Warum manche AfD-Politiker wie „coole Rebellen“ wirken

Ich stel­le mir die Fra­ge, war­um poli­ti­sche Posi­tio­nen wie die der AfD seit eini­gen Jah­ren immer popu­lä­rer wer­den. Bei den übli­chen (und zumeist schlich­ten) Erklä­rungs­an­sät­zen bin ich skep­tisch. Klar hän­gen Bil­dungs­stand und Anfäl­lig­keit für ein­fa­che Erklä­run­gen irgend­wie zusam­men. Und klar lässt sich das mes­sen: je nied­ri­ger das eine, des­to stär­ker das ande­re. Aber die­se Erklä­run­gen sind ihrer­seits eben­falls ver­ein­fa­chend — und damit nah an den mit­un­ter popu­lis­ti­schen Posi­tio­nen, die damit eigent­lich kri­ti­siert wer­den sol­len. Und schlim­mer noch: Sol­che Erklä­run­gen tra­gen zur Eska­la­ti­on bei, indem dadurch Men­schen, die etwas anders sehen, schlicht für dumm erklärt werden.

Ich tref­fe immer wie­der Men­schen, die alles ande­re als dumm sind, die aber die Nase voll und kein Ver­trau­en mehr in Poli­tik haben. Und dann ist mir das auch pas­siert: Ich habe bei der letz­ten Wahl kei­ne Lust gehabt, über­haupt hin­zu­ge­hen. Ich war trotz­dem dort, habe das Wahl­lo­kal aber mit einem Gefühl ver­las­sen, das ich noch nicht kann­te. Es war, als hät­te ich einen Kater. Als hät­te ich etwas getan, was ich eigent­lich gar nicht tun woll­te. Das Gefühl war… Verdrossenheit.

Die­ser Text ist mei­ne Ant­wort auf die Fra­ge, war­um Leu­te mit sehr ein­fa­chen Erklä­run­gen in den Augen vie­ler Men­schen plötz­lich irgend­wie „cool“ aus­se­hen und wähl­bar wer­den. Der Text mag nicht ein­fach zu lesen sein, und mei­ne Ant­wor­ten wer­den vie­len Lese­rin­nen und Lesern nicht pas­sen, weil ich u.a. behaup­te, dass die „ver­meint­lich Guten“ sich in ihrer eige­nen Güte son­nen und immer nur selbst ver­ge­wis­sern, dass sie Recht haben.

Der Gegen­satz zwi­schen dem Ide­al der Echt­heit und der immer stär­ke­ren Ver­brei­tung stra­te­gi­scher Kommunikation
In den Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­del­len und in unse­ren Ide­al­vor­stel­lun­gen von Kom­mu­ni­ka­ti­on ist viel von Echt­heit oder Authen­ti­zi­tät die Rede. Gleich­zei­tig wird real häu­fig gar nicht so echt, son­dern eher stra­te­gisch kom­mu­ni­ziert. In der geschäft­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on (etwa im Ver­trieb oder bei Lie­fe­ran­ten­ver­hand­lun­gen) ist stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on eben­so Usus wie in der poli­ti­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on. Spä­tes­tens mit dem Ein­satz von Medi­en­agen­tu­ren und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­ra­tern geht es immer weni­ger um die Fra­ge authen­ti­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on, son­dern immer mehr um die Fra­ge der Wir­kung von Kom­mu­ni­ka­ti­on. Errei­che ich, was ich errei­chen möchte?

Von „echt sein“ zu „echt wirken“
Ganz und gar stra­te­gisch wird es, wenn es um die Fra­ge geht, wie ich mög­lichst echt wir­ke — also eine Art vor­ge­täusch­ter Echt­heit benut­ze, um eine bestimm­te Wir­kung zu errei­chen. Spä­tes­tens mit den sozia­len Medi­en hat das (stra­te­gi­sche) Bran­ding die ein­zel­ne Per­son erreicht. Es geht nicht mehr dar­um, wer ich bin und was ich ggf. zu sagen (oder nicht zu sagen!) habe, son­dern es geht oft nur noch dar­um, wie bei einer Ziel­grup­pe ein bestimm­tes Bild entsteht.

