Was wir eigentlich wollten und was daraus geworden ist

Ich erin­ne­re mich noch gut an mei­ne Rück­kehr aus Bos­ni­en nach Deutsch­land. Das war 1999. Ich hat­te knapp drei Jah­re für eine huma­ni­tä­re Orga­ni­sa­ti­on in Zen­tral­bos­ni­en gear­bei­tet – Not­ver­sor­gung in Flücht­lings­la­gern, Bau­pro­jek­te, Flücht­lings­rück­füh­rung, ein­kom­mens­schaf­fen­de Maß­nah­men, Frie­dens­ar­beit. Gera­de der letzt­ge­nann­te Anspruch, aktiv zum Frie­den bei­zu­tra­gen, war so kurz nach dem Krieg kaum erfüll­bar. Zu groß war noch der Hass, und Ruhe blieb nur, weil genug inter­na­tio­na­les Mili­tär vor Ort war und die Kampf­kraft auf der bos­nisch-ser­bi­schen Sei­te kurz vor Ende des Krie­ges merk­lich zurück­ge­gan­gen war. Ich fra­ge mich seit­her, was Frie­den eigent­lich aus­macht, und ich beob­ach­te mit Schre­cken, wie leicht­fer­tig deut­sche Poli­ti­ker heu­er unse­ren Frie­den aufs Spiel­feld inter­na­tio­na­ler Ver­hand­lun­gen set­zen – wie schnell „wir“ bspw. gegen­über Russ­land mit den Säbeln ras­seln – und dabei gibt es, was die Bun­des­wehr angeht, der­zeit bekannt­lich kaum etwas zu ras­seln, zumal ich bezweif­le, dass es an die­ser Stel­le ein „wir“ gibt, sprich, dass eine Mehr­heit der Deut­schen eine här­te­re Gang­art gegen­über Russ­land legi­ti­mie­ren würde.

Drei Jah­re in einem von Bür­ger­krieg und Armut gezeich­ne­ten Land ver­än­der­ten mei­nen Blick. Mir fiel auf, wie vie­le Din­ge für uns selbst­ver­ständ­lich sind. Die meis­ten sind frei von mate­ri­el­ler Not. Vie­le haben Autos, mit denen sie fah­ren kön­nen, wohin sie wol­len. Wir sind kran­ken­ver­si­chert, kau­fen in Super­märk­ten ein und leben ver­gleichs­wei­se sicher. In jenem Som­mer nach mei­ner Rück­kehr fiel es mir schwer nach­voll­zie­hen, war­um nur weni­ge der hie­si­gen Men­schen die­se Umstän­de bewusst schät­zen – war­um die einen die Kom­fort­zo­nen unse­rer Zeit eben­so ver­schwen­de­risch wie acht­los genie­ßen und die ande­ren sich den­noch – damals noch lei­se, heu­er viel lau­ter – beschwe­ren. Damals dach­te ich, es sei­en ein­fach nur „die einen“ und „die ande­ren“, zwei Bli­cke auf ein und die sel­be Welt und bei­de auf ihre Wei­se spe­zi­ell – die einen zu posi­tiv, zu ver­schwen­de­risch, die ande­ren zu kri­tisch, zu nega­tiv, das eigent­lich Gute ihres Lebens negie­rend. Dass bei­de Sei­ten womög­lich kei­nen gemein­sa­men Maß­stab mehr haben, dass sie immer weni­ger ver­bin­det, dass sich dahin­ter ver­schie­de­ne, zuneh­mend unver­ein­ba­re Welt­sich­ten ver­ber­gen, die unse­re Gesell­schaft heu­te spal­ten, woll­te mir, damals fünf­und­zwan­zig­jäh­rig, noch nicht recht einleuchten.

Die Demons­tra­tio­nen im Herbst des Jah­res 1989 waren viel­leicht das ers­te „star­ke“ oder „prä­gen­de“ Erleb­nis mei­nes Lebens. Im Juli 1989, das war qua­si eine mei­ner ers­ten Rei­sen ohne mei­ne Eltern, nahm ich am Evan­ge­li­schen Kir­chen­tag in Leip­zig teil. Gesprächs­run­den in Wohn­zim­mern oder in Kir­chen, Lesun­gen oder Thea­ter­stü­cke an den Aben­den, zwi­schen­durch lan­ge Nach­mit­ta­ge über Büchern oder bei Orgel­kon­zer­ten. Und obwohl es gar nicht so expli­zit um Oppo­si­ti­on ging – klar gab es Sami­s­dat-Schrif­ten auf Bücher­ti­schen und wur­de mehr oder min­der andeu­tungs­reich dis­ku­tiert – lag ein Zit­tern in der Luft, eine lei­se Span­nung, die vie­le der Anwe­sen­den ver­band und die nichts mit dem jewei­li­gen Gesche­hen im Moment zu tun haben muss­te. Jene ver­bin­den­de Span­nung war es, die auch bei den Demons­tra­tio­nen im Herbst zu spü­ren war. Man­che wür­den viel­leicht sagen, dass es ein „star­kes Gefühl“ war, das die Men­schen ver­band, ein Gefühl, aus dem eine Kraft erwuchs. Jene Kraft hat sei­ner­zeit viel bewirkt. Doch spä­ter ist etwas pas­siert, mit dem die Wenigs­ten gerech­net hat­ten. Die ver­bin­den­de Span­nung, die Kraft war mit einer Hoff­nung ver­bun­den gewe­sen. Viel­leicht eine Hoff­nung auf „Öff­nung“, auf neue Mög­lich­kei­ten, auf Frei­heit. Die viel beschwo­re­ne Rei­se­frei­heit war nur der viel­leicht am Ehes­ten fass­ba­re – und ent­spre­chend ober­fläch­li­che – Aus­druck die­ser Hoff­nung auf Frei­heit. Nach­dem ich end­lich einen Füh­rer­schein besaß, führ­ten mei­ne ers­ten län­ge­ren Rei­sen gera­de­wegs nach Wes­ten, nach Frank­reich. Und ja, das war groß­ar­tig! Man konn­te sich bewe­gen, wie und wohin man woll­te, man konn­te essen und kau­fen und anse­hen, was man woll­te. Beson­ders deut­lich erin­ne­re ich mich dar­an, in Stra­ßen­ca­fés geses­sen und „Grand Café“ bestellt zu haben – nur weil ich es konn­te, weil der Kaf­fee schmeck­te und weil genau das dem Kern mei­ner dama­li­gen Vor­stel­lun­gen von einer Rei­se nach Frank­reich ent­sprach. Doch zurück zum The­ma: Viel­leicht war der Kern jener Hoff­nung die Aus­sicht, dass sich für die Betei­lig­ten noch im Lau­fe ihrer eige­nen Lebens­span­ne die Din­ge deut­lich zum Posi­ti­ven ent­wi­ckel­ten, was auch immer das für jeden ein­zel­nen Men­schen gehei­ßen haben mag. Der eine woll­te viel­leicht rei­sen, ein ande­rer lesen oder sagen, was er woll­te, ein drit­ter woll­te viel­leicht sei­ne Kin­der erzie­hen, wie er woll­te, ein vier­ter woll­te viel­leicht ein­fach nur in Ruhe gelas­sen wer­den. Doch genau die­se Hoff­nun­gen, so will ich mei­nen, sind für vie­le nicht auf­ge­gan­gen – indi­vi­du­ell viel­leicht aus sehr ver­schie­de­nen Grün­den, blickt man jedoch über ganz Ost­deutsch­land hin­weg, so las­sen sich doch eini­ge ganz wesent­li­che Lini­en ausmachen.

