmäßige Reflexionstermine mit der Leitung. Anfänglich lief das Vorhaben gut, wir lernten die Organisation immer besser kennen und begannen, in Workshops an den Kernprozessen und den Strukturen des Unternehmens zu arbeiten. Die Leitung war an allen Terminen beteiligt, und wir kamen nach einer Reihe von Terminen überein, dass die Produktionsleitung und die Teamstruktur von Projektmanagement und Produktion die wichtigsten Ansatzpunkte waren. Ziel war die Einführung teilautonomer Arbeitsgruppen mit Projektverantwortung und in enger Zusammenarbeit mit den anderen, am Kernprozess beteiligten Unternehmensbereichen. Nach einigen wichtigen Workshopterminen mussten wir jedoch feststellen, dass die geplanten Änderungen nicht umgesetzt wurden. Trotz gegenteiliger Bekundungen durch die Leitung blieben die alten Gewohnheiten mächtig und konnten nicht geändert werden. Dies gipfelte in ambivalenten Führungshandlungen – im Gespräch mit Bereichsleitern wurden bestimmte Handlungsspielräume und Schritte vereinbart, sobald diese Schritte aber zur Ausführung kamen, wurden die entsprechenden Führungskräfte durch die Leitung für Eigenmächtigkeit bestraft. Wir sahen uns mit einem Ausmaß an Ambivalenz konfrontiert, das wir bis dahin so noch nicht kennengelernt hatten. Nach einem klärenden Gespräch zogen wir uns aus dem Unternehmen zurück.
Was wir aus diesem Projekt, das eben kein “Best Practice-Fall” war, gelernt haben, betrifft vor allem die Ethik der verantwortlichen Personen. Es war das eine, wenn jemand authentisch und verbindlich sagt, dass sie oder er etwas ändert. Es war auch möglich, eine gute und offene, reflexionsorientierte Bindung aufzubauen. Etwas völlig anderes war in diesem Fall, wie die verantwortlichen Personen konkret gehandelt haben. Diese Beobachtungen konnten wir leider erst sehr spät machen, denn solche Handlungen passierten zunächst nicht in unserem Beisein. Man braucht also Daten darüber, was die verantwortlichen Personen tatsächlich tun. Was sie darüber sagen, kann etwas gravierend anderes sein. Oder kurz gesagt: Die Werte einer Führungskraft erkennt man nicht an ihren Worten, sondern nur an ihren Handlungen, und zwar insbesondere denen unter Druck. Es war leider nicht möglich, dies so anzusprechen, dass es eine nachhaltige Wirkung gehabt hätte. Wir haben verschiedene Methoden bis hin zum konfrontierenden Coaching angewandt, aber ohne Erfolg.
Es sei an dieser Stelle noch ein anderer Fall mit einem positiveren Verlauf geschildert, dessen Ausgangsbedingungen zunächst weniger erfolgversprechend aussahen. Eine eher kleine Non-Profit-Organisation stand vor einem Generationswechsel. Mit diesem Generationswechsel waren auch existentielle Fragen verbunden. Bisher hatte man die Arbeit fast ausschließlich ehrenamtlich erledigt, und die Zielgruppe waren kulturell interessierte und sozial engagierte, zumeist ältere Menschen. Die Situation zum Zeitpunkt des Projektbeginns stellte sich wie folgt dar:
- Die Kernzielgruppe wurde immer älter und nahm zahlenmäßig ab.
- Die Organisation von kulturellen und sozialen Aktivitäten und insbesondere die Mittelbeschaffung waren in den letzten Jahren immer komplexer und aufwendiger geworden. Das hatte die Beschäftigung hauptamtlicher – und entsprechend deutlich jüngerer – Projektmanager erfordert.
