Die Überschrift habe ich mir bei der kanadischen Post-Rock-Band Godspeed You! Black Emperor geborgt. Im Erscheinungsjahr 1997 klang das Stück mit dem Titel „Dead Flag Blues“ (Titel des Albums: „f#a#∞“) wie der Soundtrack einer düsteren, zwar möglichen, aber doch irgendwie unwahrscheinlichen Zukunft. Heute, ein Vierteljahrhundert später, klingt das für manche unter uns vielleicht weniger nach einer Dystopie, sondern eher nach einer Zustandsbeschreibung.
„Wir sind gefangen im Bauch dieser schrecklichen Maschine, und die Maschine verblutet.“ Wenn ich das zitiere, will ich damit weder auf künstliche Intelligenz, noch auf irgendeinen Turbokapitalismus oder die aktuelle politische Situation anspielen. Wenn ich mit dieser Überschrift etwas zum Ausdruck bringen will, dann vielleicht, dass wir als späte Menschen dem entgegensehen, was man als Untergang des uns Selbstverständlichen bezeichnen könnte — und dass wir gefangen sind in den Bedingungen und Merkmalen unserer Spezies.
Dieser Beitrag liefert sicher keine Antworten, sondern versucht sich eher an einer Annäherung. Denn worüber lohnt es sich zu schreiben, wenn nicht über die Dinge, die schwer zu begreifen sind?
Wir werden als Einzelne geboren und sterben als Einzelne. Unsere Wahrnehmung ist immer eine individuelle. Wahrnehmungen gehören uns nur allein. Emotionen gehören uns nur allein. Wenn wir reagieren, reagieren wir als einzelne Personen. Alles, was geschieht, geschieht uns aus unserer ganz eigenen Perspektive. Das ist die grundlegende menschliche Erfahrung.
Zwei banale Beispiele: Wenn eine ältere Dame im Supermarkt vor uns ihren Einkaufswagen durch den Gang schiebt, sich umständlich nach einem Produkt in einer unteren Reihe bückt und uns dadurch den Weg versperrt, dann passiert das in diesem Moment nur uns. Wenn der Autofahrer vor uns im Stau seinen alten Diesel weitertuckern lässt und uns „einrußt“, dann passiert das in dem betreffenden Moment nur uns.
Freilich haben wir in solchen Situationen immer die Wahl — wir können uns den Emotionen hingeben, die wir haben; wir können uns aber auch fragen, wie wir anders über diese Situation denken könnten. Auf Letzteres kommen wir aber eher selten. In den meisten Fällen bleiben wir bei dem „es passiert nur uns“ — einschließlich der damit verbundenen Emotionen. Wir sind hoffnungslos selbstzentrierte Wesen, könnte man denken.
Aber diese Erfahrung stimmt so nicht ganz — also für uns jeweils ganz persönlich stimmt sie schon, aber insgesamt stimmt sie nicht. Unsere Wahrnehmung trickst uns aus. Unsere Handlungen sind gar nicht so „einzeln“ oder „singulär“, wie uns das vorkommt.
Ein Einzelner oder eine Einzelne zu sein, ist einerseits eine individuelle Realität und Erfahrung, andererseits eine Illusion. Als einzelne Person zu handeln, ist eine Vorstellung, die so zwar stimmt (in meiner Erfahrung), aber eben nicht ganz stimmt (weil mir die kollektiv bedingten Ursachen meiner Handlungen nie ganz gewahr werden). Ich reagiere auf etwas — ja. Ich kann mich auch fragen, ob ich nicht nur direkt reagiere, oder ob ich handele — also nicht nur meinen Emotionen folge, sondern meine Emotionen zu einem Gedanken werden lasse, diesen drehe und wende und so lange reflektiere, bis mir die beste Option eingefallen ist.
An dem letzten Satz wird klar, was Denken eigentlich ist, nämlich Probehandeln (Freud). Und damit wird auch klar, worin der Sinn einer Handlung liegt, nämlich in der Reaktion des Gegenübers.
Was wir sind, was wir über uns denken, was wir fühlen – all das ist geformt durch andere. Kein Mensch ist unabhängig von seinem sozialen Kontext. Unser Denken, unsere Sprache, unser Bewusstsein – all das entsteht in der Interaktion mit anderen.
Unsere Wahrnehmung von uns selbst als Individuum ist eine Täuschung. Sie ist das Resultat eines kollektiven Prozesses – der Sprache –, die uns erst das Denken ermöglicht hat. Doch genau diese Sprache hat einen doppelten Effekt: Sie gibt uns Individualität, während sie uns gleichzeitig in kollektive Dynamiken zwingt, die wir nicht kontrollieren können.
Wir kommen nicht als fertige Individuen zur Welt, sondern werden erst durch soziale Interaktion zu einem „Selbst“. Ein Neugeborenes ist noch kein „Ich“ im eigentlichen Sinne. Es existiert anfangs in völliger Abhängigkeit und kann zwischen sich und der Welt noch nicht unterscheiden; es „ist“ die Welt.
Doch mit den ersten Begegnungen mit anderen Menschen beginnt sich das Selbst zu formen. Entscheidend wird der Moment, in dem die Mutter nicht mehr sofort auf jede Regung reagiert. Plötzlich erfährt das Kind Frustration: Die Welt dreht sich nicht nur um seine Bedürfnisse. Es muss warten.
