„We are trapped in the belly of this horrible machine, and the machine is bleeding to death.“

Die Über­schrift habe ich mir bei der kana­di­schen Post-Rock-Band God­speed You! Black Emper­or geborgt. Im Erschei­nungs­jahr 1997 klang das Stück mit dem Titel „Dead Flag Blues“ (Titel des Albums: „f#a#∞“) wie der Sound­track einer düs­te­ren, zwar mög­li­chen, aber doch irgend­wie unwahr­schein­li­chen Zukunft. Heu­te, ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter, klingt das für man­che unter uns viel­leicht weni­ger nach einer Dys­to­pie, son­dern eher nach einer Zustandsbeschreibung.

„Wir sind gefan­gen im Bauch die­ser schreck­li­chen Maschi­ne, und die Maschi­ne ver­blu­tet.“ Wenn ich das zitie­re, will ich damit weder auf künst­li­che Intel­li­genz, noch auf irgend­ei­nen Tur­bo­ka­pi­ta­lis­mus oder die aktu­el­le poli­ti­sche Situa­ti­on anspie­len. Wenn ich mit die­ser Über­schrift etwas zum Aus­druck brin­gen will, dann viel­leicht, dass wir als spä­te Men­schen dem ent­ge­gen­se­hen, was man als Unter­gang des uns Selbst­ver­ständ­li­chen bezeich­nen könn­te — und dass wir gefan­gen sind in den Bedin­gun­gen und Merk­ma­len unse­rer Spezies.

Die­ser Bei­trag lie­fert sicher kei­ne Ant­wor­ten, son­dern ver­sucht sich eher an einer Annä­he­rung. Denn wor­über lohnt es sich zu schrei­ben, wenn nicht über die Din­ge, die schwer zu begrei­fen sind?

Wir wer­den als Ein­zel­ne gebo­ren und ster­ben als Ein­zel­ne. Unse­re Wahr­neh­mung ist immer eine indi­vi­du­el­le. Wahr­neh­mun­gen gehö­ren uns nur allein. Emo­tio­nen gehö­ren uns nur allein. Wenn wir reagie­ren, reagie­ren wir als ein­zel­ne Per­so­nen. Alles, was geschieht, geschieht uns aus unse­rer ganz eige­nen Per­spek­ti­ve. Das ist die grund­le­gen­de mensch­li­che Erfahrung.

Zwei bana­le Bei­spie­le: Wenn eine älte­re Dame im Super­markt vor uns ihren Ein­kaufs­wa­gen durch den Gang schiebt, sich umständ­lich nach einem Pro­dukt in einer unte­ren Rei­he bückt und uns dadurch den Weg ver­sperrt, dann pas­siert das in die­sem Moment nur uns. Wenn der Auto­fah­rer vor uns im Stau sei­nen alten Die­sel wei­ter­tu­ckern lässt und uns „ein­rußt“, dann pas­siert das in dem betref­fen­den Moment nur uns.

Frei­lich haben wir in sol­chen Situa­tio­nen immer die Wahl — wir kön­nen uns den Emo­tio­nen hin­ge­ben, die wir haben; wir kön­nen uns aber auch fra­gen, wie wir anders über die­se Situa­ti­on den­ken könn­ten. Auf Letz­te­res kom­men wir aber eher sel­ten. In den meis­ten Fäl­len blei­ben wir bei dem „es pas­siert nur uns“ — ein­schließ­lich der damit ver­bun­de­nen Emo­tio­nen. Wir sind hoff­nungs­los selbst­zen­trier­te Wesen, könn­te man denken.

Aber die­se Erfah­rung stimmt so nicht ganz — also für uns jeweils ganz per­sön­lich stimmt sie schon, aber ins­ge­samt stimmt sie nicht. Unse­re Wahr­neh­mung trickst uns aus. Unse­re Hand­lun­gen sind gar nicht so „ein­zeln“ oder „sin­gu­lär“, wie uns das vorkommt.

Ein Ein­zel­ner oder eine Ein­zel­ne zu sein, ist einer­seits eine indi­vi­du­el­le Rea­li­tät und Erfah­rung, ande­rer­seits eine Illu­si­on. Als ein­zel­ne Per­son zu han­deln, ist eine Vor­stel­lung, die so zwar stimmt (in mei­ner Erfah­rung), aber eben nicht ganz stimmt (weil mir die kol­lek­tiv beding­ten Ursa­chen mei­ner Hand­lun­gen nie ganz gewahr wer­den). Ich reagie­re auf etwas — ja. Ich kann mich auch fra­gen, ob ich nicht nur direkt reagie­re, oder ob ich han­de­le — also nicht nur mei­nen Emo­tio­nen fol­ge, son­dern mei­ne Emo­tio­nen zu einem Gedan­ken wer­den las­se, die­sen dre­he und wen­de und so lan­ge reflek­tie­re, bis mir die bes­te Opti­on ein­ge­fal­len ist.

An dem letz­ten Satz wird klar, was Den­ken eigent­lich ist, näm­lich Pro­be­han­deln (Freud). Und damit wird auch klar, wor­in der Sinn einer Hand­lung liegt, näm­lich in der Reak­ti­on des Gegenübers.

Was wir sind, was wir über uns den­ken, was wir füh­len – all das ist geformt durch ande­re. Kein Mensch ist unab­hän­gig von sei­nem sozia­len Kon­text. Unser Den­ken, unse­re Spra­che, unser Bewusst­sein – all das ent­steht in der Inter­ak­ti­on mit anderen.

Unse­re Wahr­neh­mung von uns selbst als Indi­vi­du­um ist eine Täu­schung. Sie ist das Resul­tat eines kol­lek­ti­ven Pro­zes­ses – der Spra­che –, die uns erst das Den­ken ermög­licht hat. Doch genau die­se Spra­che hat einen dop­pel­ten Effekt: Sie gibt uns Indi­vi­dua­li­tät, wäh­rend sie uns gleich­zei­tig in kol­lek­ti­ve Dyna­mi­ken zwingt, die wir nicht kon­trol­lie­ren können.