Die lang­sa­me Gewöh­nung an stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on und ihre Fol­gen: Ein Modell in fünf Stufen
Die heu­ti­ge Begeis­te­rung für ver­ein­fa­chen­de Posi­tio­nen lässt sich mei­nes Erach­tens mit einer Art Gewöh­nung an stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on erklä­ren — und vor allem mit den Fol­gen die­ser Gewöh­nung. Die­ser Zusam­men­hang lässt sich anhand von fünf Stei­ge­rungs­stu­fen dar­stel­len, an deren Ende plau­si­bel wird, war­um sich Men­schen aus der Gesell­schaft kom­mu­ni­ka­tiv mehr oder weni­ger zurück­zie­hen und dann Men­schen wäh­len, die dem „Estab­lish­ment“ stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on unter­stel­len, ihrer­seits aber noch offen­si­ver stra­te­gisch kom­mu­ni­zie­ren und dabei mit­un­ter auf „alter­na­ti­ve Fak­ten“ zurück­grei­fen — und den­noch (oder para­do­xer­wei­se gera­de des­halb!) zur wähl­ba­ren Alter­na­ti­ve werden.

Ers­te Stu­fe: Es wirkt
Stra­te­gisch zu kom­mu­ni­zie­ren, ist an und für sich nichts Neu­es. Die Rhe­to­rik war bereits in der Anti­ke eine popu­lä­re Dis­zi­plin, und Poli­ti­ker und Wer­be­leu­te bedie­nen sich seit jeher stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­ons­in­stru­men­te. Aber wir bli­cken auf eine Beschleu­ni­gung und Inten­si­vie­rung stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on zurück. Der Wir­kungs­zu­sam­men­hang wur­de vie­len Machern (Wer­be­leu­ten, Pro­pa­gan­da­spe­zia­lis­ten, Wahl­kämp­fern, PR-Bera­tern usw.) immer bewuss­ter, wodurch es zu immer häu­fi­ge­rem bzw. dich­te­rem Ein­satz kam. Gleich­zei­tig kam es bei den Rezi­pi­en­ten zu einer gewis­sen Gewöh­nung, was die Inten­si­tät indi­rekt noch ein­mal ver­stärk­te. Auf die­ser ers­ten Stu­fe bleibt es zunächst bei der Wir­kung – ich gestal­te etwas, posau­ne es aus, und es wirkt.

Zwei­te Stu­fe: Es muss extre­mer wer­den, damit es noch wirkt
Zahl­lo­se Rezep­te und Bücher zu Wer­be­ge­stal­tung, Rhe­to­rik, PR und Über­zeu­gungs­tech­ni­ken haben zu einer Popu­la­ri­sie­rung stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on bei­getra­gen. Prä­sen­ta­ti­ons­tech­ni­ken wer­den bereits in der Schu­le gelernt, Wer­bung ist all­ge­gen­wär­tig, eine Rede muss beson­ders gut sein, damit sie in Erin­ne­rung bleibt usw. – all die­se Ent­wick­lun­gen mün­de­ten in eine „all­ge­mei­ne Ver­dich­tung stra­te­gisch geplan­ter Rei­ze“ (Stei­ge­rung der Bild­las­tig­keit von Medi­en, Ver­viel­fa­chung von Wer­be­rei­zen, Stei­ge­rung des Anteils stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on in der Öffent­lich­keit und dort vor allem in der Poli­tik usw.). Das bewirkt, dass Rei­ze „kras­ser“ wer­den müs­sen, um noch aus der Mas­se her­aus­zu­ste­chen. Beson­ders para­dox stellt sich die­ser Zusam­men­hang in Bezug auf die Authen­ti­zi­tät dar: Es reicht nicht mehr aus, authen­tisch zu sein, son­dern ich muss „beson­ders echt“ aus­se­hen, mich von den „weni­ger ech­ten“ oder „lang­wei­li­ger ech­ten“ Mit­be­wer­bern um die Auf­merk­sam­keit unter­schei­den. Was wie­der­um einen wun­der­ba­ren Ansatz­punkt für PR-Exper­ten dar­stellt. Spä­tes­tens mit der Ver­dich­tung in der Medi­en­land­schaft (bspw. Pri­vat­sen­der seit den Acht­zi­ger Jah­ren, Eta­blie­rung des Inter­nets, Ent­ste­hung sozia­ler Medi­en) ist Auf­merk­sam­keit zur begehr­ten Wäh­rung gewor­den, was aus der Gewöh­nung (auf der ers­ten Stu­fe) eine gewis­se Abstump­fung (auf der zwei­ten Stu­fe) hat wer­den lassen.