- Zwischen der ehrenamtlichen Leitung (zur Generation der Kernzielgruppe gehörend) und den hauptamtlichen Angestellten waren Konflikte entstanden. Während die ehrenamtliche Leitung den Hauptamtlichen unterstellte, die Arbeit eher für Geld denn um der Sache willen zu tun, fühlten sich die Angestellten unverstanden, nicht akzeptiert und notwendiger Handlungsspielräume beraubt.
- Die Ursache für diese Konflikte lagen in unterschiedlichen Werteverständnissen – während die ehrenamtliche Leitung Tradition und soziales Engagement betonte, verstanden sich die jungen Menschen eher als postmodern und pragmatisch.
- Zu diesen Störungen in der Beziehung bzw. dem Verständnis zwischen beiden Seiten kam die Frage nach den zukünftigen Entwicklungschancen der Organisation hinzu. Es gab keine gemeinsam geteilte Vision von der Zukunft der Organisation. Während einerseits die Verteidigung von Werten und die Pflege von Traditionen im Vordergrund stand, war der anderen Seite eine deutlich offenere, generationenübergreifende Arbeit mit auf Europa orientierten kulturellen Elementen wichtig.
Wir begannen die Arbeit nicht mit einem Visionsworkshop. Dieser kam erst ganz am Ende, gleichsam als Schlusspunkt der Entwicklung. Unser Ansatz war ein problemorientierter. Wir analysierten zunächst die Probleme im Team mit einer Reihe entsprechend geeigneter Methoden (Aufstellung des Teams mit Tierfiguren; Persönlichkeitstest etc.). Zusätzlich führten wir vor den Workshop-Terminen immer Einzelgespräche mit der ehrenamtlichen Leitung der Organisation und im Anschluss an die Workshops immer Einzelcoachings mit den hauptamtlichen Projektmanagern durch. Nach der Thematisierung der Beziehungen im Team verschlechterte sich das Klima zunächst weiter bis zu einem Ausmaß, angesichts dessen sich die Beteiligten (zumeist einzeln und für sich in Form von ambivalenten, über einen längeren Zeitraum verteilten Entscheidungsschritten) sagten, dass es so nicht weitergehen könne. Fortan gab es – mitunter auch missverstandene – Versuche, erste Schritte aufeinander zu zu gehen. Die Workshops zu jener Zeit beschäftigten sich eher mit den faktischen Abläufen innerhalb der Organisation (Raumaufteilung, Frequenz und Ablauf von Arbeitsbesprechungen, Zeitmanagement, Projektmanagement, Kernprozess der Organisation). In den Einzelgesprächen wurde aber weiterhin an den Beziehungen zwischen den Beteiligten und insbesondere am Verständnis der Schritte und Handlungen der jeweils anderen Seite gearbeitet. Das Mittel in diesen Coaching-Gesprächen waren vor allem Fragen nach alternativen Deutungen der Motive der jeweils anderen Seite mit dem Ziel eines Verständnisses der Werte bzw. der Entwicklung genau dieser Wertekonstellation.
Als nach fünf eintägigen Terminen, die über etwa ein Jahr verteilt lagen, alle Beteiligten zum Ausdruck brachten, dass man zuversichtlich sei, die Herausforderungen zu meistern und man optimistischer in die Zukunft sehe, weil man die andere Seite nun besser verstehe, wurde der Prozess mit einem halbtägigen Visionsworkshop beendet. Das deutlichste Zeichen, dass die Organisation tatsächlich einige Entwicklungsschritte vollzogen hatte, war die Veränderung in der Sprechweise, wenn es um die Nachfolgeregelung für die Leitung ging. Das war anfangs ein sehr bedrohliches Thema, und es war viel von “Verteidigung” und “Aushalten” einerseits und “zu viel Stress” und “Ich weiß nicht, wofür ich diesen Job hier noch mache.” andererseits die Rede. Nunmehr hatte man eine gemeinsame Version der Zukunft entwickelt und gemeinsame Ziele erarbeitet. Die mittlerweile konkretisierten Überlegungen zur Nachfolge erwähnte man eher beiläufig, als wäre es nur ein Thema unter vielen.