Es ist ein Hohn, wenn heu­te von „Abge­häng­ten“ gespro­chen oder geschrie­ben wird. Sol­cher­lei Her­ab­las­sun­gen beschrei­ben zwar ein Phä­no­men, das von Wei­tem durch­aus so anmu­ten kann, aber es zeugt – im weni­ger dra­ma­ti­schen Fall – von Ahnungs­lo­sig­keit oder – im tat­säch­lich schlim­men, weil mitt­ler­wei­le Rea­li­tä­ten schaf­fen­den Fall – von Vorurteilen.

Man kann die­ser Tage viel über die The­men „Kul­tur“ und „Sozia­li­sa­ti­on“ lesen, und das auch ohne Wis­sen­schaft­ler zu sein. Bei­den Begrif­fen ist gemein, dass sie die Bedeu­tung der sich aus der Ver­gan­gen­heit erge­ben­den „Gewor­den­hei­ten“, Prä­gun­gen oder – neu­tra­ler – Anknüp­fun­gen beto­nen. Im Prin­zip beein­flusst vor­her Gesag­tes spä­ter Gesag­tes, erge­ben sich aus erfolg­reich wer­den­den Ver­su­chen erfolg­reich blei­ben­de Mus­ter, die immer weni­ger hin­ter­fragt wer­den, wobei „Erfolg“ hier auch dys­funk­tio­na­le Selbst­ver­stär­kung bedeu­ten kann. Unse­re Kul­tur ist uns selbst­ver­ständ­lich, das heißt, wir kön­nen sie nicht hin­ter­fra­gen, und wir wer­den alle ande­ren Kul­tu­ren durch die Bril­le unse­rer Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten betrach­ten. Sozia­li­sa­ti­on bedeu­tet nichts ande­res als das Hin­ein­wach­sen in eine Kul­tur, wobei es hier vor allem dar­auf ankommt, in wel­che Schicht oder Grup­pie­rung einer Gesell­schaft man hin­ein­wächst. Man über­nimmt in jedem Fall Gewohn­hei­ten. Man erkennt spä­ter „sei­nes­glei­chen“ genau und fühlt sich ent­spre­chend fremd, wenn man unter „gewohn­heits­mä­ßig“ Frem­den ist. Der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Didier Eri­bon hat mit „Rück­kehr nach Reims“ vor Kur­zem ein Buch vor­ge­legt, das in eben­so per­sön­li­cher wie sozio­lo­gisch kla­rer Wei­se dar­stellt, welch prä­gen­de Effek­te das jewei­li­ge Her­kunfts­mi­lieu hat – man nimmt es als gege­ben hin und hin­ter­fragt es nicht – und wel­che Anstren­gun­gen not­wen­dig sind, um das eige­ne Milieu tat­säch­lich zu ver­las­sen – in der Regel muss man mit sei­ner Her­kunft bre­chen, um den Sprung zunächst zu schaf­fen, nur um dann ggf. zurück­zu­keh­ren und zu erken­nen. Das gegen­sei­ti­ge Erken­nen von kul­tu­rel­len oder gewohn­heits­mä­ßi­gen Ähn­lich­kei­ten bzw. die ent­spre­chend tie­fen Emp­fin­dun­gen bei Fremd­heit gibt es wie gesagt nicht nur zwi­schen Ange­hö­ri­gen unter­schied­li­cher Kul­tu­ren (sol­che Unter­schie­de sind nur geläu­fi­ger), son­dern eben auch inner­halb einer Kul­tur, bspw. wenn Men­schen aus unter­schied­li­chen Schich­ten stammen.

In die­sen kur­zen theo­re­ti­schen Aus­füh­run­gen ist bereits das gan­ze gegen­wär­ti­ge ost­deut­sche Bild ange­legt. Man muss nur genau hin­se­hen und nicht auf­grund all­zu ober­fläch­li­cher Betrach­tun­gen urtei­len. Wenn man­che Jour­na­lis­ten die deutsch-deut­schen Fremd­hei­ten weg­zu­schrei­ben ver­su­chen, ähnelt das in gewis­ser Wei­se dem Ver­such sehr klei­ner Kin­der, etwas zum Ver­schwin­den zu brin­gen: wenn ich mir die Augen zuhal­te, ist das betref­fen­de Objekt weg. So ist es eben nicht. Ver­su­chen wir also, ein­mal genau­er hinzusehen.