Drit­te Stu­fe: Es ent­ste­hen Zweifel
Mit zuneh­men­der Gewöh­nung und Abstump­fung geht Ver­trau­en ver­lo­ren. Bei Rezi­pi­en­ten ent­steht bei immer mehr Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men nun so etwas wie eine „pro­phy­lak­ti­sche Ver­mu­tung“, dass es sich um stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on han­deln könn­te („Die sagt das doch nur, weil…“ oder „Der muss das doch so sagen.“). Die Ver­mu­tung, dass etwas stra­te­gisch gemeint sein könn­te, läuft nun als „Deu­tungs­op­ti­on“ mit — noch nicht gene­rell (das geschieht erst auf der nächs­ten Stu­fe), aber immer­hin als Mög­lich­keit. In vie­len Berei­chen gehört stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on wie gesagt zum Spiel dazu (Mar­ke­ting, PR usw.). Aber wird die stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on immer wei­ter inten­si­viert und in immer mehr Berei­che über­tra­gen, dann wächst auch das Bewusst­sein, dass es sich um stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on han­deln kann. Wenn ich eine Poli­ti­ke­rin wäh­len möch­te, brau­che ich (eigent­lich) eine gewis­se „Authen­ti­zi­täts­un­ter­stel­lung“ oder „Echt­heits­ver­mu­tung“ — ein gewis­ses Ver­trau­en dar­auf, dass die betref­fen­de Per­son tat­säch­lich meint, was sie sagt. Wenn sich aber zu oft — denn bis zu einem gewis­sen Maß ist stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on in der Poli­tik nor­mal und not­wen­dig — zeigt, dass Äuße­run­gen vor allem stra­te­gi­schen Wir­kungs­cha­rak­ter hat­ten, dann ero­diert die für eine Wahl­ent­schei­dung not­wen­di­ge Ver­läss­lich­keits­un­ter­stel­lung — zunächst lang­sam, bei noch stär­ke­rer Wahr­neh­mung stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on aber immer schnel­ler. Die PR muss ihrer­seits nun wie­der etwas bes­ser und „lau­ter“ wer­den. Wenn dies gelingt, wie bspw. bei der Wahl­kam­pa­gne für Ger­hard Schrö­der im Jah­re 1998, dann wird das als „Kom­mu­ni­ka­ti­ons­er­folg“ gefei­ert, und die ent­spre­chen­de Kam­pa­gne geht als Mei­len­stein in die PR-Geschich­te ein.

Vier­te Stu­fe: Der Zwei­fel wird gene­ra­li­siert und auf ande­re Berei­che übertragen
Die Fol­gen die­ser Ent­wick­lung sind

  1. eine gewis­se Dyna­mik aus Gewöhnung/Abstumpfung auf der einen und Reiz­ver­stär­kung oder Bild- und Sto­ry­in­ten­si­vie­rung auf der ande­ren Sei­te sowie
  2. als Reak­ti­on auf die­se sich beschleu­ni­gen­de Dyna­mik und Reiz­ver­dich­tung eine Art gewohn­heits­mä­ßi­ger Zwei­fel — was zunächst eine „Deu­tungs­op­ti­on“ war (zwei­te Stu­fe) wird nun lang­sam zur gene­rel­len Unterstellung.