Dieses Warten ist ein Schlüsselmoment: Es ist die erste Erfahrung eines anderen Bewusstseins. Hier beginnt das Kind zu begreifen, dass es nicht allein ist. Dass es eine Welt außerhalb gibt. Dass es andere Menschen gibt, die eigene Gedanken, Wünsche und Absichten haben.
Alles beginnt mit konkreten Erfahrungen in konkreten Interaktionen – wir erfahren, dass unsere Eltern uns anders behandeln, je nachdem, ob wir schreien oder lächeln. Doch mit der Zeit verinnerlichen wir diese Perspektiven. Wir beginnen, uns selbst aus der Sicht der „ersten Anderen“, später der Gesellschaft, zu betrachten.
Diese Perspektiven werden nicht zufällig gewählt. Wir sind, wer wir sind, weil uns die Anderen, später die Gesellschaft, formen. Es werden bestimmte Rollen geprägt und angeeignet. Ein Kind in einer autoritären Familie lernt früh, dass Gehorsam belohnt wird. Ein Kind, das ständig gelobt wird, wenn es Leistung bringt, verknüpft seinen Selbstwert mit Erfolg. Ein Kind, das oft übersehen wird, zieht daraus seine eigenen Schlüsse: Vielleicht bin ich nicht wichtig.
Wir spiegeln uns in den Reaktionen anderer und übernehmen Masken, um diesen Erwartungen gerecht zu werden. Wir lernen nicht nur, wer wir sind, sondern auch, was von uns erwartet wird. Das Selbst ist also kein festes Konstrukt, sondern ein bewegliches Gebilde. Das Selbst wächst, verändert sich, passt sich an.
Dieser Entwicklungsprozess lässt sich in Stufen darstellen:
- Das Selbst entsteht nicht von allein: Ein Mensch wird nicht mit einem fertigen „Selbst“ geboren. Babys haben noch kein Bewusstsein darüber, wer sie sind. Sie erleben zwar Dinge – Hunger, Wärme, Berührungen – aber sie wissen noch nicht, dass sie eine eigene Person sind. Dieses Bewusstsein entwickelt sich erst durch die Interaktion mit anderen Menschen.
- Der erste Spiegel – andere Menschen: Das Selbst entsteht, indem ein Kind lernt, sich aus der Sicht anderer Menschen zu sehen. Am Anfang sind da vor allem die Mutter und die engsten Bezugspersonen. Das Kind merkt, dass es nicht einfach machen kann, was es will – es bekommt Reaktionen. Wenn es lächelt, lächelt jemand zurück. Wenn es schreit, kommt vielleicht jemand und tröstet es. So lernt es: Mein Verhalten hat eine Wirkung.
- Die Rollenübernahme: So tun, als ob… Ein wichtiger Schritt ist das Spielen. Kinder spielen gerne, indem sie „so tun als ob“. Sie spielen zum Beispiel Eltern nach, Lehrer oder Feuerwehrleute. In diesen Spielen nehmen sie verschiedene Rollen ein und tun so, als wären sie jemand anderes. Dadurch lernen sie, sich aus der Perspektive anderer zu sehen. Wenn ein Kind zum Beispiel Mutter oder Vater spielt, stellt es sich vor: „Was würde eine Mutter jetzt sagen? Wie würde sie handeln?“ Es beginnt also, sich in andere hineinzuversetzen. Das ist der Schlüssel zur Entwicklung des Selbst: Es sieht sich nicht nur aus seiner eigenen Perspektive, sondern auch aus der Sicht anderer.
- Der „generalisierte Andere“ (= der verallgemeinerte Andere): Im Laufe der Zeit entwickelt sich das Kind weiter. Es lernt nicht nur, wie einzelne Menschen reagieren (z. B. die Mutter oder der Vater), sondern es versteht, dass es gesellschaftliche Regeln gibt. In der Schule merkt es zum Beispiel: Man kann nicht einfach loslaufen und rufen, wenn der Lehrer spricht.
Dieses Verinnerlichen der Erfahrungen mit anderen Menschen mündet in den „generalisierten Anderen“ – also eine Art unsichtbaren Maßstab für das, was allgemein erwartet wird. Das Kind verinnerlicht gesellschaftliche Regeln und Normen und beginnt, sich selbst zu steuern. Es denkt: „Wenn ich das tue, wie würden andere das sehen?“ Das bedeutet: Ein Mensch denkt nicht nur über sich nach, sondern er nimmt ständig die Perspektive anderer ein. Das ist das Fundament unseres Selbst. Ein Mensch agiert also keineswegs nur, wie er will, das Selbst besteht vielmehr aus zwei Teilen, nämlich (a) aus einem spontanen, impulsiven Teil, der macht, was er will, und (b) aus einem reflektierten Teil, der darüber nachdenkt, was andere von einem erwarten.
Beispiele:
Nehmen wir einmal die Situation in dem Supermarkt: Ich bin vielleicht gerade dabei, meiner Ungeduld Ausdruck zu verleihen oder vielleicht sogar eine Gemeinheit zu sagen, öffne schon meinen Mund, als mir einfällt, wie das auf die ältere Dame wirken wird. Ich mache meinen Mund wieder zu und warte. Vielleicht frage ich, ob ich helfen kann.