Wir kom­men nicht als fer­ti­ge Indi­vi­du­en zur Welt, son­dern wer­den erst durch sozia­le Inter­ak­ti­on zu einem „Selbst“. Ein Neu­ge­bo­re­nes ist noch kein „Ich“ im eigent­li­chen Sin­ne. Es exis­tiert anfangs in völ­li­ger Abhän­gig­keit und kann zwi­schen sich und der Welt noch nicht unter­schei­den; es „ist“ die Welt.

Doch mit den ers­ten Begeg­nun­gen mit ande­ren Men­schen beginnt sich das Selbst zu for­men. Ent­schei­dend wird der Moment, in dem die Mut­ter nicht mehr sofort auf jede Regung reagiert. Plötz­lich erfährt das Kind Frus­tra­ti­on: Die Welt dreht sich nicht nur um sei­ne Bedürf­nis­se. Es muss warten.

Die­ses War­ten ist ein Schlüs­sel­mo­ment: Es ist die ers­te Erfah­rung eines ande­ren Bewusst­seins. Hier beginnt das Kind zu begrei­fen, dass es nicht allein ist. Dass es eine Welt außer­halb gibt. Dass es ande­re Men­schen gibt, die eige­ne Gedan­ken, Wün­sche und Absich­ten haben.

Alles beginnt mit kon­kre­ten Erfah­run­gen in kon­kre­ten Inter­ak­tio­nen – wir erfah­ren, dass unse­re Eltern uns anders behan­deln, je nach­dem, ob wir schrei­en oder lächeln. Doch mit der Zeit ver­in­ner­li­chen wir die­se Per­spek­ti­ven. Wir begin­nen, uns selbst aus der Sicht der „ers­ten Ande­ren“, spä­ter der Gesell­schaft, zu betrachten.

Die­se Per­spek­ti­ven wer­den nicht zufäl­lig gewählt. Wir sind, wer wir sind, weil uns die Ande­ren, spä­ter die Gesell­schaft, for­men. Es wer­den bestimm­te Rol­len geprägt und ange­eig­net. Ein Kind in einer auto­ri­tä­ren Fami­lie lernt früh, dass Gehor­sam belohnt wird. Ein Kind, das stän­dig gelobt wird, wenn es Leis­tung bringt, ver­knüpft sei­nen Selbst­wert mit Erfolg. Ein Kind, das oft über­se­hen wird, zieht dar­aus sei­ne eige­nen Schlüs­se: Viel­leicht bin ich nicht wichtig.

Wir spie­geln uns in den Reak­tio­nen ande­rer und über­neh­men Mas­ken, um die­sen Erwar­tun­gen gerecht zu wer­den. Wir ler­nen nicht nur, wer wir sind, son­dern auch, was von uns erwar­tet wird. Das Selbst ist also kein fes­tes Kon­strukt, son­dern ein beweg­li­ches Gebil­de. Das Selbst wächst, ver­än­dert sich, passt sich an.

Die­ser Ent­wick­lungs­pro­zess lässt sich in Stu­fen darstellen:

  1. Das Selbst ent­steht nicht von allein: Ein Mensch wird nicht mit einem fer­ti­gen „Selbst“ gebo­ren. Babys haben noch kein Bewusst­sein dar­über, wer sie sind. Sie erle­ben zwar Din­ge – Hun­ger, Wär­me, Berüh­run­gen – aber sie wis­sen noch nicht, dass sie eine eige­ne Per­son sind. Die­ses Bewusst­sein ent­wi­ckelt sich erst durch die Inter­ak­ti­on mit ande­ren Menschen.
  2. Der ers­te Spie­gel – ande­re Men­schen: Das Selbst ent­steht, indem ein Kind lernt, sich aus der Sicht ande­rer Men­schen zu sehen. Am Anfang sind da vor allem die Mut­ter und die engs­ten Bezugs­per­so­nen. Das Kind merkt, dass es nicht ein­fach machen kann, was es will – es bekommt Reak­tio­nen. Wenn es lächelt, lächelt jemand zurück. Wenn es schreit, kommt viel­leicht jemand und trös­tet es. So lernt es: Mein Ver­hal­ten hat eine Wirkung.
  3. Die Rol­len­über­nah­me: So tun, als ob… Ein wich­ti­ger Schritt ist das Spie­len. Kin­der spie­len ger­ne, indem sie „so tun als ob“. Sie spie­len zum Bei­spiel Eltern nach, Leh­rer oder Feu­er­wehr­leu­te. In die­sen Spie­len neh­men sie ver­schie­de­ne Rol­len ein und tun so, als wären sie jemand ande­res. Dadurch ler­nen sie, sich aus der Per­spek­ti­ve ande­rer zu sehen. Wenn ein Kind zum Bei­spiel Mut­ter oder Vater spielt, stellt es sich vor: „Was wür­de eine Mut­ter jetzt sagen? Wie wür­de sie han­deln?“ Es beginnt also, sich in ande­re hin­ein­zu­ver­set­zen. Das ist der Schlüs­sel zur Ent­wick­lung des Selbst: Es sieht sich nicht nur aus sei­ner eige­nen Per­spek­ti­ve, son­dern auch aus der Sicht anderer.
  4. Der „gene­ra­li­sier­te Ande­re“ (= der ver­all­ge­mei­ner­te Ande­re): Im Lau­fe der Zeit ent­wi­ckelt sich das Kind wei­ter. Es lernt nicht nur, wie ein­zel­ne Men­schen reagie­ren (z. B. die Mut­ter oder der Vater), son­dern es ver­steht, dass es gesell­schaft­li­che Regeln gibt. In der Schu­le merkt es zum Bei­spiel: Man kann nicht ein­fach los­lau­fen und rufen, wenn der Leh­rer spricht.

Die­ses Ver­in­ner­li­chen der Erfah­run­gen mit ande­ren Men­schen mün­det in den „gene­ra­li­sier­ten Ande­ren“ – also eine Art unsicht­ba­ren Maß­stab für das, was all­ge­mein erwar­tet wird. Das Kind ver­in­ner­licht gesell­schaft­li­che Regeln und Nor­men und beginnt, sich selbst zu steu­ern. Es denkt: „Wenn ich das tue, wie wür­den ande­re das sehen?“ Das bedeu­tet: Ein Mensch denkt nicht nur über sich nach, son­dern er nimmt stän­dig die Per­spek­ti­ve ande­rer ein. Das ist das Fun­da­ment unse­res Selbst. Ein Mensch agiert also kei­nes­wegs nur, wie er will, das Selbst besteht viel­mehr aus zwei Tei­len, näm­lich (a) aus einem spon­ta­nen, impul­si­ven Teil, der macht, was er will, und (b) aus einem reflek­tier­ten Teil, der dar­über nach­denkt, was ande­re von einem erwarten.