Aus einem gewis­sen grund­le­gen­den Zutrau­en von Kom­pe­tenz oder Gestal­tungs­macht oder Ver­läss­lich­keit wird so mit der Zeit eine „Gegen­un­ter­stel­lung“, etwa nach dem Mot­to: „Ihr han­delt sowie­so nur stra­te­gisch.“ Mag dies zunächst in ein­zel­nen Fäl­len pas­sie­ren, kom­men — bei wei­te­rer Ver­wen­dung und Inten­si­vie­rung stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on — Zwei­fel hin­sicht­lich aller Ver­tre­ter der betref­fen­den Grup­pe (in die­sem Fall: Poli­ti­ker) auf.
Die Gegen­un­ter­stel­lung wird lang­sam zum Vor­ur­teil. Wenn Poli­ti­ker dann noch etwas errei­chen wol­len, müs­sen sie noch wirk­sa­mer kom­mu­ni­zie­ren. Das führt dann wie­der­um zu einer wei­te­ren Ver­stär­kung der Anwen­dung stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel. Eine Art sich selbst ver­stär­ken­der Teu­fels­kreis ent­steht. Stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on führt erst zur Gewöh­nung, was mit einer gewis­sen Abstump­fung oder Resis­tenz gegen­über stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on ein­her­geht. Weil man den­noch Wir­kung erzie­len möch­te, muss man „lau­ter“ oder „fet­zi­ger“ oder „kras­ser“ wer­den, was wie­der­um Zwei­fel an der Echt­heit nährt und spä­ter zu einem „gene­ra­li­sier­ten Zwei­fel“ wird, der sich — wie­der­um mit der Zeit — zu einem mani­fes­ten Vor­ur­teil verdichtet.

Fünf­te Stu­fe: Gegenreaktion
Wenn die­se Dyna­mik erst ein­mal grö­ße­re Tei­le einer Gesell­schaft erfasst hat, führt das zu einer Art fata­lis­ti­scher Gegen­re­ak­ti­on, indem sol­che Kan­di­da­ten gewählt wer­den, die die eta­blier­ten Ver­hält­nis­se oder „das Sys­tem“ gene­rell kri­ti­sie­ren. Die­se Kan­di­da­ten grei­fen selbst­ver­ständ­lich auch zu Mit­teln, die aus dem Werk­zeug­kof­fer der stra­te­gi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on stam­men. Die­se Mit­tel wer­den in vie­len Fäl­len sogar offen­sicht­li­cher und offen­si­ver ein­ge­setzt. Es wird unver­hoh­len stra­te­gisch kom­mu­ni­ziert, dabei aber den eta­blier­ten Kräf­ten unter­stellt, (a) dar­an schuld zu sein, dass stra­te­gisch kom­mu­ni­ziert wird und (b) selbst die gan­ze Zeit nur stra­te­gisch zu kom­mu­ni­zie­ren. Das Para­do­xe dar­an ist, dass dadurch die­je­ni­gen, die nur die her­kömm­li­che stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on nut­zen, irgend­wie blass aus­se­hen und man den „lau­te­ren, unver­hoh­le­ne­ren“ Typen irgend­wie glaubt – oder auch nicht glaubt, ihren Angriff auf die „Eta­blier­ten“ aber den­noch belohnt. Offen­sicht­lich dür­fen die „Kri­ti­ker“ etwas, das die „Eta­blier­ten“ nicht dür­fen. Und jene, die das nicht dür­fen (und denen ohne­hin nicht mehr geglaubt wird), kön­nen nichts dage­gen tun. Das vor­läu­fi­ge Ende die­ser Ent­wick­lung spitzt sich zu einer Aus­sa­ge zu, die ich in letz­ter Zeit oft gehört habe: „Dann wäh­le ich lie­ber die AfD, damit sich mal etwas ändert.“ Das Ver­trau­en in die „eta­blier­ten“ Kräf­te ist so ero­diert, dass Men­schen, die die Kla­via­tur der stra­te­gi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on viel wei­ter aus­rei­zen, wie eine Art „coo­ler Rebel­len“ wir­ken (die sie nicht sind, aber als die sie sich sehen und zu denen sie sich ver­mit­tels stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on machen). Gera­de durch ihre über­trie­be­nen Dar­stel­lun­gen und Reak­tio­nen füh­ren sie (a) das „eta­blier­te Sys­tem“ vor und ver­mit­teln (b) auf eine bei­na­he fata­lis­ti­sche Wei­se Handlungskompetenz.