Oder das Beispiel im Stau: Ich steige vielleicht aus dem Auto und bewege mich schon in Richtung des Fahrers mit dem alten Diesel, als ich auf der Rücksitzbank des anderen Autos mehrere Kinder entdecke. Es ist kalt, denke ich dann vielleicht, und dass er einfach die Heizung braucht und deshalb das Auto laufen lässt.
Oder nehmen wir ein Kind, das gerade ein frustrierendes Erlebnis hatte: Es möchte vielleicht einfach losschreien. Aber es fragt sich: „Was würden die anderen sagen?“ Wenn dieser Impuls stärker ist, hält sich das Kind zurück.
Das Selbst entsteht also in einem ständigen Wechselspiel zwischen spontanen Impulsen und der Reflexion darüber, was von einem erwartet wird, in einer Situation schicklich ist usw.
Kurz zusammengefasst:
- Ein Baby hat noch kein Selbst.
- Durch die Reaktionen anderer beginnt es, sich selbst wahrzunehmen.
- Beim Spielen lernt es, sich aus der Sicht anderer zu sehen.
- Später verinnerlicht es gesellschaftliche Erwartungen (der „generalisierte Andere“).
- Das Selbst ist ein Resultat, eine Mischung aus spontanen, eher impulsiven Anteilen und reflektierenden, eher normativen Anteilen.
Es sind genau diese reflektierenden, eher normativen Anteile, die unsere Fähigkeit zur sozialen Anpassung überhaupt erst ermöglichen: Kooperation, Gemeinschaft und Zivilisation sind gleichsam Resultate dieser Fähigkeit.
Die Sprache als Ursprung des Selbst
Die besondere Fähigkeit des Menschen, sich selbst wahrzunehmen, ist nicht etwa ein natürlicher Ausgangspunkt unserer Existenz, sondern das Ergebnis eines langen, sozialen und kollektiven Prozesses. Im Gegensatz zu anderen Säugetieren sind wir nicht nur in der Lage zu reagieren, sondern unser Verhalten bewusst zu reflektieren und zu koordinieren. Doch diese Fähigkeit ist untrennbar mit der Entwicklung der Sprache verbunden – und Sprache wiederum ist kein isoliertes Konstrukt, sondern ein Produkt der sozialen Interaktion. Unsere Wahrnehmung von uns selbst als Einzelne ist also nicht die eigentliche Realität, sondern eine Art notwendige Verzerrung, die den eigentlichen Ursprung – die kollektive Entstehung unseres Bewusstseins – in den Hintergrund rückt.
Ein Tier, das angegriffen wird, reagiert instinktiv. Es schlägt zurück, es flieht, oder es stellt sich tot. Der Hund, der sein Nackenfell aufstellt, signalisiert Aggression – doch nicht in einem bewussten, reflektierten Sinne. Der andere Hund „versteht“ das nicht, er reagiert einfach darauf. Hier gibt es keine gedankliche Distanz zum eigenen Verhalten, keine Möglichkeit, eine Handlung abzuwägen oder zu hinterfragen. Verhalten folgt direkt auf den Reiz.
Der Mensch hingegen kann direkt reagieren (sich verhalten) – aber er kann auch anders, indirekt reagieren (handeln). Eine Handlung setzt Reflexion voraus — und die Fähigkeit, eine Situation nicht nur instinktiv zu erleben, sondern sich von ihr zu „entsetzen“ und sie in einen größeren Bedeutungszusammenhang zu stellen.
Woher kommt diese Fähigkeit? Sie ist nicht einfach da – sie entspringt unserer Fähigkeit zur Sprache.
Irgendwann im Verlauf der Menschwerdung begannen unsere Vorfahren, Symbole nicht nur für den unmittelbaren Verhaltensvollzug zu benutzen, sondern auf Dinge zu verweisen, die nicht mehr direkt vor ihnen lagen. Während tierische Warnrufe noch direkte Reiz-Reaktions-Ketten auslösen, schufen Menschen Symbole, die auch in Abwesenheit eines bestimmten Objekts Bedeutung hatten. Sie konnten über einen Feind sprechen, selbst wenn dieser nicht da war. Sie konnten sich gemeinsam darauf vorbereiten, mit einer Gefahr umzugehen, ohne ihr gerade ausgesetzt zu sein.
Dieser Schritt war revolutionär: Er ermöglichte es, sich nicht nur auf die Gegenwart zu beziehen, sondern Vergangenheit und Zukunft in das Denken einzubeziehen. Peter Sloterdijk beschreibt dies mit seiner Metapher von der „psychoakustischen Zauberkugel“ – das Lagerfeuer als symbolischer Ort, an dem Menschen begannen, ihre Welt in Worte zu fassen, indem sie nicht mehr nur auf ihre Umwelt direkt reagierten, sondern sie aktiv beschrieben, schufen sie eine neue Dimension der Wirklichkeit: eine Welt, in der Dinge nicht nur existierten, sondern benannt, erinnert und geplant werden konnten.
Doch Sprache tat noch etwas anderes: Sie führte zur Entstehung des Bewusstseins unseres Selbst. Wer spricht, muss verstehen, was er sagt, und er tut dies, indem er nachvollzieht, was die eigene Handlung beim Gegenüber bewirkt. Sprache setzt Interaktion voraus, und Interaktion bedeutet, dass man sich der Wirkung seiner Worte und Handlungen bewusst wird.