Bei­spie­le:
Neh­men wir ein­mal die Situa­ti­on in dem Super­markt: Ich bin viel­leicht gera­de dabei, mei­ner Unge­duld Aus­druck zu ver­lei­hen oder viel­leicht sogar eine Gemein­heit zu sagen, öff­ne schon mei­nen Mund, als mir ein­fällt, wie das auf die älte­re Dame wir­ken wird. Ich mache mei­nen Mund wie­der zu und war­te. Viel­leicht fra­ge ich, ob ich hel­fen kann.

Oder das Bei­spiel im Stau: Ich stei­ge viel­leicht aus dem Auto und bewe­ge mich schon in Rich­tung des Fah­rers mit dem alten Die­sel, als ich auf der Rück­sitz­bank des ande­ren Autos meh­re­re Kin­der ent­de­cke. Es ist kalt, den­ke ich dann viel­leicht, und dass er ein­fach die Hei­zung braucht und des­halb das Auto lau­fen lässt.

Oder neh­men wir ein Kind, das gera­de ein frus­trie­ren­des Erleb­nis hat­te: Es möch­te viel­leicht ein­fach los­schrei­en. Aber es fragt sich: „Was wür­den die ande­ren sagen?“ Wenn die­ser Impuls stär­ker ist, hält sich das Kind zurück.

Das Selbst ent­steht also in einem stän­di­gen Wech­sel­spiel zwi­schen spon­ta­nen Impul­sen und der Refle­xi­on dar­über, was von einem erwar­tet wird, in einer Situa­ti­on schick­lich ist usw.

Kurz zusam­men­ge­fasst:

  1. Ein Baby hat noch kein Selbst.
  2. Durch die Reak­tio­nen ande­rer beginnt es, sich selbst wahrzunehmen.
  3. Beim Spie­len lernt es, sich aus der Sicht ande­rer zu sehen.
  4. Spä­ter ver­in­ner­licht es gesell­schaft­li­che Erwar­tun­gen (der „gene­ra­li­sier­te Andere“).
  5. Das Selbst ist ein Resul­tat, eine Mischung aus spon­ta­nen, eher impul­si­ven Antei­len und reflek­tie­ren­den, eher nor­ma­ti­ven Anteilen.

Es sind genau die­se reflek­tie­ren­den, eher nor­ma­ti­ven Antei­le, die unse­re Fähig­keit zur sozia­len Anpas­sung über­haupt erst ermög­li­chen: Koope­ra­ti­on, Gemein­schaft und Zivi­li­sa­ti­on sind gleich­sam Resul­ta­te die­ser Fähigkeit.

Die Spra­che als Ursprung des Selbst

Die beson­de­re Fähig­keit des Men­schen, sich selbst wahr­zu­neh­men, ist nicht etwa ein natür­li­cher Aus­gangs­punkt unse­rer Exis­tenz, son­dern das Ergeb­nis eines lan­gen, sozia­len und kol­lek­ti­ven Pro­zes­ses. Im Gegen­satz zu ande­ren Säu­ge­tie­ren sind wir nicht nur in der Lage zu reagie­ren, son­dern unser Ver­hal­ten bewusst zu reflek­tie­ren und zu koor­di­nie­ren. Doch die­se Fähig­keit ist untrenn­bar mit der Ent­wick­lung der Spra­che ver­bun­den – und Spra­che wie­der­um ist kein iso­lier­tes Kon­strukt, son­dern ein Pro­dukt der sozia­len Inter­ak­ti­on. Unse­re Wahr­neh­mung von uns selbst als Ein­zel­ne ist also nicht die eigent­li­che Rea­li­tät, son­dern eine Art not­wen­di­ge Ver­zer­rung, die den eigent­li­chen Ursprung – die kol­lek­ti­ve Ent­ste­hung unse­res Bewusst­seins – in den Hin­ter­grund rückt.

Ein Tier, das ange­grif­fen wird, reagiert instink­tiv. Es schlägt zurück, es flieht, oder es stellt sich tot. Der Hund, der sein Nacken­fell auf­stellt, signa­li­siert Aggres­si­on – doch nicht in einem bewuss­ten, reflek­tier­ten Sin­ne. Der ande­re Hund „ver­steht“ das nicht, er reagiert ein­fach dar­auf. Hier gibt es kei­ne gedank­li­che Distanz zum eige­nen Ver­hal­ten, kei­ne Mög­lich­keit, eine Hand­lung abzu­wä­gen oder zu hin­ter­fra­gen. Ver­hal­ten folgt direkt auf den Reiz.

Der Mensch hin­ge­gen kann direkt reagie­ren (sich ver­hal­ten) – aber er kann auch anders, indi­rekt reagie­ren (han­deln). Eine Hand­lung setzt Refle­xi­on vor­aus — und die Fähig­keit, eine Situa­ti­on nicht nur instink­tiv zu erle­ben, son­dern sich von ihr zu „ent­set­zen“ und sie in einen grö­ße­ren Bedeu­tungs­zu­sam­men­hang zu stellen.

Woher kommt die­se Fähig­keit? Sie ist nicht ein­fach da – sie ent­springt unse­rer Fähig­keit zur Sprache.

Irgend­wann im Ver­lauf der Mensch­wer­dung began­nen unse­re Vor­fah­ren, Sym­bo­le nicht nur für den unmit­tel­ba­ren Ver­hal­tens­voll­zug zu benut­zen, son­dern auf Din­ge zu ver­wei­sen, die nicht mehr direkt vor ihnen lagen. Wäh­rend tie­ri­sche Warn­ru­fe noch direk­te Reiz-Reak­ti­ons-Ket­ten aus­lö­sen, schu­fen Men­schen Sym­bo­le, die auch in Abwe­sen­heit eines bestimm­ten Objekts Bedeu­tung hat­ten. Sie konn­ten über einen Feind spre­chen, selbst wenn die­ser nicht da war. Sie konn­ten sich gemein­sam dar­auf vor­be­rei­ten, mit einer Gefahr umzu­ge­hen, ohne ihr gera­de aus­ge­setzt zu sein.