Wer sind die Jäger und wer die Gejagten?
Wenn Medi­en und eta­blier­te Poli­ti­ker im (ver­meint­li­chen, denn es glau­ben ja immer weni­ger) Inter­es­se der Demo­kra­tie auf­schrei­en, wenn von „alter­na­ti­ven Fak­ten“ (die For­mu­lie­rung stammt mei­nes Wis­sens von Kel­ly­an­ne Con­way) die Rede ist, dann tun sie genau das, was sie tun müs­sen, damit die ande­ren noch ein biß­chen mehr wie „coo­le Rebel­len“ aus­se­hen. Inso­fern ist m.E. eine sehr inter­es­san­te Fra­ge, wer hier der Jäger ist und wer der Gejag­te bzw. wer hier wem das Stöck­chen hin­hält und wer dar­über springt. Mit ihren übli­chen Reak­tio­nen machen vie­le Poli­ti­ker der eta­blier­ten Par­tei­en (und auch vie­le Jour­na­lis­ten) nur eines: Wahl­kampf für ihre Gegner.

„Das kann uns hier nicht passieren.“
Vor einer gan­zen Rei­he von Jah­ren war ich der Mei­nung, ich soll­te nicht nur kri­ti­sie­ren, son­dern mit­ma­chen. Also bin ich in die CDU ein­ge­tre­ten und habe mich enga­giert. Mir sind dort eini­ge Men­schen begeg­net, deren Enga­ge­ment und deren Wor­te echt waren und auch heu­te noch sind. Vor die­sen Leu­ten habe ich — wie auch vor allen ande­ren ehr­lich enga­gier­ten Men­schen in ande­ren Par­tei­en — gro­ßen Respekt. Aber mir sind auch ande­re Men­schen begeg­net. Ich erin­ne­re mich an den Bür­ger­meis­ter einer säch­si­schen Klein­stadt, der mei­ne Fra­ge, wie er mit der sich abzeich­nen­den Erwei­te­rung der Par­tei­en­land­schaft umzu­ge­hen gedenkt, ein­fach mit der Bemer­kung „Das kann uns hier nicht pas­sie­ren.“ weg­ge­wischt hat. Das besag­te Gespräch hat vor knapp zehn Jah­ren statt­ge­fun­den, und die Iro­nie der Geschich­te aus heu­ti­ger Sicht lau­tet: Sol­che Ein­las­sun­gen wer­den heu­te vie­ler­orts vom Wahl­er­geb­nis weggewischt.

Was ist schlim­mer als Kri­tik­un­fä­hig­keit? Kein Inter­es­se an Men­schen und ande­ren Mei­nun­gen zu haben
Die­ses an sich bana­le Bei­spiel steht für eine Art gewohn­heits­mä­ßi­ger Brä­sig­keit, die mir oft begeg­net ist. Poli­ti­sche Macht wird nach vie­len — und im Fal­le der säch­si­schen CDU: lei­der noch mehr — Jah­ren so selbst­ver­ständ­lich, dass bereits die Opti­on poten­ti­el­ler Kri­tik auf eine selt­sam anony­me und auto­ma­ti­sche Wei­se aus­ge­schlos­sen wird. Es war wirk­lich schwer, mit man­chen die­ser an Macht gewohn­ten und trä­gen Men­schen zu spre­chen. Man­che wirk­ten noch nicht ein­mal kri­tik­un­fä­hig, son­dern ein­fach nur frei von jedem Inter­es­se für ande­re als die eige­nen Sicht­wei­sen — und schlim­mer noch: frei von Inter­es­se an Men­schen über­haupt. Ich bewun­de­re des­halb umso mehr die Hart­nä­ckig­keit jener, die an die Wand­lungs­fä­hig­keit der CDU von innen her­aus glau­ben (auch wenn ich das nicht mehr unbe­dingt tue).