Auf der einen Sei­te gibt es Men­schen, die von der Zeit seit der Wen­de – wie sagt man das in heu­ti­gem Deutsch? – „pro­fi­tiert“ haben (und ja, Pro­fit ist nach wie vor etwas, das vie­le Men­schen mehr oder min­der ableh­nen, viel­leicht bleibt die­se Ableh­nung ohne Begrün­dung, intui­tiv ist sie aber da, zumin­dest als Skep­sis). Sie konn­ten den tief­grei­fen­den Wan­del für sich nut­zen, haben aus­pro­biert, konn­ten machen, was sie woll­ten, haben sich abge­na­belt von der Sozia­li­sa­ti­on bzw. sind über die Gren­zen ihrer Sozia­li­sa­ti­on hin­aus­ge­gan­gen. Die­se Men­schen sind, dras­tisch for­mu­liert, ein biß­chen wie jene Repu­blik­flücht­lin­ge, die in den Wes­ten geflo­hen sind, um dort end­lich machen zu kön­nen, was sie woll­ten, und denen das gelun­gen ist. Sie haben sich ver­wirk­licht. Für sie ist die Glo­ba­li­sie­rung ein will­kom­me­nes Geschenk – sie rei­sen, arbei­ten hier und da, gehen in den Mög­lich­kei­ten auf, sind Kos­mo­po­li­ten. Sie leben mehr­heit­lich in gro­ßen Städ­ten, genie­ßen das Leben – schlicht, sie leben, wie sie wol­len, und das nicht zuletzt, weil sie es kön­nen. Aber die­se posi­tiv gefärb­te Geschich­te stimmt mei­nes Erach­tens nicht ganz. In ihnen blieb eine Spur der alten Welt zurück, ein lei­ser Zwei­fel, eine Bemüht­heit bezüg­lich der Anfor­de­run­gen der neu­en Welt. Für die einen ist es die Furcht, man könn­te bemer­ken, woher sie wirk­lich kom­men. Für die ande­ren ist es ein Zwei­fel, der sich aus der Span­nung zwi­schen den eigent­li­chen – sozia­li­sier­ten – Wer­ten und den Maxi­men der neu­en Zeit ergibt. Sind wir wirk­lich so indi­vi­du­ell? Schaf­fen wir das? Ist das gerecht? Sind ande­re nicht viel „glat­ter“ oder „selbst­be­wuss­ter“? In die­sen Men­schen wohnt eine ost­deutsch sozia­li­sier­te „Rest­un­si­cher­heit“. Die­se „Rest­un­si­cher­heit“ ist es, die es die­sen Men­schen ermög­licht oder zumin­dest ermög­li­chen kann, jene lan­ge beschwie­ge­ne, sich heu­te aber umso lau­ter arti­ku­lie­ren­de „ande­re Sei­te“ zu ver­ste­hen. Ohne die­se Wur­zeln in der ande­ren Sozia­li­sa­ti­on wird es schwie­rig, den Kern der heu­ti­gen Empö­run­gen wirk­lich nach­zu­voll­zie­hen. Wohl auch des­halb ist aus der siche­ren Ent­fer­nung west­deut­scher Redak­tio­nen der­zeit wenig Zutref­fen­des über den Osten zu lesen. Dafür gibt es umso mehr Fern­dia­gno­sen und ande­re, um es höf­lich zu sagen, wenig hilf­rei­che Einlassungen.

Auf der ande­ren Sei­te fin­den wir Men­schen, die es zunächst geschafft haben, in der „neu­en Welt“ mit­zu­tun, deren Fremd­heits­ge­füh­le aber irgend­wann über­wo­gen oder die es „dann doch nicht geschafft“ haben. Die­se Men­schen waren zunächst begeis­tert von den Mög­lich­kei­ten, wun­der­ten sich dann aber, wur­den spä­ter skep­tisch, nur um am Ende nicht sel­ten zu ver­bit­tern. Hier fin­den wir auch jene, die von vorn­her­ein zwei­fel­ten, ob sie das „schaf­fen“. Apro­pos „schaf­fen“ – was soll­te oder soll da eigent­lich geschafft wer­den? Und wo kommt das „Sol­len“ her? Die Demons­tran­ten des Jah­res 1989 woll­ten nicht mehr in der DDR leben. Was sie aber woll­ten – dazu gab es kein gemein­sa­mes Bild. Der schnel­le Anschluss an die Bun­des­re­pu­blik lag all­zu nahe, aber die Kon­se­quen­zen für die eige­ne Bio­gra­phie waren vie­len nicht klar, woher auch, schließ­lich macht man so etwas nicht alle paar Jah­re mal so ein­fach durch. Es gab kei­ne Blau­pau­sen, und vie­len erschien es nur zu plau­si­bel, dass wir die Din­ge im Osten nun eben so machen wie im Wes­ten. Dass das aber für vie­le Men­schen nicht pass­te, weil sie ganz ande­re Din­ge als die nun „not­wen­di­gen Vor­aus­set­zun­gen“ gelernt hat­ten, das wur­de erst spä­ter klar. Mit die­sem „Pro­blem“ wur­de in einer Wei­se umge­gan­gen, die vie­le – zumin­dest unter­schwel­lig – als her­ab­las­send emp­fan­den: Man führ­te Semi­na­re für die neu­en Kul­tur­tech­ni­ken durch („Bewer­ber­trai­nings“) und inves­tier­te viel Geld, und zwar nicht nur in Innen­städ­te, son­dern auch in Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nah­men und Vor­ru­he­stands­re­ge­lun­gen. Wenn man die­se Leis­tun­gen des Auf­baus Ost im Zusam­men­hang betrach­tet (Sanie­rung UND Sozi­al­leis­tun­gen) und ganz dras­tisch inter­pre­tiert, dann wird das heu­te an vie­len Stel­len sicht­ba­re Bild plau­si­bel: in schmu­cken Innen­städ­ten sind die dar­in leben­den Men­schen oft zu einer Art frem­der Sta­tis­ten gewor­den. Anders aus­ge­drückt: In man­chen ost­deut­schen Städ­ten ist der „Abstand“ zwi­schen ver­gleichs­wei­se neu­en Fas­sa­den und dem Inne­ren der dahin­ter leben­den und sich davor bewe­gen­den Men­schen in bestür­zen­der Wei­se fühlbar.

Schließ­lich fin­den wir auf der ande­ren Sei­te auch jene, die es gar nicht erst pro­biert haben, aus wel­chen Grün­den auch immer. Die viel­leicht kon­se­quen­tes­te Ver­wei­ge­rung, irgend­et­was „schaf­fen“ zu wol­len, habe ich ein­mal in einer Geschich­te über einen ehe­ma­li­gen NVA-Offi­zier gehört. Wenn die Sto­ry stimmt, dann hat sich der Mann nach der Wen­de regel­recht „abge­mel­det“, indem er sich auf sein Gar­ten­grund­stück zurück­zog, tags­über lan­ge Spa­zier­gän­ge unter­nahm und kon­se­quent jede Bemü­hung, ihn „in Arbeit zu brin­gen“ ver­ei­tel­te und sich im Zwei­fels­fall mit wahl­wei­se ärzt­li­cher oder juris­ti­scher Hil­fe zur Wehr setz­te. Auch wenn das ein Extrem­fall sein mag – ich unter­stel­le, dass jeder Ost­deut­sche meh­re­re Per­so­nen kennt, auf die das mehr oder weni­ger bewuss­te „Abge­mel­det­sein“ in gra­du­el­len Abstu­fun­gen zutrifft. Die hier benann­ten bei­den Sei­ten sind also kei­ne von­ein­an­der getrenn­ten Grup­pen, son­dern ein Spek­trum mit vie­len Stu­fen zwi­schen den bei­den Enden.