Die­ser Schritt war revo­lu­tio­när: Er ermög­lich­te es, sich nicht nur auf die Gegen­wart zu bezie­hen, son­dern Ver­gan­gen­heit und Zukunft in das Den­ken ein­zu­be­zie­hen. Peter Slo­ter­di­jk beschreibt dies mit sei­ner Meta­pher von der „psy­cho­akus­ti­schen Zau­ber­ku­gel“ – das Lager­feu­er als sym­bo­li­scher Ort, an dem Men­schen began­nen, ihre Welt in Wor­te zu fas­sen, indem sie nicht mehr nur auf ihre Umwelt direkt reagier­ten, son­dern sie aktiv beschrie­ben, schu­fen sie eine neue Dimen­si­on der Wirk­lich­keit: eine Welt, in der Din­ge nicht nur exis­tier­ten, son­dern benannt, erin­nert und geplant wer­den konnten.

Doch Spra­che tat noch etwas ande­res: Sie führ­te zur Ent­ste­hung des Bewusst­seins unse­res Selbst. Wer spricht, muss ver­ste­hen, was er sagt, und er tut dies, indem er nach­voll­zieht, was die eige­ne Hand­lung beim Gegen­über bewirkt. Spra­che setzt Inter­ak­ti­on vor­aus, und Inter­ak­ti­on bedeu­tet, dass man sich der Wir­kung sei­ner Wor­te und Hand­lun­gen bewusst wird.

Nach Geor­ge Her­bert Mead ent­steht das Selbst nicht aus dem Inne­ren des Indi­vi­du­ums, son­dern durch die Reak­tio­nen der ande­ren. Ein Kind, das weint, erfährt eine Reak­ti­on – die Mut­ter trös­tet es oder weist es zurecht. Es beginnt, sich nicht nur als Wesen mit eige­nen Bedürf­nis­sen zu erle­ben, son­dern auch als Objekt für ande­re. Es sieht sich mit den Augen sei­ner Umwelt.

Das Mead­sche Kon­zept von „I“ und „Me“ beschreibt die­sen Pro­zess:
• Das „I“ ist der spon­ta­ne, impul­si­ve Teil des Selbst, der ein­fach han­delt.
• Das „Me“ ist die ver­in­ner­lich­te Per­spek­ti­ve der Ande­ren – das Bewusst­sein dar­über, wie das eige­ne Ver­hal­ten auf ande­re wirkt.

Durch die­sen Pro­zess ler­nen wir, uns selbst zu reflek­tie­ren. Unser Selbst­bild ent­steht aus der Sum­me der Reak­tio­nen, die wir im Lau­fe unse­res Lebens auf unser Ver­hal­ten erhal­ten. Und damit wird klar: Unse­re Vor­stel­lung von uns selbst ist nicht unab­hän­gig, son­dern ein Pro­dukt sozia­ler Interaktion.

Anselm Strauss hat die­se Idee wei­ter­ge­führt und beschreibt das Selbst als etwas, das sich in einem stän­di­gen Wech­sel­spiel aus Spie­ge­lung und Mas­kie­rung ent­wi­ckelt. Wir sind nie ein­fach nur „wir selbst“ – wir sind, was wir in den Augen der ande­ren sind. Und weil wir uns die­ser Spie­ge­lun­gen bewusst sind, set­zen wir Mas­ken auf, pas­sen uns an und über­neh­men Rollen.

Die­se Anpas­sung ist nicht zwangs­läu­fig schlecht – sie ist eine Über­le­bens­stra­te­gie. Ein Arzt spricht mit sei­nen Pati­en­ten anders als mit sei­nen Freun­den. Ein Leh­rer ver­hält sich in der Klas­se anders als bei einem Fami­li­en­tref­fen. Jede sozia­le Situa­ti­on erfor­dert eine gewis­se Mas­kie­rung. Doch wenn das Selbst­bild zu sehr von äuße­ren Erwar­tun­gen bestimmt wird, droht eine Ent­frem­dung – dann wird das Selbst zu einer rei­nen Reak­ti­on auf sozia­le Zwän­ge, statt eine authen­ti­sche Balan­ce zwi­schen Anpas­sung und Eigen­stän­dig­keit zu finden.

Die Illu­si­on der Individualität

Was bedeu­tet das alles?

Wir neh­men uns als Ein­zel­ne wahr, weil wir nur unse­re eige­ne Per­spek­ti­ve erle­ben kön­nen. Doch die­se Per­spek­ti­ve ist eine Täu­schung. Wir sind kei­ne iso­lier­ten Indi­vi­du­en, son­dern sozia­le Wesen, deren Bewusst­sein erst durch Inter­ak­ti­on ent­stan­den ist.

Spra­che ist das Fun­da­ment die­ser Illu­si­on. Sie hat uns erst dazu gebracht, uns selbst als Akteu­re wahr­zu­neh­men – und gleich­zei­tig ver­schlei­ert sie, dass wir ohne den sozia­len Kon­text, in dem sie ent­stan­den ist, über­haupt kein Selbst­be­wusst­sein hätten.

Indem wir spre­chen, den­ken und reflek­tie­ren, sind wir also immer in eine grö­ße­re Ord­nung ein­ge­bun­den. Die Gren­zen unse­res Den­kens sind die Gren­zen unse­rer sprach­li­chen und sozia­len Welt. Wir mögen uns als auto­no­me Indi­vi­du­en sehen – aber wir sind in Wahr­heit das Pro­dukt eines jahr­tau­sen­de­lan­gen, kol­lek­ti­ven Pro­zes­ses. Die Spra­che hat uns geschaf­fen – und sie hat uns die Illu­si­on gege­ben, dass wir mehr sind als nur ein Teil die­ses gro­ßen Ganzen.