Die einen rufen nach der Ret­tung der Demo­kra­tie, und die ande­ren mei­nen, gera­de jetzt demo­kra­tisch zu handeln
Vie­le Men­schen haben den Glau­ben dar­an ver­lo­ren — und emp­fin­den die poli­ti­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on dem­entspre­chend als Far­ce. Wenn dann auf Kri­tik noch beleh­rend oder gar her­ab­las­send reagiert wird, drif­ten vie­le, die sich nicht mehr ver­stan­den füh­len, in Rich­tung här­te­rer Posi­tio­nen. Spä­tes­tens dann wird die Beto­nung, man sol­le sich an die demo­kra­ti­schen Spiel­re­geln hal­ten, zum Wahl­kampf für jene, deren Wahl­sieg man eigent­lich ver­mei­den will. Denn aus Sicht derer, die die Hoff­nung auf eine Erneue­rungs­fä­hig­keit der eta­blier­ten Kräf­te ver­lo­ren haben, ist ihre Abkehr bzw. die Wahl här­te­rer Posi­tio­nen vor allem eines: tat­säch­li­che Demo­kra­tie. („Ich wäh­le jetzt so, damit sich hier was ändert. Ich weiß, dass die Leu­te, die ich wäh­le, viel­leicht auch nicht bes­ser sind, aber sonst ändert sich hier gar nichts.“)

Manch­mal wer­de ich dafür kri­ti­siert, dass mei­ne Tex­te zwar oft zutref­fen­de Pro­blem­ana­ly­sen lie­fern, ich aber nicht ver­ra­te, was sich prak­tisch tun lie­ße. Ich will des­halb die­sen Text mit eini­gen prak­ti­schen Hand­lungs­mög­lich­kei­ten beenden.

Was oft getan wird und nicht hilft: mehr vom Selben
Wenn sich Situa­tio­nen zuspit­zen, han­deln vie­le Men­schen nach dem Mus­ter „mehr vom Sel­ben“. Was ges­tern viel­leicht noch eine Dis­kus­si­on war, wird zuneh­mend zum Schlag­ab­tausch, Posi­tio­nen wer­den immer schär­fer for­mu­liert usw. Das ist das Mus­ter von Eska­la­tio­nen. Bezeich­nend ist, dass den Betei­lig­ten, je mehr die Dis­kus­si­on an Schär­fe gewinnt, die Fähig­keit, Ver­ständ­nis zu zei­gen, umso mehr abgeht. Und mehr noch — man ver­wen­det die glei­chen Metho­den, die zur Zuspit­zung der Situa­ti­on geführt haben, immer häu­fi­ger. In jün­ge­rer Zeit hat man bspw. auf die Kri­tik an der „Will­kom­mens­kul­tur“ vor allem mit Beleh­run­gen reagiert. Wird die Kri­tik dann schär­fer, betont man, dass man bestimm­te Mei­nun­gen so gar nicht äußern dür­fe. Eine der Ursa­chen des Pro­blems wird qua­si beim Ver­such, das Pro­blem zu lösen, noch häu­fi­ger ver­wen­det als wäh­rend der Ent­ste­hung des Problems.

Wider­stand als das ver­ste­hen, was er ist: eine Reak­ti­on auf Entscheidungen
Eine kon­kre­te Hand­lungs­mög­lich­keit wäre also, Kri­tik als das zu ver­ste­hen, was sie ist: als Reak­ti­on auf poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen. Wir wei­chen den Extre­mis­mus­be­griff auf, wenn wir zu vie­len Men­schen unter­stel­len, Extre­mis­ten zu sein. Dann feh­len uns die Unter­schei­dungs­mög­lich­kei­ten zwi­schen Skep­ti­kern, Kri­ti­kern, „Abge­mel­de­ten“ (nicht: „Abge­häng­te“, son­dern: Men­schen, die die Hoff­nung ver­lie­ren und sich qua­si „abmel­den“, sie­he dazu die­sen Text), Radi­ka­len und Extre­mis­ten. Der gegen­wär­ti­ge Umgang mit der AfD ist nicht geeig­net, das „Pro­blem“ zu bear­bei­ten, son­dern er führt nur zu wei­te­rem Wählerzulauf.