Nach George Herbert Mead entsteht das Selbst nicht aus dem Inneren des Individuums, sondern durch die Reaktionen der anderen. Ein Kind, das weint, erfährt eine Reaktion – die Mutter tröstet es oder weist es zurecht. Es beginnt, sich nicht nur als Wesen mit eigenen Bedürfnissen zu erleben, sondern auch als Objekt für andere. Es sieht sich mit den Augen seiner Umwelt.
Das Meadsche Konzept von „I“ und „Me“ beschreibt diesen Prozess:
• Das „I“ ist der spontane, impulsive Teil des Selbst, der einfach handelt.
• Das „Me“ ist die verinnerlichte Perspektive der Anderen – das Bewusstsein darüber, wie das eigene Verhalten auf andere wirkt.
Durch diesen Prozess lernen wir, uns selbst zu reflektieren. Unser Selbstbild entsteht aus der Summe der Reaktionen, die wir im Laufe unseres Lebens auf unser Verhalten erhalten. Und damit wird klar: Unsere Vorstellung von uns selbst ist nicht unabhängig, sondern ein Produkt sozialer Interaktion.
Anselm Strauss hat diese Idee weitergeführt und beschreibt das Selbst als etwas, das sich in einem ständigen Wechselspiel aus Spiegelung und Maskierung entwickelt. Wir sind nie einfach nur „wir selbst“ – wir sind, was wir in den Augen der anderen sind. Und weil wir uns dieser Spiegelungen bewusst sind, setzen wir Masken auf, passen uns an und übernehmen Rollen.
Diese Anpassung ist nicht zwangsläufig schlecht – sie ist eine Überlebensstrategie. Ein Arzt spricht mit seinen Patienten anders als mit seinen Freunden. Ein Lehrer verhält sich in der Klasse anders als bei einem Familientreffen. Jede soziale Situation erfordert eine gewisse Maskierung. Doch wenn das Selbstbild zu sehr von äußeren Erwartungen bestimmt wird, droht eine Entfremdung – dann wird das Selbst zu einer reinen Reaktion auf soziale Zwänge, statt eine authentische Balance zwischen Anpassung und Eigenständigkeit zu finden.
Die Illusion der Individualität
Was bedeutet das alles?
Wir nehmen uns als Einzelne wahr, weil wir nur unsere eigene Perspektive erleben können. Doch diese Perspektive ist eine Täuschung. Wir sind keine isolierten Individuen, sondern soziale Wesen, deren Bewusstsein erst durch Interaktion entstanden ist.
Sprache ist das Fundament dieser Illusion. Sie hat uns erst dazu gebracht, uns selbst als Akteure wahrzunehmen – und gleichzeitig verschleiert sie, dass wir ohne den sozialen Kontext, in dem sie entstanden ist, überhaupt kein Selbstbewusstsein hätten.
Indem wir sprechen, denken und reflektieren, sind wir also immer in eine größere Ordnung eingebunden. Die Grenzen unseres Denkens sind die Grenzen unserer sprachlichen und sozialen Welt. Wir mögen uns als autonome Individuen sehen – aber wir sind in Wahrheit das Produkt eines jahrtausendelangen, kollektiven Prozesses. Die Sprache hat uns geschaffen – und sie hat uns die Illusion gegeben, dass wir mehr sind als nur ein Teil dieses großen Ganzen.
Hier leuchtet nun langsam unser Dilemma auf: Wir kommen durch die Interaktion mit anderen, also durch die Einbettung in einen kollektiven Handlungszusammenhang überhaupt erst zu dem, was wir das „Selbst“ nennen können. Andererseits erleben wir das Selbst aber als bestimmende Kategorie — der Hintergrund des kollektiven Handlungszusammenhangs verblasst in unserer individuellen Wahrnehmung. Das bedeutet aber nicht, dass wir vom kollektiven Handlungszusammenhang losgelöst wären; die „Einbettung“ unserer Handlungen in den größeren Zusammenhang ist uns nur nicht so bewusst.
Unsere Wahrnehmung nimmt uns gleichsam aus dem kollektiv verketteten Handlungsprozess heraus — wir nehmen uns als Einzelne wahr. Unsere Handlungen sind zwar immer noch verkettet, aber es kommt uns so vor, als hätten wir einen Einfluss darauf. Und natürlich haben wir einen Einfluss darauf — wenn es uns gewahr wird. Dennoch gibt es immer noch den größeren Zusammenhang der Verkettungen.
Nochmal langsam:
Wenn wir etwas wahrnehmen, haben wir dazu eine Emotion. Wir freuen uns, ärgern uns, fürchten uns usw. Das ist die Ebene, auf der wir uns von anderen Säugetieren kaum unterscheiden.
Wenn wir etwas wahrnehmen und dazu eine Emotion haben, besteht die Chance, das daraus ein Gedanke wird. Dann nutzen wir unsere Fähigkeit, uns von unserem Verhaltenszusammenhang zu entsetzen und uns etwas einfallen zu lassen. Aus Verhalten wird in diesem Fall Handlung.
