Beginnen wir mit einem Beispiel: Susanne T. ist Mitte vierzig, Mutter eines pubertierenden Jungen und Partnerin eines wenig älteren Kollegen. Sie ist sportlich, hat Hobbies und einen großen Freundeskreis. Wenn man Susanne fragt, wie es ihr geht, lächelt sie breit und sagt, sie sei glücklich. In den letzten Jahren gab es aber einige fast unmerkliche Veränderungen – das Lächeln ist noch da, erreicht aber die Augen nicht mehr. Susanne sagt auch, dass sie ihren Job mag, dass sie gern tut, was sie tut. Und sie tut viel – arbeitet, hat Führungsverantwortung, macht nebenbei eine Weiterbildung, springt ein, wenn Kollegen krank sind, hilft im Freundeskreis, ist im Elternrat, leitet den Sportverein. „Gerade eben ging das doch alles noch ganz problemlos. Was ist denn auf einmal mit mir los?“, fragt sie sich, wenn sie manchmal – immer öfter – nachts aufwacht und nicht mehr einschlafen kann.
Erlauben Sie mir, zunächst ganz unwissenschaftlich an dieses Beispiel heranzugehen. Eine hilfreiche Metapher zum Umgang mit Stress ist die Vorstellung vom menschlichen Leben als Fass. Jawohl, als Fass: in ein Fass passt eine Menge hinein. Da sind zunächst das eigene Temperament und die Persönlichkeit (Definition Persönlichkeit: über die Zeit hinweg relativ stabile Muster des Erlebens und Verhaltens/Handelns einer Person). Die Art, wie ich mit Erlebnissen umgehe (gelassen vs. aufgeregt; emotional stabil vs. emotional instabil etc.), hat bereits einen starken Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, etwas als Stress zu erleben. Hinzu kommen die berufliche und die familiäre Situation – in beiden Bereichen gibt es Zeiten der Entspannung und stressigere Phasen. Ist die Situation in einem dieser beiden Hauptbereiche des Erwachsenenlebens angespannt, können das die meisten Menschen auch über einen längeren Zeitraum hinweg kompensieren. Gibt es in beiden Bereichen Stress, hat das oft Folgen, vor allem auf lange Sicht. Stellt man sich noch alle weiteren möglichen Betätigungen eines Menschen vor (ehrenamtliches Engagement, Hobbies etc.) wird deutlich, dass das besagte Fass auch einmal voll sein kann. Auch das halten die meisten Menschen über einen langen Zeitraum hinweg aus – die Frage ist nur, was passiert, wenn es tatsächlich zu viel wird, wenn nichts mehr in das Fass hineinpasst, wenn man alle Register gezogen und alles „durchoptimiert“ hat. Dann reagiert – in der Regel der Körper. Mit Schlaflosigkeit, erhöhtem Blutdruck usw.
Was kann man praktisch tun?
- den Arzt aufsuchen: Gerade in der Anfangsphase geht es oft nicht ohne Medikamente.
- das Leben ändern, bspw. weniger tun oder lernen, nein zu sagen
- gesunde Ernährung
- genügend Bewegung
Was wird unter Stress verstanden?
Wenn man den Begriff „Stress“ näher bestimmen möchte, findet man in der Literatur Definitionen, die sich mit den Auslösern von Stress einerseits und mit den Reaktionen auf diese Auslöser andererseits befassen. Manche Definitionen umfassen sowohl die Auslöser als auch die Reaktionen und verstehen dies als einen Prozess. Im Grunde wird deutlich, was Stress ist, wenn man sich diesen Prozess vergegenwärtigt:
Zunächst sind da die stressauslösenden Faktoren, die eine Belastung darstellen können. Das ist sehr wichtig: es handelt sich um potentielle Belastungen, denn auf ein und den selben Belastungsfaktor können Menschen höchst unterschiedlich reagieren. Das heißt, die Beanspruchung einer betroffenen Person durch eine Belastung ist eine individuelle Reaktion auf eine gegebene Belastung und kann höchst unterschiedlich ausfallen.
Stress ist nichts grundsätzlich Negatives. Im Gegenteil: ein mittleres Stressniveau wird von vielen Menschen als stimulierend und positiv erlebt. Die Frage ist, wann aus solchem als positiv empfundenen Stress der langfristig schädliche negativ erlebte Stress wird. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Warum reagieren Menschen unterschiedlich?