Was ist nun aber der Unter­schied zwi­schen „Abge­häng­ten“ und „Abge­mel­de­ten“? Der ers­te­re Begriff ist eine Dia­gno­se – von außen als bewer­ten­de Beschrei­bung ver­passt. Der Begriff unter­stellt, dass jemand jeman­den anders „abhängt“ und wie einen alten, nicht mehr gebrauch­ten Wag­gon auf einem Abstell­gleis ver­rot­ten lässt. Das mag wie­der­um eine dras­ti­sche Meta­pher sein, trifft aber, den­ke ich, den Kern. Der letz­te­re Begriff unter­stellt eine akti­ve Betei­li­gung der han­deln­den Per­so­nen. Und genau das geschieht auch: nur weni­ge las­sen sich ein­fach „abhän­gen“ ohne zu kämp­fen, nur dass von die­sen Kämp­fen höchs­tens im pri­va­ten Umfeld gespro­chen wird und wenig an die Öffent­lich­keit dringt.

Und nun war­ten Sie ein­mal: haben wir das alles nicht schon ein­mal gehört? Kommt Ihnen das nicht irgend­wie bekannt vor? Was nun folgt, mögen auf den ers­ten Blick aben­teu­er­li­che Gedan­ken sein, aber ich will mei­nen, dass es sich lohnt, die­ser Spur ein wenig zu folgen…

Es gibt ein The­ma, über das im Osten wie im Wes­ten frü­her viel gespro­chen wur­de – im Wes­ten ins­be­son­de­re wäh­rend des „roten Jahr­zehnts“ und im Osten in den vier­zig Jah­ren zwi­schen Grün­dung und Ende der DDR. Das The­ma, das ich mei­ne, sind „Klas­sen­un­ter­schie­de“. Wir wis­sen, dass Klas­sen­un­ter­schie­de – oder etwas „heu­ti­ger“ aus­ge­drückt: die sozia­le Her­kunft – auf sehr dra­ma­ti­sche Wei­se fest­le­gen, was aus einem Men­schen wer­den kann und was nicht. Ein Arbei­ter­sohn an der Spit­ze eines Unter­neh­mens bleibt eine Aus­nah­me, auch (oder gera­de?) heu­te. Die „sozia­le Durch­läs­sig­keit“ ist in Deutsch­land nach wie vor gering, trotz mitt­ler­wei­le fast fünf­zig Jah­re dau­ern­der Anstren­gun­gen, das Gegen­teil zu bewir­ken. Man hat in der Geschich­te viel­fach ver­sucht, den Schwä­che­ren, den Unter­drück­ten eine Stim­me zu geben, ihnen zu Macht zu ver­hel­fen. Was man dann oft fest­stel­len konn­te, war, dass die Unter­drück­ten ihre Welt gar nicht so sehr in Fra­ge stell­ten wie jene, die vor allem über die Unge­rech­tig­keit rede­ten, selbst aber mehr­heit­lich gar nicht aus den Schich­ten stamm­ten, über die sie rede­ten. Die Schwa­chen und Unter­drück­ten die­ser Welt lit­ten und lei­den, und was ihnen hilft, ist weni­ger intel­lek­tu­el­les Geschwa­fel als viel­mehr die kon­kre­te Lin­de­rung ihrer Not. So auch heu­te: wir reden seit fünf­zig Jah­ren über gesell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen, aber an der sozia­len Durch­läs­sig­keit hat sich nichts geän­dert. Es bleibt nach wie vor ein Kampf, den Weg über die Gren­zen der eige­nen sozia­len Her­kunft hin­weg zu fin­den. Die Gewohn­hei­ten der jeweils „ande­ren Welt“ irri­tie­ren die Ange­hö­ri­gen der eige­nen Welt der­art, dass das zu Kon­flik­ten und – öfter, als man gemein­hin glau­ben mag – zum Bruch mit dem Kon­text der eige­nen Her­kunft führt, mit­un­ter die eige­nen Eltern ein­ge­schlos­sen. Ande­rer­seits sind die Gewohn­hei­ten jener Schicht, in die man sich bewegt, mit­un­ter so anders als die eige­nen, dass man sich fremd vor­kommt und auch fremd wahr­ge­nom­men wird – selbst wenn man die jeweils not­wen­di­gen Kul­tur­tech­ni­ken beherrscht, beherrscht man sie meist per­fek­ter als die „ange­stamm­ten“ Mit­glie­der jener Schicht, was einen wie­der­um beson­ders erschei­nen lässt, weil dann eine gewis­se Läs­sig­keit und ein „über-sich-selbst-lachen-Kön­nen“ fehlen.

Nun war die DDR, wie sie war. Es hilft wenig, wie das heut­zu­ta­ge vie­le tun, die DDR zu ver­klä­ren. Ande­rer­seits ist es aber eben­so wenig hilf­reich, im Pathos der Über­win­dung eines Unrechts­staa­tes zu ver­har­ren. Zur Bewäl­ti­gung unse­rer heu­ti­gen gesell­schaft­li­chen Haus­auf­ga­ben ist es zunächst hilf­reich zu fra­gen, was eine DDR-Sozia­li­sa­ti­on bewirkt hat. Eine Bewer­tung, ob das nun gut (Ver­klä­rung) oder schlecht (Unrechts­staat!) oder ver­bre­che­risch (Sta­si!) war, kann man vor­neh­men, man soll­te sich aber aus­ge­hend von sol­chen mora­li­schen Urtei­len nicht dazu ver­lei­ten las­sen, damit alle Kon­se­quen­zen vom Tisch zu wischen. Die einen sagen dann näm­lich Vari­an­ten der fol­gen­den Sät­ze: „Das war doch alles Mist im Osten. Haben wir doch gesagt. War­um waren wir denn 89 sonst auf der Stra­ße? Wir waren doch froh, als es end­lich vor­bei war. Dann müs­sen wir auch mit den Kon­se­quen­zen leben. Jetzt ist es doch in jedem Fall bes­ser als damals. Wol­len wir etwa unse­re Frei­heit nicht? Dann ver­ste­he ich gar nichts mehr.“ Und die ande­ren? Die klin­gen etwa so: „Das haben wir uns damals aber anders vor­ge­stellt. Jahr­zehn­te­lang als Bür­ger zwei­ter Klas­se behan­delt zu wer­den, ist alles ande­re als lus­tig. Damals waren die Unter­schie­de nicht so groß. Da war es egal, wer Du warst. Naja, viel­leicht waren auch nicht alle gleich, aber es war bes­ser als heu­te. Heu­te zählt nur, wer sich durch­set­zen kann. Und das, das haben wir damals nicht gewollt.“ Die Kon­se­quen­zen tre­ten unab­hän­gig von der Bewer­tung der Ursa­chen ein. Die Ursa­chen lie­gen in der DDR-typi­schen Sozia­li­sa­ti­on, die Kon­se­quen­zen bestehen in einer gewis­sen, nicht voll­stän­di­gen, aber immer­hin tief fühl­ba­ren Fremd­heit oder eben „Rest­un­si­cher­heit“ bezüg­lich der heu­te zu ver­wen­den­den Kulturtechniken.