Gleichzeitig bleiben unsere Handlungen aber verkettet. Der Sinn einer Handlung liegt nach wie vor in der Reaktion des anderen. Wir können zwar etwas wollen, aber ob sich dieser Wille entfalten kann, liegt letztlich bei der Zustimmung oder Nichtzustimmung anderer.
Diese Dynamik ist nicht so sehr individueller, als viel mehr kollektiver Natur. Hier betreten Menschen den Bereich des kollektiven Handelns. Man kann etwas probieren. Ob die anderen das gut finden, sei dahingestellt. Es kann klappen, muss aber nicht klappen. Wenn es klappt und erfolgreich bleibt, hat die eigene Idee gewonnen; wenn nicht, dann eben nicht.
Aus unseren verketteten Handlungen ergeben sich langsam Prinzipien. Das ist gar nicht unbedingt so ein aktiver Austauschprozess von Geltungsansprüchen, wie uns manche Großtheorien über Kommunikation gern weismachen wollen. Es ist eher ein Prozess der gewöhnenden Aneignung. Wir probieren etwas aus, und wenn es erfolgreich ist, wird es wahrscheinlich unter ähnlichen Gegebenheiten wiederholt. Bleiben auch die Wiederholungen erfolgreich, lernen wir, dass man das so machen sollte — und nicht anders.
Diese Sichtweise wird langsam zum „Besitz der Gruppe“, das heißt, die Beteiligten gewöhnen sich daran, später wird es für sie selbstverständlich. Und während die ersten noch dabei waren und wissen, wie das gekommen ist, wissen später Hinzugekommene in der Regel nicht mehr viel darüber, warum etwas so und nicht anders ist. Das, was man schon weiß, wird an neu Hinzukommende weitergegeben. Über die Generationen hinweg wird das immer mehr. Niemand, der heute Chemiker wird, muss sich noch auf der Ebene von Versuchen und Irrtümern mit denjenigen Dingen beschäftigen, die ursächlich einmal zur Herausbildung der Chemie geführt haben, zum Beispiel mit der Frage nach der richtigen Methode zur Haltbarmachung von Fellen zum Zwecke der Kleidung. Wenn wir heute bereits Bekanntes in das Muster von Versuch und Irrtum bringen, dann meist aus pädagogischen Gründen. Meine Chemielehrerin hat mich beispielsweise einmal probieren lassen, brennendes Benzin mit Wasser zu löschen, Schutzbrille inklusive.
Nun ist es ja nicht so, dass dieser Prozess irgendwie „smooth“ abläuft. Einmal gebildet, sind die Selbstverständlichkeiten oft „harte Kerne“, geschmiedet durch Versuch und Irrtum, gehärtet durch lange Bewährung, verstärkt durch die Weitergabe über Generationen hinweg. Wenn etwas selbstverständlich ist, dann ist es auch mit Regeln, Wertvorstellungen und bestimmten Strukturen oder Abläufen verbunden. Wenn etwas selbstverständlich ist, wird es zum Teil der Identität. Und Identität wird verteidigt.
Nun liegt es aber eben in unserer Natur, dass wir uns etwas einfallen lassen können. Wir haben gelernt, wie etwas funktioniert — und dann gehen wir mit dem Hund spazieren und plötzlich fällt uns ein, wie etwas einfacher zu machen wäre.
Ein Beispiel: Jemand macht eine Ausbildung in einer Klavierfabrik. Während der Ausbildung hält sich die Person zurück, aber die Ausbilder merken, dass da jemand ist, der sein Handwerk verstehen wird. Irgendwann ist die Ausbildung zuende, der Mann arbeitet als Tischler. Er hat als Tischler wenig mit den Leuten von der Auslieferung zu tun, aber er sieht oft, wie die Leute sich abmühen, wie sie regelrecht buckeln, die schweren Instrumente zu verladen. Irgendwann fällt ihm etwas ein, nämlich wie man mit einer einfachen Vorrichtung den Verladeprozess einfacher und vor allem physisch deutlich weniger belastend organisieren könnte. Er geht mit seiner Idee zum Chef. Der Chef reagiert zunächst offen, doch als die Führungskraft des Auslieferungsteams hinzukommt, heißt es: „Wie kann ein Tischler sich erdreisten, in unsere Arbeit reinreden zu wollen!“ Die Idee ist vom Tisch. Mit der Zeit bleibt diese Idee nicht die einzige des jungen Tischlers, seine Ideen erleiden aber immer wieder ähnliche Schicksale, und irgendwann ist er es Leid und reicht seine Kündigung ein.
Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten werden also ursächlich durch Ideen, Versuche und Irrtümer gebildet, bis sie erfolgreich bleiben, zur Gewohnheit und am Ende zur Selbstverständlichkeit werden. Spätestens dann werden sie auch zum Teil der Identität von Menschen und also im Zweifelsfall verteidigt. Der Zweifelsfall kommt aber genauso leicht wie eine ursprüngliche Idee daher: Da ist jemandem etwas eingefallen. Nun entstehen Konflikte zwischen dem Hergebrachten und dem Neuen. Im eben dargestellten Beispiel hat die Person mit ihren Ideen das Spiel verloren — oder hatte zu wenig Durchhaltevermögen.