Hier leuch­tet nun lang­sam unser Dilem­ma auf: Wir kom­men durch die Inter­ak­ti­on mit ande­ren, also durch die Ein­bet­tung in einen kol­lek­ti­ven Hand­lungs­zu­sam­men­hang über­haupt erst zu dem, was wir das „Selbst“ nen­nen kön­nen. Ande­rer­seits erle­ben wir das Selbst aber als bestim­men­de Kate­go­rie — der Hin­ter­grund des kol­lek­ti­ven Hand­lungs­zu­sam­men­hangs ver­blasst in unse­rer indi­vi­du­el­len Wahr­neh­mung. Das bedeu­tet aber nicht, dass wir vom kol­lek­ti­ven Hand­lungs­zu­sam­men­hang los­ge­löst wären; die „Ein­bet­tung“ unse­rer Hand­lun­gen in den grö­ße­ren Zusam­men­hang ist uns nur nicht so bewusst.

Unse­re Wahr­neh­mung nimmt uns gleich­sam aus dem kol­lek­tiv ver­ket­te­ten Hand­lungs­pro­zess her­aus — wir neh­men uns als Ein­zel­ne wahr. Unse­re Hand­lun­gen sind zwar immer noch ver­ket­tet, aber es kommt uns so vor, als hät­ten wir einen Ein­fluss dar­auf. Und natür­lich haben wir einen Ein­fluss dar­auf — wenn es uns gewahr wird. Den­noch gibt es immer noch den grö­ße­ren Zusam­men­hang der Verkettungen.

Noch­mal lang­sam:
Wenn wir etwas wahr­neh­men, haben wir dazu eine Emo­ti­on. Wir freu­en uns, ärgern uns, fürch­ten uns usw. Das ist die Ebe­ne, auf der wir uns von ande­ren Säu­ge­tie­ren kaum unter­schei­den.
Wenn wir etwas wahr­neh­men und dazu eine Emo­ti­on haben, besteht die Chan­ce, das dar­aus ein Gedan­ke wird. Dann nut­zen wir unse­re Fähig­keit, uns von unse­rem Ver­hal­tens­zu­sam­men­hang zu ent­set­zen und uns etwas ein­fal­len zu las­sen. Aus Ver­hal­ten wird in die­sem Fall Hand­lung.
Gleich­zei­tig blei­ben unse­re Hand­lun­gen aber ver­ket­tet. Der Sinn einer Hand­lung liegt nach wie vor in der Reak­ti­on des ande­ren. Wir kön­nen zwar etwas wol­len, aber ob sich die­ser Wil­le ent­fal­ten kann, liegt letzt­lich bei der Zustim­mung oder Nicht­zu­stim­mung ande­rer.
Die­se Dyna­mik ist nicht so sehr indi­vi­du­el­ler, als viel mehr kol­lek­ti­ver Natur. Hier betre­ten Men­schen den Bereich des kol­lek­ti­ven Han­delns. Man kann etwas pro­bie­ren. Ob die ande­ren das gut fin­den, sei dahin­ge­stellt. Es kann klap­pen, muss aber nicht klap­pen. Wenn es klappt und erfolg­reich bleibt, hat die eige­ne Idee gewon­nen; wenn nicht, dann eben nicht.

Aus unse­ren ver­ket­te­ten Hand­lun­gen erge­ben sich lang­sam Prin­zi­pi­en. Das ist gar nicht unbe­dingt so ein akti­ver Aus­tausch­pro­zess von Gel­tungs­an­sprü­chen, wie uns man­che Groß­theo­rien über Kom­mu­ni­ka­ti­on gern weis­ma­chen wol­len. Es ist eher ein Pro­zess der gewöh­nen­den Aneig­nung. Wir pro­bie­ren etwas aus, und wenn es erfolg­reich ist, wird es wahr­schein­lich unter ähn­li­chen Gege­ben­hei­ten wie­der­holt. Blei­ben auch die Wie­der­ho­lun­gen erfolg­reich, ler­nen wir, dass man das so machen soll­te — und nicht anders.

Die­se Sicht­wei­se wird lang­sam zum „Besitz der Grup­pe“, das heißt, die Betei­lig­ten gewöh­nen sich dar­an, spä­ter wird es für sie selbst­ver­ständ­lich. Und wäh­rend die ers­ten noch dabei waren und wis­sen, wie das gekom­men ist, wis­sen spä­ter Hin­zu­ge­kom­me­ne in der Regel nicht mehr viel dar­über, war­um etwas so und nicht anders ist. Das, was man schon weiß, wird an neu Hin­zu­kom­men­de wei­ter­ge­ge­ben. Über die Gene­ra­tio­nen hin­weg wird das immer mehr. Nie­mand, der heu­te Che­mi­ker wird, muss sich noch auf der Ebe­ne von Ver­su­chen und Irr­tü­mern mit den­je­ni­gen Din­gen beschäf­ti­gen, die ursäch­lich ein­mal zur Her­aus­bil­dung der Che­mie geführt haben, zum Bei­spiel mit der Fra­ge nach der rich­ti­gen Metho­de zur Halt­bar­ma­chung von Fel­len zum Zwe­cke der Klei­dung. Wenn wir heu­te bereits Bekann­tes in das Mus­ter von Ver­such und Irr­tum brin­gen, dann meist aus päd­ago­gi­schen Grün­den. Mei­ne Che­mie­leh­re­rin hat mich bei­spiels­wei­se ein­mal pro­bie­ren las­sen, bren­nen­des Ben­zin mit Was­ser zu löschen, Schutz­bril­le inklusive.

Nun ist es ja nicht so, dass die­ser Pro­zess irgend­wie „smooth“ abläuft. Ein­mal gebil­det, sind die Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten oft „har­te Ker­ne“, geschmie­det durch Ver­such und Irr­tum, gehär­tet durch lan­ge Bewäh­rung, ver­stärkt durch die Wei­ter­ga­be über Gene­ra­tio­nen hin­weg. Wenn etwas selbst­ver­ständ­lich ist, dann ist es auch mit Regeln, Wert­vor­stel­lun­gen und bestimm­ten Struk­tu­ren oder Abläu­fen ver­bun­den. Wenn etwas selbst­ver­ständ­lich ist, wird es zum Teil der Iden­ti­tät. Und Iden­ti­tät wird verteidigt.

Nun liegt es aber eben in unse­rer Natur, dass wir uns etwas ein­fal­len las­sen kön­nen. Wir haben gelernt, wie etwas funk­tio­niert — und dann gehen wir mit dem Hund spa­zie­ren und plötz­lich fällt uns ein, wie etwas ein­fa­cher zu machen wäre.