Wirk­li­cher Dia­log statt Ent­mensch­li­chung der Gegenseite
Was anstel­le von „mehr vom Sel­ben“ hel­fen wür­de, wäre tat­säch­li­cher Dia­log, tat­säch­li­ches Zuhö­ren. Die Eska­la­ti­on wäh­rend der ver­gan­ge­nen Jah­re hat die Chan­cen, tat­säch­lich mit­ein­an­der zu reden, ver­rin­gert. Aber ein „lie­ben­der Kampf“ ist mei­nes Erach­tens eine Hand­lungs­op­ti­on, die noch kaum ver­sucht wur­de. Mit „lie­ben­dem Kampf“ mein­te Karl Jas­pers ein­mal eine Art und Wei­se des Umgangs, der die Aus­tra­gung auch hef­ti­ger Dis­kus­sio­nen ermög­licht, ohne das mit­ein­an­der Ver­bin­den­de auf­zu­ge­ben. Das Ver­bin­den­de ist bei­spiels­wei­se der Ort oder das Land, in dem wir leben, oder die Annah­me, dass wir alle Men­schen sind (und ja, die gegen­wär­ti­gen Dis­kus­sio­nen wer­den oft von einer Art „Ent­mensch­li­chung“ des Gegen­übers beglei­tet, ins­be­son­de­re in man­chen sozia­len Medi­en). Jedes Han­deln braucht eine Hoff­nung, und Poli­ti­ker brau­chen die Hoff­nung, dass sie sich – auch über Grä­ben hin­weg – eini­gen kön­nen, wenn auch nicht ganz, dann viel­leicht doch bezüg­lich wich­ti­ger Punk­te. Dis­kus­sio­nen dar­über, dass man ja mit bestimm­ten Leu­ten nicht reden dür­fe, sind nicht hilf­reich. Auch pro­phy­lak­ti­sche Koali­ti­ons­ver­bo­te sind es nicht. Erin­nern wir uns doch ein­mal an den Umgang mit der LINKEN (oder deren Vor­läu­fer­par­tei) in den Neun­zi­ger Jah­ren. Da wur­de viel Grund­sätz­li­ches pro­kla­miert — sicher aus nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den, aber eben über­haupt nicht hilf­reich, denn was ist denn am Ende Schlim­mes pas­siert, als dann unter dem Druck der Not­wen­dig­keit doch Koali­tio­nen mög­lich wurden?

Es braucht eine poli­ti­sche Hal­tung gegen­über der AfD
Oh, oh, ich höre schon die Kri­tik: Sie argu­men­tie­ren also für eine Koali­ti­on mit der AfD. Und Sie ver­glei­chen die AfD mit der LINKEN. Bei­des habe ich nicht gesagt. Bei­des wären Zuspit­zun­gen, wie sie man­che Jour­na­lis­ten zu mögen schei­nen. Ich mei­ne den Umgang mit (anders) den­ken­den Men­schen. Ich mei­ne die Hal­tung, mit der ich ande­ren Men­schen ent­ge­gen­tre­te. Ich mei­ne, dass es einen Unter­schied macht, wenn ich sage: „Ich will nicht mit…koalieren.“, anstatt zu sagen: „Eine Koali­ti­on mit… wird von mei­ner Par­tei gene­rell aus­ge­schlos­sen.“ Die letz­te­re Aus­sa­ge gleicht einem pola­ri­sie­ren­den Vor­ur­teil — und ver­stärkt die oben unter Punkt 5 beschrie­be­ne Gegen­re­ak­ti­on. Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten unter Donald Trump bewei­sen ja, dass das Leben „den­noch“ wei­ter­geht. Klar mag für vie­le der poli­ti­sche Umgang mit dem heu­ti­gen Prä­si­den­ten schwie­ri­ger sein als mit sei­nem Vor­gän­ger, aber wel­che Wir­kung ver­spre­chen sich jene von ihren Hand­lun­gen, die den Prä­si­den­ten als Nar­ziss­ten, kogni­tiv Fünf­jäh­ri­gen usw. dia­gnos­ti­zie­ren? Das hilft prak­tisch gar nichts — im Gegen­teil: es wird dadurch nur schlim­mer —, weil das „Pro­blem“ Trump poli­tisch ent­stan­den ist. Und wenn etwas poli­tisch ent­stan­den ist, muss man auch poli­tisch damit umge­hen, braucht also im bes­ten Sin­ne auch eine „poli­ti­sche Hal­tung“ dazu. Es braucht also m.E. eine poli­ti­sche Hal­tung im Umgang mit der AfD. Das schließt u.a. die Selbst­kri­tik ein, sich poli­ti­sche Gedan­ken dar­über zu machen, was der eige­ne Bei­trag am Erstar­ken der AfD war.