Wenn man etwas verändern will, also irgendwie initiativ oder proaktiv handelt, braucht man drei Dinge: Hartnäckigkeit, Geduld und gute Laune. Die gute Laune ist in der Regel das erste Opfer, allerdings zu einem hohen Preis: Proaktive Handlungen ohne gute Laune führen zu negativen Beurteilungen durch Vorgesetzte. Die Realisierungswahrscheinlichkeit der (vielleicht guten) Ideen sinkt rapide, wenn die gute Laune versiegt. Man wird dann quasi zum Empörungsbeauftragten in einer „eigentlich“ guten Sache. 😉
Das „we are trapped“ in der Überschrift bezieht sich letztlich genau auf dieses Spannungsfeld. Wir sind erst durch unsere Fähigkeit zum koordinierten Verhalten zum Bewusstsein unseres Verhaltens gekommen. Dadurch wurden wir auch unseres individuellen Selbst gewahr. Dieses Selbst kann denkend und handelnd durchaus einen Unterschied machen. Aber ob das gelingt oder nicht, ist wiederum von der Zustimmung im „größeren Zusammenhang“ (Kollektiv) abhängig.
Nehmen wir nun in dem „größeren Zusammenhang“ einmal Folgendes an: Die „älteren Selbstverständlichkeiten“ erodieren langsam, weil neue Ideen aufkommen und zustimmungsfähiger werden. Der Idealfall wäre sicher ein offener Dialog zwischen denjenigen, welche die älteren Selbstverständlichkeiten vertreten und jenen, die neue Ideen haben.
Der offene Dialog wird allerdings viel öfter behauptet, als dass er tatsächlich möglich wäre, denn der „eigentliche Konflikt“ liegt auf der Ebene der Selbstverständlichkeiten. Die „Neuen“ wollen etwas, das so gar nicht zu „meinen“ Selbstverständlichkeiten passt.
Also doch Konflikt — und zwar zugespitzt, weil die Verteidigung dessen, was für selbstverständlich gehalten wird, eben auch und vor allem zur Belehrung führt, dass man die Welt so oder so gar nicht sehen dürfe, weil…
Dass genau diese Belehrung zu einem weiteren Erstarken der anderen Seite führen wird, bleibt den so handelnden (belehrenden) Personen in der Regel verborgen.
Wenn wir betrachten, was in der Menschheitsgeschichte an Schrecklichem, Entsetzlichem, ja auch Unaussprechlichem möglich war, wird deutlich, dass der „zivilisatorische Firniß“ dünn ist. Die großen Katastrophen der Geschichte geschahen nicht, weil plötzlich Millionen von Menschen „böse“ wurden. Sie geschahen, weil sich langsam die Struktur der Handlungskoordination veränderte. Ältere Normen erodierten; die Protagonisten und Verfechter der älteren Normen hielten aber an ihnen fest; neue Impulsgeber wurden populärer, doch anstelle zeitig genug eine Mischung herzustellen, hielt man weiter fest, belehrte und ignorierte weiter.
Wer letztlich die ganze Sache über die Grenze geschubst hat, bleibt dann eine ebenso interessante wie obsolete Frage.
Kaum jemand steht morgens auf und denkt: „Heute werde ich ein Monster sein.“ Aber wenn sich die Welt verändert, wenn Gewalt oder Unterdrückung plötzlich als „notwendig“ erscheinen, dann folgen erst manche, später mehr und am Ende viele dieser neuen Logik. Das ist immer ein Prozess. Das beginnt immer langsam, unmerklich — aber wenn Grenzen überschritten wurden, merken wir das in der Regel erst hinterher.
Es gibt Muster, die sich immer wieder zeigen. Keine festen Gesetze, aber Mechanismen, die dazu führen können, dass Menschen Dinge tun, die sie zuvor für unmöglich hielten.
Einige Beispiele:
- Wenn die Korrekturmechanismen fehlen – Abu Ghraib: Erinnern Sie sich noch an Abu Ghraib? US-Soldaten hatten Gefangene auf fürchterliche Weise gefoltert, und zwar nicht, weil sie „schon immer“ Sadisten waren – sondern weil es, wie Philip Zimbardo in seiner Analyse gezeigt hat, keine Instanz gab, die ihnen Einhalt gebot. Die Eskalation geschah schrittweise. Zuerst waren es kleinere Demütigungen, dann härtere Maßnahmen. Ohne klare Kontrolle wurde die Gewalt zur Norm. Letztlich war es die Struktur, welche die Grausamkeit ermöglichte.
- Diktatur als Zwiebelschichten-Struktur – Das Dritte Reich: Wenn es um das Dritte Reich geht, denken wir sofort an Hitler und an seine uneingeschränkte Macht. Wie innerlich widersprüchlich das „Führerprinzip“ bspw. aus rechtlicher Sicht war, wird in der Vernehmung des früheren SS-Anklägers Konrad Morgen im Rahmen des Auschwitz-Prozesses deutlich. Was uns durch die Fokussierung auf den Diktator selbst etwas aus dem Blick gerät, ist die „Zwiebelstruktur“ der NS-Herrschaft. Die Nationalsozialisten schufen einen Sicherungsapparat aus immer neuen Organisationen (die „Zwiebelschichten“), die den Willen Hitlers umsetzen sollten, untereinander zum Teil stark konkurrierten, aber ein quasi von innen nachwachsendes, mit der Zeit immer stabileres Bollwerk schufen. Jeder, der sich widersetzte, gefährdete sich selbst, während sich das System immer weiter stabilisierte. Viele Menschen waren zunächst nicht „böse“ – sie handelten nach einer neuen, zwingenden Logik.