Ein Bei­spiel: Jemand macht eine Aus­bil­dung in einer Kla­vier­fa­brik. Wäh­rend der Aus­bil­dung hält sich die Per­son zurück, aber die Aus­bil­der mer­ken, dass da jemand ist, der sein Hand­werk ver­ste­hen wird. Irgend­wann ist die Aus­bil­dung zuen­de, der Mann arbei­tet als Tisch­ler. Er hat als Tisch­ler wenig mit den Leu­ten von der Aus­lie­fe­rung zu tun, aber er sieht oft, wie die Leu­te sich abmü­hen, wie sie regel­recht buckeln, die schwe­ren Instru­men­te zu ver­la­den. Irgend­wann fällt ihm etwas ein, näm­lich wie man mit einer ein­fa­chen Vor­rich­tung den Ver­la­de­pro­zess ein­fa­cher und vor allem phy­sisch deut­lich weni­ger belas­tend orga­ni­sie­ren könn­te. Er geht mit sei­ner Idee zum Chef. Der Chef reagiert zunächst offen, doch als die Füh­rungs­kraft des Aus­lie­fe­rungs­teams hin­zu­kommt, heißt es: „Wie kann ein Tisch­ler sich erdreis­ten, in unse­re Arbeit rein­re­den zu wol­len!“ Die Idee ist vom Tisch. Mit der Zeit bleibt die­se Idee nicht die ein­zi­ge des jun­gen Tisch­lers, sei­ne Ideen erlei­den aber immer wie­der ähn­li­che Schick­sa­le, und irgend­wann ist er es Leid und reicht sei­ne Kün­di­gung ein.

Gewohn­hei­ten und Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten wer­den also ursäch­lich durch Ideen, Ver­su­che und Irr­tü­mer gebil­det, bis sie erfolg­reich blei­ben, zur Gewohn­heit und am Ende zur Selbst­ver­ständ­lich­keit wer­den. Spä­tes­tens dann wer­den sie auch zum Teil der Iden­ti­tät von Men­schen und also im Zwei­fels­fall ver­tei­digt. Der Zwei­fels­fall kommt aber genau­so leicht wie eine ursprüng­li­che Idee daher: Da ist jeman­dem etwas ein­ge­fal­len. Nun ent­ste­hen Kon­flik­te zwi­schen dem Her­ge­brach­ten und dem Neu­en. Im eben dar­ge­stell­ten Bei­spiel hat die Per­son mit ihren Ideen das Spiel ver­lo­ren — oder hat­te zu wenig Durchhaltevermögen.

Wenn man etwas ver­än­dern will, also irgend­wie initia­tiv oder pro­ak­tiv han­delt, braucht man drei Din­ge: Hart­nä­ckig­keit, Geduld und gute Lau­ne. Die gute Lau­ne ist in der Regel das ers­te Opfer, aller­dings zu einem hohen Preis: Pro­ak­ti­ve Hand­lun­gen ohne gute Lau­ne füh­ren zu nega­ti­ven Beur­tei­lun­gen durch Vor­ge­setz­te. Die Rea­li­sie­rungs­wahr­schein­lich­keit der (viel­leicht guten) Ideen sinkt rapi­de, wenn die gute Lau­ne ver­siegt. Man wird dann qua­si zum Empö­rungs­be­auf­trag­ten in einer „eigent­lich“ guten Sache. 😉

Das „we are trap­ped“ in der Über­schrift bezieht sich letzt­lich genau auf die­ses Span­nungs­feld. Wir sind erst durch unse­re Fähig­keit zum koor­di­nier­ten Ver­hal­ten zum Bewusst­sein unse­res Ver­hal­tens gekom­men. Dadurch wur­den wir auch unse­res indi­vi­du­el­len Selbst gewahr. Die­ses Selbst kann den­kend und han­delnd durch­aus einen Unter­schied machen. Aber ob das gelingt oder nicht, ist wie­der­um von der Zustim­mung im „grö­ße­ren Zusam­men­hang“ (Kol­lek­tiv) abhängig.

Neh­men wir nun in dem „grö­ße­ren Zusam­men­hang“ ein­mal Fol­gen­des an: Die „älte­ren Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten“ ero­die­ren lang­sam, weil neue Ideen auf­kom­men und zustim­mungs­fä­hi­ger wer­den. Der Ide­al­fall wäre sicher ein offe­ner Dia­log zwi­schen den­je­ni­gen, wel­che die älte­ren Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten ver­tre­ten und jenen, die neue Ideen haben.

Der offe­ne Dia­log wird aller­dings viel öfter behaup­tet, als dass er tat­säch­lich mög­lich wäre, denn der „eigent­li­che Kon­flikt“ liegt auf der Ebe­ne der Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten. Die „Neu­en“ wol­len etwas, das so gar nicht zu „mei­nen“ Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten passt.

Also doch Kon­flikt — und zwar zuge­spitzt, weil die Ver­tei­di­gung des­sen, was für selbst­ver­ständ­lich gehal­ten wird, eben auch und vor allem zur Beleh­rung führt, dass man die Welt so oder so gar nicht sehen dür­fe, weil…

Dass genau die­se Beleh­rung zu einem wei­te­ren Erstar­ken der ande­ren Sei­te füh­ren wird, bleibt den so han­deln­den (beleh­ren­den) Per­so­nen in der Regel verborgen.

Wenn wir betrach­ten, was in der Mensch­heits­ge­schich­te an Schreck­li­chem, Ent­setz­li­chem, ja auch Unaus­sprech­li­chem mög­lich war, wird deut­lich, dass der „zivi­li­sa­to­ri­sche Fir­niß“ dünn ist. Die gro­ßen Kata­stro­phen der Geschich­te gescha­hen nicht, weil plötz­lich Mil­lio­nen von Men­schen „böse“ wur­den. Sie gescha­hen, weil sich lang­sam die Struk­tur der Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on ver­än­der­te. Älte­re Nor­men ero­dier­ten; die Prot­ago­nis­ten und Ver­fech­ter der älte­ren Nor­men hiel­ten aber an ihnen fest; neue Impuls­ge­ber wur­den popu­lä­rer, doch anstel­le zei­tig genug eine Mischung her­zu­stel­len, hielt man wei­ter fest, belehr­te und igno­rier­te weiter.