Mut zur Echtheit
Wenn mei­ne obi­gen Ana­ly­sen zutref­fen, dann krankt unse­re poli­ti­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on an einem Zuviel an stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on und einem Man­gel an ech­ten, ver­bind­li­chen Mei­nun­gen. Ich unter­stel­le, dass wir, wenn wir uns öffent­lich äußern, zu viel dar­über nach­den­ken, wie wir etwas sagen, damit wir eine bestimm­te Wir­kung errei­chen und/oder gut „rüber­kom­men“. Wovon wir momen­tan zu wenig haben, ist der Mut, die eige­ne Mei­nung aus­zu­spre­chen und damit ggf. allein zu sein. Wir sichern uns ab, es darf kei­ne nega­ti­ven Fol­gen für das Image haben. Und wenn wir ein­mal etwas sagen, von dem nicht sicher ist, dass es Bei­fall fin­det, dann ist oft genug auch das geplant — qua­si zur Gene­rie­rung von Auf­merk­sam­keit. Wenn ich nur noch mit stra­te­gi­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on kon­fron­tiert bin, wird das Leben zur Fol­ge tak­ti­scher Schrit­te. Im Extrem­fall weiß ich am Ende nicht mehr, was an mir noch echt und was gelo­gen ist. Es geht um die Fra­ge: „Was will ich?“ und nicht um die Fra­ge: „Was ist klug, jetzt zu wol­len oder zu sagen?“ Es ist mei­nes Erach­tens an der Zeit, auf das uns Ver­bin­den­de zu ach­ten anstatt immer wie­der zu the­ma­ti­sie­ren, was uns trennt. In ers­ter Linie sind wir Men­schen — mit einer län­ge­ren oder kür­ze­ren Geschich­te, mit oder ohne Kin­der, mit mehr oder weni­ger Erfolg im Beruf, gesün­der oder weni­ger gesund, mit dicke­ren oder dün­ne­ren Kla­mot­ten, mit mehr oder weni­ger Träu­men im Kopf, mit mehr oder weni­ger Inter­es­se an ande­ren Men­schen und mit mehr oder weni­ger Ver­trau­en in ande­re Men­schen. Wenn wir dar­auf schau­en, was uns ver­bin­det und Inter­es­se anein­an­der zei­gen, wer­den vie­le Din­ge ver­ständ­li­cher und ein­fa­cher. Aber es erfor­dert natür­lich die Auf­ga­be von Vor­ur­tei­len — und mit Vor­ur­tei­len erscheint die Welt immer ein­fa­cher als ohne. (Zum prak­ti­schen Umgang mit Vor­ur­tei­len lesen Sie die­sen Text.)

Jedes Han­deln braucht eine Hoffnung
Ich bin kein Idea­list, aber auch kein Pes­si­mist. Viel­leicht bin ich ein „trau­ri­ger Opti­mist“: Ich weiß, dass es nicht ein­fach ist und nicht immer gelingt. Es gibt Fäl­le, in denen es nach ein paar fehl­ge­gan­ge­nen Ver­su­chen bes­ser ist, nicht mehr mit­ein­an­der zu reden. Man­che Ver­mitt­lungs­ver­su­che, die ich von Berufs wegen unter­neh­me, gelin­gen, ande­re schei­tern. Aber wie auch immer es aus­geht: man muss es ver­su­chen, sonst wer­den die Grä­ben zu tief.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.