- Die entfesselte Masse – das Beispiel Ruanda: Manchmal braucht es keinen Diktator und keinen Apparat, sondern nur eine entfesselte Menge. In Ruanda reichten ein paar Monate Hasspropaganda im Radio, um aus Nachbarn Mörder zu machen. Die Gewalt war weniger von langer Hand geplant, sondern „brach“ eher aus einer sich hochschaukelnden Dynamik hervor. Die Logik hatte sich verändert: Plötzlich war Töten nicht mehr Mord, sondern Verteidigung.
- Wie es zum Bürgerkrieg kommt – das Beispiel Bosnien: Ein Bürgerkrieg beginnt nicht mit einer Entscheidung, sondern mit einer schleichenden Veränderung. Es begann auf den Straßen und in den Fußballstadien: Nationalistische Hymnen wurden populärer. Der Name, der Glaube oder das, was man „Ethnie“ nennt, wurden immer wichtiger. Dann wurde jemand erschossen. Die Zeitungen berichteten. Jede Seite interpretierte es anders. Dann starb jemand bei einem Unfall. War es ein Unfall? Gerüchte verbreiteten sich. Ein paar Nächte später fiel ein Schuss in der Nachbarschaft. Niemand wusste, wer geschossen hat, aber alle hatten Angst. Ein Mann fand seine Tiere tot im Stall. Die Polizei kam noch – aber nicht mehr vollzählig, manche Polizisten fehlten. Dann brannte ein Haus. Die Feuerwehr kam noch, aber die Polizei blieb weg, trotz mehrfacher Anrufe. Es begann schleichend. Zuerst funktionierte noch alles, später nicht mehr so richtig, dann gar nicht mehr. Irgendwann gab es keine Regeln mehr.
Wir nehmen uns als Individuen wahr. Aber wenn der große Handlungskoordinationszusammenhang umkippt, zählt das Individuelle nicht mehr. Als Einzelne können wir uns nicht aus dem Strudel befreien. Wir nehmen uns als Einzelne wahr – aber nur, solange das System intakt ist. Deshalb müssen wir die frühen Signale erkennen — den Moment, bevor sich die Logik ändert. Denn wenn der Punkt überschritten ist, wenn Gewalt oder Chaos zur neuen Normalität werden – dann gibt es kein Zurück. Dann zählt nur noch das große Ganze. Und das große Ganze ist erbarmungslos und anonym.
Wenn das, was wir für unser Selbst halten, nur eine Spiegelung sozialer Interaktion ist – wie können wir dann „frei“ sein? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, sich der hier beschriebenen Dynamik zu entziehen?
Vielleicht lautet die Frage gar nicht, ob wir der Dynamik entkommen können, sondern ob wir erkennen, wann sie sich beschleunigt, wann droht, dass sich die Logik ändert — denn wenn sie es tut, dann ist es oft schon zu spät.
Können wir innehalten und das überhaupt wahrnehmen? Reflexion allein bietet keinen Ausweg, aber einen Anfang. Solange wir denken können, bleibt ein Rest Handlungsfähigkeit. Doch die Geschichte zeigt: Denken allein genügt nicht. Es braucht auch den Mut, etwas zu tun, bevor die Maschine rollt.
Doch was passiert, wenn die handelnden Personen auf allen beteiligten Seiten meinen, dass sie es sind, die die Sache „retten“?
Viele Menschen, die sich selbst als „progressiv“ einschätzen würden, nehmen an, dass sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt – offener, toleranter, fortschrittlicher wird. Diesen Menschen gegenüber stehen andere, die meinen, dass es heute, trotz aller sichtbaren Zeichen individueller Freiheit, gar nicht so tolerant zugeht, im Gegenteil.
So lange es unfrei zugeht, wünscht man sich mehr Freiheit. Hat man die Freiheit, merkt man das vielleicht gar nicht so sehr. Vielleicht ist „funktionierende Toleranz“ auch etwas viel zugleich Anonymeres und Fragileres, als sich das viele von uns heute vorstellen. Hat es denn, so könnte man skeptisch, vielleicht auch etwas pessimistisch, meinen, wirklich etwas mit Freiheit und Toleranz zu tun, wenn man in den sozialen Netzen unter ständiger Beobachtung für jedes Wort, jede Geste oder jede Überzeugung steht, und wenn jeder dort geäußerte Gedanke Gefahr läuft, im Zuge einer algorithmisch verstärkten Rückkopplungsschleife moralisch „gewogen“ zu werden — und man für jedes „Vergehen“ kategorisiert, etikettiert und verurteilt werden kann?
Die Individualisierung hat zu einem Paradoxon geführt: Während theoretisch jeder „ganz er selbst“ sein kann, existiert gleichzeitig in unserer heutigen Version einer freien Gesellschaft ein Druck, bestimmten (ideologischen) Erwartungen zu entsprechen.