Wer letzt­lich die gan­ze Sache über die Gren­ze geschubst hat, bleibt dann eine eben­so inter­es­san­te wie obso­le­te Frage.

Kaum jemand steht mor­gens auf und denkt: „Heu­te wer­de ich ein Mons­ter sein.“ Aber wenn sich die Welt ver­än­dert, wenn Gewalt oder Unter­drü­ckung plötz­lich als „not­wen­dig“ erschei­nen, dann fol­gen erst man­che, spä­ter mehr und am Ende vie­le die­ser neu­en Logik. Das ist immer ein Pro­zess. Das beginnt immer lang­sam, unmerk­lich — aber wenn Gren­zen über­schrit­ten wur­den, mer­ken wir das in der Regel erst hinterher.

Es gibt Mus­ter, die sich immer wie­der zei­gen. Kei­ne fes­ten Geset­ze, aber Mecha­nis­men, die dazu füh­ren kön­nen, dass Men­schen Din­ge tun, die sie zuvor für unmög­lich hielten.

Eini­ge Beispiele:

  1. Wenn die Kor­rek­turme­cha­nis­men feh­len – Abu Ghraib: Erin­nern Sie sich noch an Abu Ghraib? US-Sol­da­ten hat­ten Gefan­ge­ne auf fürch­ter­li­che Wei­se gefol­tert, und zwar nicht, weil sie „schon immer“ Sadis­ten waren – son­dern weil es, wie Phil­ip Zim­bar­do in sei­ner Ana­ly­se gezeigt hat, kei­ne Instanz gab, die ihnen Ein­halt gebot. Die Eska­la­ti­on geschah schritt­wei­se. Zuerst waren es klei­ne­re Demü­ti­gun­gen, dann här­te­re Maß­nah­men. Ohne kla­re Kon­trol­le wur­de die Gewalt zur Norm. Letzt­lich war es die Struk­tur, wel­che die Grau­sam­keit ermöglichte.
  2. Dik­ta­tur als Zwie­bel­schich­ten-Struk­tur – Das Drit­te Reich: Wenn es um das Drit­te Reich geht, den­ken wir sofort an Hit­ler und an sei­ne unein­ge­schränk­te Macht. Wie inner­lich wider­sprüch­lich das „Füh­rer­prin­zip“ bspw. aus recht­li­cher Sicht war, wird in der Ver­neh­mung des frü­he­ren SS-Anklä­gers Kon­rad Mor­gen im Rah­men des Ausch­witz-Pro­zes­ses deut­lich. Was uns durch die Fokus­sie­rung auf den Dik­ta­tor selbst etwas aus dem Blick gerät, ist die „Zwie­bel­struk­tur“ der NS-Herr­schaft. Die Natio­nal­so­zia­lis­ten schu­fen einen Siche­rungs­ap­pa­rat aus immer neu­en Orga­ni­sa­tio­nen (die „Zwie­bel­schich­ten“), die den Wil­len Hit­lers umset­zen soll­ten, unter­ein­an­der zum Teil stark kon­kur­rier­ten, aber ein qua­si von innen nach­wach­sen­des, mit der Zeit immer sta­bi­le­res Boll­werk schu­fen. Jeder, der sich wider­setz­te, gefähr­de­te sich selbst, wäh­rend sich das Sys­tem immer wei­ter sta­bi­li­sier­te. Vie­le Men­schen waren zunächst nicht „böse“ – sie han­del­ten nach einer neu­en, zwin­gen­den Logik.
  3. Die ent­fes­sel­te Mas­se – das Bei­spiel Ruan­da: Manch­mal braucht es kei­nen Dik­ta­tor und kei­nen Appa­rat, son­dern nur eine ent­fes­sel­te Men­ge. In Ruan­da reich­ten ein paar Mona­te Hass­pro­pa­gan­da im Radio, um aus Nach­barn Mör­der zu machen. Die Gewalt war weni­ger von lan­ger Hand geplant, son­dern „brach“ eher aus einer sich hoch­schau­keln­den Dyna­mik her­vor. Die Logik hat­te sich ver­än­dert: Plötz­lich war Töten nicht mehr Mord, son­dern Verteidigung.
  4. Wie es zum Bür­ger­krieg kommt – das Bei­spiel Bos­ni­en: Ein Bür­ger­krieg beginnt nicht mit einer Ent­schei­dung, son­dern mit einer schlei­chen­den Ver­än­de­rung. Es begann auf den Stra­ßen und in den Fuß­ball­sta­di­en: Natio­na­lis­ti­sche Hym­nen wur­den popu­lä­rer. Der Name, der Glau­be oder das, was man „Eth­nie“ nennt, wur­den immer wich­ti­ger. Dann wur­de jemand erschos­sen. Die Zei­tun­gen berich­te­ten. Jede Sei­te inter­pre­tier­te es anders. Dann starb jemand bei einem Unfall. War es ein Unfall? Gerüch­te ver­brei­te­ten sich. Ein paar Näch­te spä­ter fiel ein Schuss in der Nach­bar­schaft. Nie­mand wuss­te, wer geschos­sen hat, aber alle hat­ten Angst. Ein Mann fand sei­ne Tie­re tot im Stall. Die Poli­zei kam noch – aber nicht mehr voll­zäh­lig, man­che Poli­zis­ten fehl­ten. Dann brann­te ein Haus. Die Feu­er­wehr kam noch, aber die Poli­zei blieb weg, trotz mehr­fa­cher Anru­fe. Es begann schlei­chend. Zuerst funk­tio­nier­te noch alles, spä­ter nicht mehr so rich­tig, dann gar nicht mehr. Irgend­wann gab es kei­ne Regeln mehr.

Wir neh­men uns als Indi­vi­du­en wahr. Aber wenn der gro­ße Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­ons­zu­sam­men­hang umkippt, zählt das Indi­vi­du­el­le nicht mehr. Als Ein­zel­ne kön­nen wir uns nicht aus dem Stru­del befrei­en. Wir neh­men uns als Ein­zel­ne wahr – aber nur, solan­ge das Sys­tem intakt ist. Des­halb müs­sen wir die frü­hen Signa­le erken­nen — den Moment, bevor sich die Logik ändert. Denn wenn der Punkt über­schrit­ten ist, wenn Gewalt oder Cha­os zur neu­en Nor­ma­li­tät wer­den – dann gibt es kein Zurück. Dann zählt nur noch das gro­ße Gan­ze. Und das gro­ße Gan­ze ist erbar­mungs­los und anonym.