Wenn man also den Osten ver­ste­hen will, dann gelingt dies nur, wenn man annimmt, dass nicht alle jener Hoff­nun­gen des Herbs­tes 1989 in Erfül­lung gegan­gen sind. Wie auch, könn­te man salopp nach­set­zen: „Das ist ja gera­de das Wesen der Hoff­nung, dass man nicht weiß, was die Zukunft bringt, dass einen die Hoff­nung aber lei­tet.“ Und man könn­te noch kri­ti­scher wer­den und rufen: „Die Hoff­nung war eine Hoff­nung auf Frei­heit. Da waren sich sei­ner­zeit fast alle einig. Und wenn man frei sein will, muss man Frei­heit auch ertra­gen! Da sind sich irgend­wie nicht mehr so vie­le einig. Dann wisst Ihr Ost­deut­schen jetzt, was Ihr ler­nen müsst: kommt klar mit der Freiheit!“

Wenn es denn so ein­fach wäre! Ich hal­te es für falsch zu ver­mu­ten, dass die Men­schen nicht mit der Frei­heit klar­kom­men woll­ten oder konn­ten. Die meis­ten, den­ke ich, genie­ßen die Frei­heit sogar. Man wird heu­er nicht gegän­gelt (oder doch? „Min­des­tens im Job­cen­ter!“, wür­den vie­le rufen), man kann sich her­vor­ra­gend bil­den, man kann rei­sen – neu­er­dings gibt es sogar einen „Arbeit­neh­mer­markt“, sprich, Arbeit­neh­mer sind in vie­len Bran­chen so knapp, dass sich Arbeit­ge­ber mitt­ler­wei­le recht zahm ver­hal­ten – ein Umstand, der vor fünf­zehn oder zwan­zig Jah­ren in Ost­deutsch­land an vie­len Stel­len undenk­bar erschien.

Mei­ne Ver­mu­tung ist, dass die Erwar­tun­gen an Frei­heit im Osten ande­re sind als auf dem Gebiet der alten Bun­des­re­pu­blik. Man stel­le sich ein Spek­trum vor zwi­schen den „durch­in­di­vi­dua­li­sier­ten“ Men­schen West­eu­ro­pas und den „sozia­lis­ti­schen“ Men­schen Ost­eu­ro­pas vor. Ja, die­se sozia­lis­ti­schen Men­schen hat es gege­ben, und auch wenn man heu­te nicht mehr stolz dar­auf sein kann, weil es fak­tisch nie­man­den mehr gibt, der einen dafür bewun­dert oder min­des­tens lobt, heißt das nicht, dass die Prä­gun­gen, die Sicht­wei­sen, die Emo­tio­nen des sozia­lis­ti­schen Men­schen von der Erd­ober­flä­che ver­schwun­den sind. Die Regun­gen des sozia­lis­ti­schen Men­schen lie­gen heu­te eher im Ver­bor­ge­nen, wer­den weni­ger gezeigt, was aber nicht bedeu­tet, dass sie nicht wei­ter­ge­ge­ben wer­den. Vie­le der heu­ti­gen Stim­mun­gen im Osten Deutsch­lands wer­den plau­si­bel, wenn man sich den sozia­lis­ti­schen Men­schen – posi­tiv gespro­chen – mit sei­nen Anpas­sungs­leis­tun­gen an das gro­ße Gan­ze oder – kri­tisch gespro­chen – mit sei­ner Ein­ord­nung oder gar sei­nem „Ein­ge­mah­lens­ein“ in ein Sys­tem vor­stellt. Ich will damit nicht behaup­ten, dass Ost­deutsch­land noch immer vol­ler sozia­lis­ti­scher Men­schen ist, will aber mei­nen, dass Ost­deut­sche auf einem Spek­trum zwi­schen Indi­vi­dua­li­sie­rung auf der einen und Ein­fü­gung in ein Sys­tem auf der ande­ren Sei­te mehr­heit­lich eine ande­re Posi­ti­on ein­neh­men als ihre Lands­leu­te im Wes­ten. Damit gehen ande­re Erwar­tun­gen an Frei­heit ein­her. Man nimmt sich weni­ger Raum, äußert sich ggf. zurück­hal­ten­der – und erwar­tet das auch von ande­ren. Man erwar­tet auch, dass der Staat für­sorg­lich han­delt und in gewis­sen Lagen auch interveniert.

Der von vie­len wahr­ge­nom­me­ne Sta­tus­un­ter­schied zwi­schen Ost und West bezieht sich also nicht nur auf poli­ti­sche oder wirt­schaft­li­che Stär­ke oder Domi­nanz („Wer hat denn die Stra­ßen im Osten bezahlt?“), son­dern hat auch eine habi­tu­el­le Dimen­si­on. Das wäre an und für sich ein Pro­blem, das man zwar in den Zei­tun­gen hin und wie­der beschrei­ben wür­de, das aber für den Bestand unse­rer Gesell­schaft nicht all­zu pro­ble­ma­tisch wäre. Nach dem Mot­to: „Da gibt es halt Unter­schie­de, und die einen neh­men sie so wahr und die ande­ren so. Und? Was ist das Pro­blem?“ Bis vor weni­gen Jah­ren blieb das gan­ze The­ma also mehr oder min­der ein Spiel­platz für Intel­lek­tu­el­le, die es nicht las­sen konn­ten, sich damit zu beschäf­ti­gen. Doch spä­tes­tens 2015 hat sich das geän­dert. Seit­her rumort es in Ost­deutsch­land, und das Rumo­ren hat auch Tei­le der west­deut­schen Gesell­schaft ergrif­fen. Rein äußer­lich reg­net sich die gan­ze Debat­te vor allem an den Flücht­lin­gen ab. Dahin­ter steckt aber, so möch­te ich ver­mu­ten, etwas Grundsätzlicheres.