Den Ausschlag geben so genannte „Moderatorvariablen“. Stellen Sie sich dazu bitte ein beliebiges stressauslösendes Ereignis vor (Belastung), auf das eine betroffene Person reagiert (Beanspruchung). Diese Beanspruchung kann kurzfristige oder langfristige Folgen haben. Die besagten „Moderatorvariablen“ sind nun diejenigen Einflussgrößen, die bestimmen, ob eine Belastung eine Beanspruchung hervorruft, wie stark diese einwirkt bzw. empfunden wird und ob sie keine bzw. kurzfristige oder langfristige Folgen hat.
Die Moderatorvariablen können administrativer oder individueller Natur sein.
Zu den administrativen Einflussgrößen zählen:
- Team: Gibt es in der jeweiligen Gruppe Debriefings nach potentiell stressauslösenden Einsätzen? Kann über belastende Erfahrungen gesprochen werden, oder werden solche Themen verdrängt?
- Führung: Wird mit hohem Druck geführt, oder wird im Rahmen der Möglichkeiten Rücksicht auf die Belange der nachgeordneten Personen genommen? Ist die Führung „formalistisch“ orientiert oder gewährleisten die Führungskräfte einen gewissen Rückhalt? Wird unnötiger Stress vermieden? Kann über stressige Einsätze gesprochen werden? Regen die beteiligten Führungskräfte solchen Austausch an?
- Dienstpläne: Wird der Schichtdienst gesundheitsförderlich gestaltet, oder gibt es zu viele ungünstige oder/und unvorhergesehene Wechsel?
- Aus- und Fortbildung: Grundsätzlich gilt, dass besser ausgebildete und regelmäßig fortgebildete Menschen besser mit belastenden Situationen umgehen können, als jene Personen, die sich „der Gewohnheit ergeben“. Gerade in den von vielen Menschen als „krisenhaft“ erlebten Jahren vor bzw. um den fünfzigsten Geburtstag ist das eine entscheidende Frage. Es sind hier diejenigen besser dran, die eine bewusste Bilanz ziehen und sich fragen, was notwendig ist (u.a.: welche Qualifikationen?), um die weiteren Jahre mit dem eigenen Job zufrieden zu sein. Die Frage „Soll es das schon gewesen sein?“ kann Menschen sehr zusetzen. Es ist hier ratsam, die „Flucht nach vorn“ anzutreten, anstatt sich zurückzuziehen.
Zu den individuellen Moderatorvariablen gehören:
- Kontrollüberzeugung: Hat eine betroffene Person eine hohe Erwartung bezüglich der Wirksamkeit bzw. des Erfolgs ihrer Handlungen (Selbstwirksamkeitserwartung), wirkt sich dies positiv auf das Stresserleben und die Stressbewältigung aus. Der Spruch „Ich kriege das schon hin.“ zu sich selbst ist allemal hilfreicher als „Das ist eh alles Mist. Das wird sowieso nichts.“ Entsprechend kann die Kommunikation im Dienstfahrzeug auf dem Weg zu einem Einsatz sehr wohl einen Einfluss auf das Stresserleben eben während dieses Einsatzes haben. Bereitet man sich klaren Auges auf die bekannt gewordenen Einsatzmodalitäten vor, trifft mögliche Vorkehrungen und geht vorsichtig, aber mit einem gesunden Maß an Wirksamkeitserwartung in den Einsatz, ist dies besser, als etwa besonders langsam zum Einsatz zu fahren und darüber zu sprechen, was nun wieder alles „Mist“ sei oder schiefgehen könnte.
- Coping-Strategien: Das Wort „Coping“ stammt aus dem Englischen (to cope with something = etwas bewältigen). Mit so genannten Coping-Strategien sind also Bewältigungsstrategien gemeint. Es gibt zwei Arten solcher Bewältigungsstrategien – „instrumentelle“ (= langfristig nützliche) und „palliative“ (= langfristig schädliche) Bewältigungsstrategien. Langfristig nützlich sind etwa Sport, gesundes Essen, ausreichend Schlaf, eine tragfähige Partnerschaft, gute familiäre Beziehungen und nicht zuletzt auch ein zufrieden machendes Sexualleben. Solche Strategien helfen auf lange Sicht sehr, ihre Wirkung entfaltet sich aber nicht unmittelbar. Ganz anders sieht das bei den „palliativen“ Bewältigungsstrategien aus: sie wirken unmittelbar bis kurzfristig, schaden aber auf lange Sicht. Dazu gehören im Wesentlichen Ablenkung und Substanzen wie Tabak, Alkohol, Medikamente oder Drogen.