Insbesondere das progressive Lager verlangt, dass wir nicht nur die tatsächlichen, sondern auch die potenziellen Identitäten anderer Menschen tolerieren und kommunikativ berücksichtigen, im Zweifelsfall noch bevor diese Identitäten überhaupt bekannt sind. Die Erwartung ist nicht mehr nur, dass man andere nicht verletzt, sondern dass man Sprache und Verhalten proaktiv so gestaltet, dass mögliche Verletzungen gleichsam vorbeugend vermieden werden.
Dieser Impuls, der aus einem Gedanken der Inklusion heraus entstand, schafft eine Atmosphäre permanenter Selbstzensur und Unsicherheit. Doch er steht nicht allein.
Als Reaktion auf diesen „Hyperprogressivismus“ ist eine starke konservative Gegenbewegung entstanden – eine, die nicht nur widerstehen, sondern die kulturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte rückgängig machen will. Ihr Ziel ist keine Balance, sondern eine Restauration – eine Rückkehr in eine Zeit, in der soziale Rollen klarer definiert, Normen durchgesetzt und Abweichungen eingedämmt wurden.
Die eigentliche Gefahr liegt darin, dass keine der beiden Seiten ihre eigenen Exzesse erkennt. Die progressive Bewegung geht davon aus, dass ihre vermeintliche moralische Überlegenheit bestimmte Formen sozialen Zwangs (bspw. cancel culture) rechtfertigt, während die konservative Gegenbewegung sich als notwendige Korrektur begreift und dabei oft jene Missstände ignoriert, die progressive Bewegungen überhaupt erst hervorgebracht haben. In ihrem Kampf riskieren sie, das fragile gesellschaftliche Gefüge zu zerreißen, das ein Zusammenleben ermöglicht.
Der Zerfall des gemeinsamen Fundaments
Es wäre ein Fehler zu glauben, dies sei einfach eine Frage von „links gegen rechts“ oder „Wandel gegen Tradition“. Das tiefere Problem ist der Verlust einer gemeinsamen Grundlage – eines Raums, in dem konkurrierende Ansichten verhandelt werden und nebeneinander existieren können.
Früher konnte man sich mit Kollegen, Nachbarn oder Freunden streiten, ohne soziale Ächtung befürchten zu müssen. Heute jedoch haben Meinungsverschiedenheiten – besonders bei Themen wie Identität, Kultur und Moral – ein anderes Gewicht. Sie gelten nicht mehr als Perspektivunterschiede, sondern als moralische Verfehlungen.
Diese Verschiebung wurde durch Technologie beschleunigt. Soziale Medien haben nicht nur Spaltungen verstärkt, sondern eine neue Form des öffentlichen Raums geschaffen – einen, in dem jede Äußerung, jede Meinung, jeder Fehler archiviert, bewertet und entweder belohnt oder bestraft wird. Es gibt kaum Platz für Ambivalenz, kaum Toleranz für unfertige Gedanken oder sich entwickelnde Überzeugungen. Alles erscheint unmittelbar und absolut. Die Zeitlinie verdampft zum Moment — wir jagen uns gegenseitig von Moment zu Moment. Im Extremfall steht immer gleich „alles“ auf dem Spiel.
Das bedeutet nicht, dass die Vergangenheit „toleranter“ war. Marginalisierte Gruppen wurden oft unterdrückt, viele Stimmen blieben ungehört. Doch was diesen Umstand ersetzt hat, ist nicht unbedingt besser. Die Summe der Probleme bleibt gleich.
Statt eines Dialogs erleben wir heute ideologischen Tribalismus, in dem Menschen nicht mehr aus Meinungsverschiedenheiten lernen, sondern versuchen, abweichende Meinungen zu eliminieren.
Wenn die Geschichte uns etwas lehrt, dann, dass Gesellschaften nicht über Nacht zerfallen. Sie erodieren langsam. Sie erreichen Kipppunkte – Momente, in denen sich die unterschwelligen Spannungen, die sich über Jahre aufgebaut haben, plötzlich entladen.
Eine Gesellschaft zerfällt nicht, weil die Menschen einzeln „radikal“ werden. Sie zerfällt, weil die Strukturen, die einst widerstreitende Interessen in Balance hielten, zusammenbrechen. Wenn sich progressive und konservative Extreme weiter radikalisieren, wenn der gemeinsame Boden weiter erodiert – was geschieht dann?
Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der die Spannungen ihren Höhepunkt erreicht haben. Wenn das alte Gerüst erodiert und nichts Stabiles an seine Stelle tritt, zerfällt die Gesellschaft in Fraktionen.
Wir sehen uns als Individuen, aber wir existieren in einem Netz voneinander abhängiger Handlungen. Was wir sagen, tun oder glauben, wird durch die kollektiven Strukturen um uns herum geformt. Und doch sind diese Strukturen nicht unzerstörbar.
Wenn die extremen Pole weiterhin die Bedingungen diktieren, wenn wir ideologische Reinheitsprüfungen über echten Dialog stellen, dann treiben wir weiter in Richtung Spaltung.
Die eigentliche Frage ist: Können wir noch umkehren? Können wir uns einigen, weiterhin gemeinsam auf unser Gemeinwesen einzuzahlen? Oder werden wir langsam, aber sicher handlungsunfähig? Und ist das nicht genau der Zustand, in dem uns manche Machthaber sehen wollen?