Neh­men wir noch ein­mal die nur zum Teil oder auch nicht erfüll­ten Hoff­nun­gen des Herbs­tes 1989 – auch unter der Ein­schrän­kung, dass es in der Natur vie­ler Hoff­nun­gen liegt, nicht in Erfül­lung zu gehen, und auch unter Aner­kennt­nis des Ein­wands, dass vie­le viel­leicht gar nicht so recht wuss­ten, wor­auf genau sich die Hoff­nun­gen rich­te­ten. Das Leben wird ja frei nach Kier­ke­gaard vor­wärts gelebt und rück­wärts ver­stan­den, und da gibt es eben vor­wärts die Hoff­nung und rück­wärts die Ent­täu­schung, wobei in die­sem Zusam­men­hang die Schreib­wei­se Ent-Täu­schung tref­fen­der wäre, weil sich eini­ge Hoff­nun­gen eben als Täu­schun­gen ent­pupp­ten oder – tra­gi­scher noch – eini­ge Hoff­nun­gen erst im Nach­hin­ein in den Herbst 1989 hin­ein­pro­ji­ziert wur­den, der his­to­ri­sche Moment heu­te also mit schwe­re­ren Hypo­the­ken auf­ge­la­den ist, als er eigent­lich ver­dient hat. Neh­men wir also noch ein­mal die nur zum Teil oder nicht erfüll­ten Hoff­nun­gen und betrach­ten die­se im Zusam­men­hang mit den besag­ten ande­ren Erwar­tun­gen an Frei­heit. Und betrach­ten wir dann ein­mal die Ereig­nis­se im Som­mer und Herbst 2015. Womög­lich hät­te sich nie­mand außer den „übli­chen Ver­däch­ti­gen“ dar­an gesto­ßen, wenn ein paar Son­der­zü­ge mit Flücht­lin­gen aus Buda­pest nach Deutsch­land geholt wor­den wären. Aber als die „Will­kom­mens­kul­tur“ ansprang und sich Jour­na­lis­ten rei­hen­wei­se nach Ungarn bega­ben, um sich her­nach selbst dafür zu fei­ern, dass sie ihre Han­dy­la­de­ge­rä­te an Flücht­lin­ge ver­lie­hen oder einer Fami­lie Zug­ti­ckets nach Deutsch­land gekauft hat­ten (ganz neben­bei hat­ten sie natür­lich auch schreck­li­che Geschich­ten gehört!), haben das vie­le nicht mehr begrif­fen, nach dem Mot­to: „Was ist los mit einem Land, dem es gut geht (eine mög­li­che Sicht), das aber sei­ne Haus­auf­ga­ben noch nicht fer­tig hat (wahr­ge­nom­me­ne Unge­rech­tig­kei­ten; eine wei­te­re mög­li­che Sicht)?“ Die­je­ni­gen, deren Hoff­nun­gen sich sei­ner­zeit nicht erfüllt hat­ten, sahen nun die Hoff­nung in den Gesich­tern derer, die „Deutsch­land, Deutsch­land!“ rie­fen. Ein bezeich­nen­de­res „Auf-sich-selbst-zurück­ge­wor­fen-Sein“ – im Prin­zip eine uner­wünsch­te Kon­fron­ta­ti­on mit der eige­nen Geschich­te – lässt sich kaum den­ken. Und wenn man dazu in der schwä­che­ren Posi­ti­on ist oder glaubt zu sein – auf wen rich­ten sich dann die Emotionen?

So macht die Sache in mei­nen Augen Sinn, das heißt, so wird die Sache ver­ständ­lich: Jeder Mensch kennt das von sich selbst. Es gibt Wahr­hei­ten über das eige­ne Leben, die man nicht oder nur sehr dosiert wis­sen möch­te. Im Fal­le von als zu krass emp­fun­de­nen Kon­fron­ta­tio­nen mit einer der ver­dräng­ten Wahr­hei­ten geht der Selbst­schutz an. Sozio­lo­gisch betrach­tet sind (und sehen sich auch selbst) die Ost­deut­schen in der schwä­che­ren Posi­ti­on. Das zu ertra­gen ist schon schwer genug. Kom­men nun aber ande­re, die genau sol­che Hoff­nun­gen haben, wie ein grö­ße­rer Teil der Ost­deut­schen einst hat­te, dann wird das Ertra­gen uner­träg­lich, dann fol­gen Ärger und Wut. Aber auch das wäre noch gegan­gen, irgend­wie hät­te man sich schon arran­gie­ren kön­nen, wenn die betei­lig­ten Poli­ti­ker und Jour­na­lis­ten die Wut hin­ge­nom­men hät­ten. Aber nein, es folg­te das, was in sol­chen Situa­tio­nen gar nicht hilft, son­dern alles nur noch schlim­mer macht: es wur­de dia­gnos­ti­ziert, belehrt und im Zwei­fel sogar stark abge­wer­tet. Und was tut jemand, der sich ärgert, aber belehrt wird, dass er sich gar nicht ärgern dür­fe, und dass er gar ein „Nazi“ sei, wenn er sich ärgert? Nun, wenn man es ihm nur oft genug sagt, dann wird er sich ein biß­chen so beneh­men, wie man es ihm unter­stellt, weil das dann die ein­zi­ge eini­ger­ma­ßen selbst­wert­erhal­ten­de Hand­lungs­op­ti­on ist. Das heißt nicht, dass es kei­ne Neo­na­zis gibt. Wenn einer ein Flücht­lings­heim anzün­den möch­te, hel­fen kei­ne Gesprä­che, son­dern gute Ermitt­lungs­ar­beit und kon­se­quen­tes poli­zei­li­ches und juris­ti­sches Han­deln. Aber die ost­deut­sche Empö­rung gene­ra­li­sie­rend mit laten­tem Ras­sis­mus oder gar Neo­na­zi­tum in Ver­bin­dung zu brin­gen, macht das Pro­blem nicht bes­ser, son­dern schlim­mer, weil die so Vor-Ver­ur­teil­ten erst recht nicht mehr wis­sen, wohin mit ihren Mei­nun­gen. Von dort ist es nicht mehr weit zu dem „Das wird man wohl noch sagen dür­fen!“ der gewohn­heits­mä­ßig Empör­ten. Als Gesell­schaft soll­ten wir uns genau über­le­gen, wie vie­len wir nicht mehr zuhö­ren – und das „nur“ um des Fest­hal­tens an eini­gen post­mo­der­nis­ti­schen Leit­vor­stel­lun­gen willen.

Bis­her habe ich vor allem sozio­lo­gisch und ergän­zend psy­cho­lo­gisch argu­men­tiert. Da ich aber selbst eini­ge Jah­re in der Flücht­lings­ar­beit tätig war – zunächst in einem deut­schen Asyl­be­wer­ber­heim und spä­ter in Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na – möch­te ich hier eini­ge per­sön­li­che Bemer­kun­gen anfügen:

  1. Es gibt ein „migran­ti­sches Bin­nen­spek­trum“. Ein Teil der hier Ange­kom­me­nen hat tat­säch­lich eine Geschich­te über Not, Bedro­hung, Ver­fol­gung, Ver­trei­bung, Fol­ter, Ver­stüm­me­lung oder ande­ren Grau­sam­kei­ten zu erzäh­len. Für die­je­ni­gen ist unse­re Asyl­ge­setz­ge­bung eigent­lich gemacht, und das ist und bleibt auch gut so. Wer soll es denn wis­sen, wenn nicht wir Deut­schen? Aber es kom­men nicht nur Men­schen mit einer Geschich­te, die dem Zweck des Asyl­rechts ent­spricht. Es kom­men auch jene, die eigent­lich als „poten­ti­el­le Ein­wan­de­rungs­kan­di­da­ten“ bezeich­net wer­den müss­ten, für deren Ein­rei­se es aber kei­ne lega­le Grund­la­ge gibt, weil wir kei­ne nen­nens­wer­ten Ein­wan­de­rungs­ge­set­ze haben. Also „tar­nen“ die­se Men­schen ihre Grün­de und erfin­den mög­li­cher­wei­se asyl­recht­lich rele­van­te Grün­de. Schließ­lich, und das muss Aner­ken­nung fin­den, sonst neh­men die Pro­ble­me wei­ter zu, kom­men auch Men­schen her, die kei­ne guten Absich­ten hegen. Ich ken­ne Leu­te, die in der Betreu­ung von Migran­ten arbei­ten und das Gefühl haben, nicht wirk­lich offen über die Pro­ble­me in die­ser Arbeit spre­chen zu kön­nen. Selbst dort! Damit mei­ne ich nicht nur die Pro­ble­me, die durch Ras­sis­mus ent­ste­hen, son­dern vor allem nega­ti­ve bis gefähr­li­che Erleb­nis­se mit Migran­ten, Bedro­hun­gen, die aus­ge­spro­chen wer­den, kri­mi­nel­le Hand­lun­gen, von denen man erfährt. Wenn man sich zu dif­fe­ren­ziert äußert und auch die nega­ti­ven Berei­che des „Bin­nen­spek­trums“ beleuch­tet, erfah­ren die­se Men­schen im Kol­le­gen­kreis und vor allem von Vor­ge­setz­ten häu­fig Ableh­nung, so als dür­fe man nicht über sol­che Pro­ble­me spre­chen. Das betrifft auch Beden­ken hin­sicht­lich der Inte­grier­bar­keit der gro­ßen Zahl von Migran­ten und der Inte­grier­bar­keit bestimm­ter Grup­pen. Wo kom­men wir hin, wenn ein „Wir schaf­fen das!“ nicht mit „Was wol­len wir schaf­fen?“ und „Wie schaf­fen wir das, was wir schaf­fen wol­len?“ hin­ter­fragt wer­den kann – und wenn selbst in die­ser Arbeit Täti­ge dar­über gleich­sam pro­phy­lak­tisch schweigen?
  2. Inte­gra­ti­on dau­ert viel län­ger, als wir uns vor­stel­len. Ers­tens gehört, und das ver­ges­sen vie­le in der Dis­kus­si­on um Flucht, Migra­ti­on, Asyl usw., zur Flucht oft auch die Rück­kehr. Krie­ge gehen, zumin­dest in der Regel, nach eini­gen Jah­ren zu Ende. Dass sich Krie­ge sel­ten loh­nen, muss hier nicht dis­ku­tiert wer­den. So wie bei der Ent­ste­hung eines Krie­ges irgend­wann die Gemä­ßig­ten von Radi­ka­len ver­drängt wer­den, die­se radi­ka­len Kräf­te dann den Krieg vom Zaun bre­chen oder die Kriegs­er­klä­rung einer ande­ren Sei­te mehr oder min­der vor­be­rei­tet anneh­men, so gewin­nen, wenn sich der Krieg lang­sam sei­nem Ende ent­ge­gen­neigt und sich die Kraft der Radi­ka­len „ver­kämpft“ hat, die gemä­ßig­ten Kräf­te wie­der mehr Gewicht und über­neh­men vor oder nach dem Ende des Krie­ges wie­der das Zep­ter. Das ist nicht immer so, aber oft genug, als dass man nach einem Krieg in der Regel eine gewis­se Beru­hi­gung, Befrie­dung und „Rezi­vi­li­sie­rung“ erwar­ten kann. Dann wird es auch wie­der mög­lich, in den betrof­fe­nen Län­dern zu leben. Eine beson­ders tra­gi­sche Aus­nah­me bil­det Afgha­ni­stan mit sei­nen nun bald ein hal­bes Jahr­hun­dert dau­ern­den Kon­flik­ten. Zwei­tens, und das ist der Kern des­sen, was ich hier sagen möch­te, malen wir uns, was Inte­gra­ti­on betrifft, gern roman­ti­sche Bil­der. Inte­gra­ti­on ver­langt den Betei­lig­ten viel ab. Es ist im Ver­gleich zu einem Leben in einer ange­stamm­ten Kul­tur ein Mehr­fa­ches an Moti­va­ti­on und Auf­wand not­wen­dig, sei­nen Weg in einem frem­den Land zu gehen. Ich habe das in einem ande­ren Text auf die­sem Blog bereits aus­führ­lich beschrie­ben, wes­halb ich mich an die­ser Stel­le ent­spre­chend kurz fas­se. Sol­chen Argu­men­ten wird gern ent­ge­gen­ge­hal­ten, dass es so etwas wie „ange­stamm­te Kul­tu­ren“ mit ent­spre­chend homo­ge­nen Bevöl­ke­run­gen gar nicht mehr gebe, und dass Inte­gra­ti­on andau­ernd irgend­wie und irgend­wo statt­fin­de. Das stimmt – zum Teil. Das Argu­ment trifft vor allem auf von der Glo­ba­li­sie­rung pro­fi­tie­ren­de, mehr oder min­der „kon­ti­nen­tal“ oder gar „trans­kon­ti­nen­tal“ leben­de Men­schen zu. Es gibt die­je­ni­gen, die aus Deutsch­land stam­men, in Spa­ni­en gehei­ra­tet haben, ihre Kin­der in Aus­tra­li­en groß­zie­hen usw., sprich, die auf dem Glo­bus zuhau­se sind. Ja. Aber was sind die Vor­aus­set­zun­gen für ein sol­ches Leben? Min­des­tens hohe Bil­dung und eine sehr gute mate­ri­el­le Aus­stat­tung. Und auf wel­che Men­schen trifft das vor allem zu? Und ist es – qua­si als Norm – auf alle der­zei­ti­gen Migran­ten­grup­pen ver­all­ge­mei­ner­bar? Ist uns wirk­lich klar, was es heißt, grö­ße­ren Grup­pen aus eher „fer­nen“ Kul­tu­ren hier eine ech­te Chan­ce zu geben? Ist uns klar, wie weit der Weg für Analpha­be­ten und noch für deren Kin­der ist? Haben wir wirk­lich so viel Geduld? Ich mei­ne nicht, dass wir es las­sen soll­ten, ich mei­ne aber – und dass tue ich vor allem vor dem Hin­ter­grund inten­si­ver Beschäf­ti­gung mit dem The­ma – dass wir sehr lang­sam machen sollten.
  3. Will­kom­mens­kul­tur hat mehr damit zu tun, wie sich vie­le Deut­sche sehen wol­len, und weni­ger damit, wie wir Deut­schen wirk­lich sind. Man kann sich bekannt­lich nicht selbst betrach­ten, son­dern sieht sich selbst mehr oder min­der durch die Augen der ande­ren. Wie sehen sich die Deut­schen? Ich möch­te die­se Fra­ge hier nicht erschöp­fend beant­wor­ten, son­dern möch­te nur zu beden­ken geben, dass die „Will­kom­mens­kul­tur“ in der Regel recht bald nach der Ankunft und den ers­ten Mona­ten Betreu­ung endet. Irgend­wann kommt der All­tag der Insti­tu­tio­nen zurück, irgend­wann ver­liert sich das gro­ße ehren­amt­li­che Enga­ge­ment. Mei­ne größ­te Wert­schät­zung gilt jenen Men­schen und Pro­jek­ten, die es schaf­fen, über Jah­re und alle tie­fen Grä­ben der Frus­tra­ti­on und der Des­il­lu­sio­nie­rung hin­weg kon­ti­nu­ier­lich zu arbei­ten. So wie vie­le Ost­deut­sche nicht in der Bun­des­re­pu­blik ange­kom­men sind, so wer­den vie­le Migran­ten nicht in Deutsch­land ankom­men. Das ist ein wei­te­res Argu­ment, sich um die­je­ni­gen bes­ser zu küm­mern, die da sind – und den Zuzug zu regu­lie­ren. Eine kürz­lich von mei­nem Team durch­ge­führ­te Unter­su­chung zeigt ziem­lich genau auf, was not­wen­dig wäre, um den sozia­len Frie­den in Deutsch­land wie­der­her­zu­stel­len – oder, falls das zu pathe­tisch for­mu­liert ist, was getan wer­den müss­te, um die aktu­el­len Spal­tun­gen deut­lich zu redu­zie­ren und der Radi­ka­li­sie­rung in eini­gen Tei­len unse­rer Gesell­schaft Ein­halt zu gebie­ten. Es sind drei rela­tiv mach­ba­re Din­ge: (a) eine Ober­gren­ze für den Zuzug von Migran­ten, (b) eine Ein­wan­de­rungs­ge­setz­ge­bung, die den Namen ver­dient, © zuzu­ge­ben, dass 2015 eini­ges falsch gelau­fen ist und sich dafür zu ent­schul­di­gen. Letz­te­res heißt nicht, dass man Flücht­lin­ge nicht hät­te auf­neh­men sol­len. Letz­te­res heißt, dass die Art und Wei­se und die Dimen­sio­nen falsch waren und das Gan­ze in der Gesell­schaft unzu­rei­chend legi­ti­miert war. Danach mit „Kom­mu­ni­ka­ti­on“ irgend­et­was zu berich­ti­gen oder zu bear­bei­ten oder – schlim­mer noch – die Leu­te zu beleh­ren, mach­te die Sache nur schlim­mer und hat zu den heu­te wahr­nehm­ba­ren Wir­kun­gen geführt.