- Weitere individuelle Moderatorvariablen sind (a) emotionale Stabilität, (b) verlässliche soziale Ressourcen (Familie, Freundeskreis), © eine hohe Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber aversiven Lebensereignissen sowie (d) eine hohe Arbeits- und Lebenszufriedenheit.
Was löst Stress aus?
Bei den stressauslösenden Faktoren (Belastungen, „Stressoren“) werden operative von administrativen Stressoren unterschieden. Als besonders belastend erleben Polizeibeamte die folgenden operativen Stressoren: Überbringen von Todesnachrichten, Tod von Kollegen, Bedrohung des eigenen Lebens, Einschränkung von Kontrolle über die eigenen Handlungen. Administrative Stressoren können neben dem Führungsstil der jeweiligen Vorgesetzten etwa auch ungünstige Schichtpläne sein.
Was hilft bei Stress?
Die Maßnahmen, die gegen die Wirkungen von zu viel Stress ergriffen werden können, lassen sich anhand der Vorstellung eines Zeitstrahls systematisieren:
Vorbeugung im Vorfeld/Prävention: Hier sind zunächst die weiter oben bereits mehrfach beschriebenen Faktoren Sport/Bewegung, gesunde Ernährung und ausreichend Schlaf zu erwähnen. Des Weiteren sind ein kollegiales, unterstützendes Klima und Rückhalt durch Vorgesetzte vorbeugend förderlich.
Vorbereitung auf den Einsatz, „Tricks“ im Einsatz: Basis jeder Stressprävention für den Einsatz ist gutes und häufiges Training. Dadurch entsteht am Ehesten jenes Sicherheitsgefühl, das notwendig ist, um sich mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein sagen zu können: „Das ist ein ganz normaler Einsatz. Das kriegen wir hin.“ Im Einsatz selbst helfen Umbewertungen – nicht: „Schon wieder so ein sinnloser Einsatz!“, sondern: „Das ist jetzt unser Einsatz. Wir sind gut vorbereitet. Wir haben uns gebrieft. Wir gehen jetzt und machen das!“ – und Selbstinstruktionen: „Da muss ich jetzt durch!“ oder „Ich schaffe das!“ oder „Halte durch!“ Wichtig ist allerdings, dass Selbstinstruktionen nur kurzfristig wirksam sind. Als „dauerhafter Krisenmodus“ sind sie eher schädlich.
Nachsorge: Der wahrscheinlich wichtigste Faktor bei der Auseinandersetzung mit potentiell stressauslösenden Erlebnissen ist die Nachsorge bei entsprechenden Einsätzen. Hier wird die informelle Nachsorge (informelle Gespräche mit Kollegen ohne organisatorischen Rahmen) von der institutionellen Nachsorge unterschieden. Die institutionelle Nachsorge sollte (a) kurz nach dem Einsatz stattfinden (Debriefing mit kurzer Darstellung des Geschehenen und des jeweils eigenen Erlebens, keine vertiefende Auseinandersetzung, max. 60 Minuten) oder/und (b) einige Tage bis eine Woche nach dem Einsatz stattfinden (vertiefte Darstellung des Erlebens, Fokus auf längere Erzähnlungen und Auseinandersetzungen, Frage nach Träumen, nach dem persönlichen Umgang usw.; mehr Zeit, bis zu 3 Stunden). Oft reicht die kurze Variante, manchmal braucht es den zweiten Termin, in selteneren Fällen noch einen dritten Termin. Gut moderiert helfen solche Termine nicht nur der Bewältigung, sondern auch der Formung des Teams und vor allem der Steigerung der gegenseitigen Unterstützung.
Therapie: Wenn Prävention, sorgsamer Umgang mit sich selbst, Auszeiten, Einsatz-Nachsorge etc. nicht mehr helfen, ist eine Therapie angeraten. Davon sind allerdings weniger Polizisten betroffen als oft angenommen. Der Prozentsatz aller Polizisten, die im Laufe ihrer Dienstzeit eine Therapie absolvieren, liegt weit unter zehn Prozent. Gleichwohl es an vielen Stellen notwendig und ratsam ist, den Umstand, psychologischer Hilfe zu bedürfen, zu entstigmatisieren. Es ist kein Makel, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, und in den allermeisten Fällen ist man auch nicht krank. Begriffe wie „Störung“ oder „Diagnose“ sind in diesem Zusammenhang allerdings eher abschreckend als hilfreich.
Lesen Sie dazu auch den entsprechenden Text von Lasogga (2016, S. 179ff.).