Aus einer sol­chen Sicht ist es kein Wun­der, dass die AfD so erfolg­reich wur­de. Sie wird – und bei­na­he: muss – noch stär­ker wer­den, wenn nicht ein gewis­ser Sinn für die ost­deut­schen (und bald gesamt­deut­schen) abwei­chen­den Sicht­wei­sen erlernt wird. Ich rede hier nicht von den Radi­ka­len. Ich rede hier von Men­schen, die sich ehr­lich unver­stan­den füh­len und die – außer im pri­va­ten Umfeld – nicht mehr spre­chen. Für die­se Men­schen ist Will­kom­mens­kul­tur schlicht und ein­fach Aus­druck „eli­tä­ren Wohl­stands­wahns“. Im Grun­de könn­te man einen Teil der ost­deut­schen Empö­rung auch so for­mu­lie­ren: „Passt mal schön auf, den Flücht­lin­gen geht es irgend­wann wie uns: erst wer­den sie ange­lockt und als Fach­kräf­te ver­klärt, und dann wer­den sie an der lan­gen Lei­ne der deut­schen Büro­kra­tie ver­hun­gern gelas­sen.“ Die etwas freund­li­che­re For­mu­lie­rung wäre: „Wir sind noch nicht ein­mal mit der einen Haus­auf­ga­be fer­tig, da hal­sen wir uns die nächs­te, viel grö­ße­re Her­aus­for­de­rung auf. Wir soll­ten froh sein, dass es läuft, und wir soll­ten unse­ren Teil dazu leis­ten. Aber doch nicht so! Wir sind nicht die Heils­brin­ger Euro­pas und schon gar nicht der Welt.“

Zurück zum Anfang – der Ver­such eines Fazits: Was wir 1989 und nach der Wen­de woll­ten, war Frei­heit. Die haben wir auch bekom­men. Wir haben die Frei­heit unter­schied­lich nut­zen kön­nen – eini­ge hat­ten mehr Glück als ande­re. Zwi­schen den einen und den ande­ren klafft heu­te ein tie­fer Spalt – und das zeigt sich nicht nur im Osten, son­dern auch im Wes­ten. Aus einem deutsch-deut­schen Pro­blem wird so ein gesamt­deut­sches Pro­blem zwi­schen jenen, denen die Glo­ba­li­sie­rung zu Erfol­gen ver­hilft, und jenen, die zuneh­mend fas­sungs­los bestau­nen, was die ande­ren so trei­ben. Die Effek­te sol­cher Spal­tun­gen sind aller­orts zu beob­ach­ten – in Ungarn genau­so wie in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Die Art und Wei­se, wie wir der­zeit über die­se Din­ge spre­chen, ist nicht hilf­reich – im Gegen­teil: die Spal­tun­gen wer­den dadurch noch ver­stärkt. Wäh­rend sich die einen ent­rüs­ten (bis hin zur Wut und natür­lich ange­sta­chelt durch Radi­ka­le), mei­nen die ande­ren, die einen beleh­ren zu müs­sen. Her­ab­las­sung ist kei­ne Fra­ge der Bil­dung, Her­ab­las­sung ist eine Fra­ge der Hal­tung. Und an die­ser Stel­le haben – und damit trö­te ich aus­drück­lich nicht in das Horn jener, die „Lügen­pres­se“ rufen, son­dern mei­ne das ganz und gar ernst – vie­le Poli­ti­ker und Jour­na­lis­ten noch viel zu ler­nen. Beleh­rung wird als Arro­ganz emp­fun­den. Man schweigt dann, weil man das Gefühl bekommt, min­der­wer­tig zu sein und nicht mehr sagen zu kön­nen, was man denkt. Davon gehen die Sicht­wei­sen aber nicht weg – im Gegen­teil: Die Radi­ka­len bekom­men mehr Rede­zeit und mehr Zulauf.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.