Wenn das, was wir für unser Selbst hal­ten, nur eine Spie­ge­lung sozia­ler Inter­ak­ti­on ist – wie kön­nen wir dann „frei“ sein? Gibt es über­haupt eine Mög­lich­keit, sich der hier beschrie­be­nen Dyna­mik zu entziehen?

Viel­leicht lau­tet die Fra­ge gar nicht, ob wir der Dyna­mik ent­kom­men kön­nen, son­dern ob wir erken­nen, wann sie sich beschleu­nigt, wann droht, dass sich die Logik ändert — denn wenn sie es tut, dann ist es oft schon zu spät.

Kön­nen wir inne­hal­ten und das über­haupt wahr­neh­men? Refle­xi­on allein bie­tet kei­nen Aus­weg, aber einen Anfang. Solan­ge wir den­ken kön­nen, bleibt ein Rest Hand­lungs­fä­hig­keit. Doch die Geschich­te zeigt: Den­ken allein genügt nicht. Es braucht auch den Mut, etwas zu tun, bevor die Maschi­ne rollt.

Doch was pas­siert, wenn die han­deln­den Per­so­nen auf allen betei­lig­ten Sei­ten mei­nen, dass sie es sind, die die Sache „ret­ten“?

Vie­le Men­schen, die sich selbst als „pro­gres­siv“ ein­schät­zen wür­den, neh­men an, dass sich unse­re Gesell­schaft wei­ter­ent­wi­ckelt – offe­ner, tole­ran­ter, fort­schritt­li­cher wird. Die­sen Men­schen gegen­über ste­hen ande­re, die mei­nen, dass es heu­te, trotz aller sicht­ba­ren Zei­chen indi­vi­du­el­ler Frei­heit, gar nicht so tole­rant zugeht, im Gegenteil.

So lan­ge es unfrei zugeht, wünscht man sich mehr Frei­heit. Hat man die Frei­heit, merkt man das viel­leicht gar nicht so sehr. Viel­leicht ist „funk­tio­nie­ren­de Tole­ranz“ auch etwas viel zugleich Anony­me­res und Fra­gi­le­res, als sich das vie­le von uns heu­te vor­stel­len. Hat es denn, so könn­te man skep­tisch, viel­leicht auch etwas pes­si­mis­tisch, mei­nen, wirk­lich etwas mit Frei­heit und Tole­ranz zu tun, wenn man in den sozia­len Net­zen unter stän­di­ger Beob­ach­tung für jedes Wort, jede Ges­te oder jede Über­zeu­gung steht, und wenn jeder dort geäu­ßer­te Gedan­ke Gefahr läuft, im Zuge einer algo­rith­misch ver­stärk­ten Rück­kopp­lungs­schlei­fe mora­lisch „gewo­gen“ zu wer­den — und man für jedes „Ver­ge­hen“ kate­go­ri­siert, eti­ket­tiert und ver­ur­teilt wer­den kann?

Die Indi­vi­dua­li­sie­rung hat zu einem Para­do­xon geführt: Wäh­rend theo­re­tisch jeder „ganz er selbst“ sein kann, exis­tiert gleich­zei­tig in unse­rer heu­ti­gen Ver­si­on einer frei­en Gesell­schaft ein Druck, bestimm­ten (ideo­lo­gi­schen) Erwar­tun­gen zu entsprechen.

Ins­be­son­de­re das pro­gres­si­ve Lager ver­langt, dass wir nicht nur die tat­säch­li­chen, son­dern auch die poten­zi­el­len Iden­ti­tä­ten ande­rer Men­schen tole­rie­ren und kom­mu­ni­ka­tiv berück­sich­ti­gen, im Zwei­fels­fall noch bevor die­se Iden­ti­tä­ten über­haupt bekannt sind. Die Erwar­tung ist nicht mehr nur, dass man ande­re nicht ver­letzt, son­dern dass man Spra­che und Ver­hal­ten pro­ak­tiv so gestal­tet, dass mög­li­che Ver­let­zun­gen gleich­sam vor­beu­gend ver­mie­den werden.

Die­ser Impuls, der aus einem Gedan­ken der Inklu­si­on her­aus ent­stand, schafft eine Atmo­sphä­re per­ma­nen­ter Selbst­zen­sur und Unsi­cher­heit. Doch er steht nicht allein.

Als Reak­ti­on auf die­sen „Hyper­pro­gres­si­vis­mus“ ist eine star­ke kon­ser­va­ti­ve Gegen­be­we­gung ent­stan­den – eine, die nicht nur wider­ste­hen, son­dern die kul­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen der letz­ten Jahr­zehn­te rück­gän­gig machen will. Ihr Ziel ist kei­ne Balan­ce, son­dern eine Restau­ra­ti­on – eine Rück­kehr in eine Zeit, in der sozia­le Rol­len kla­rer defi­niert, Nor­men durch­ge­setzt und Abwei­chun­gen ein­ge­dämmt wurden.

Die eigent­li­che Gefahr liegt dar­in, dass kei­ne der bei­den Sei­ten ihre eige­nen Exzes­se erkennt. Die pro­gres­si­ve Bewe­gung geht davon aus, dass ihre ver­meint­li­che mora­li­sche Über­le­gen­heit bestimm­te For­men sozia­len Zwangs (bspw. can­cel cul­tu­re) recht­fer­tigt, wäh­rend die kon­ser­va­ti­ve Gegen­be­we­gung sich als not­wen­di­ge Kor­rek­tur begreift und dabei oft jene Miss­stän­de igno­riert, die pro­gres­si­ve Bewe­gun­gen über­haupt erst her­vor­ge­bracht haben. In ihrem Kampf ris­kie­ren sie, das fra­gi­le gesell­schaft­li­che Gefü­ge zu zer­rei­ßen, das ein Zusam­men­le­ben ermöglicht.

Der Zer­fall des gemein­sa­men Fundaments

Es wäre ein Feh­ler zu glau­ben, dies sei ein­fach eine Fra­ge von „links gegen rechts“ oder „Wan­del gegen Tra­di­ti­on“. Das tie­fe­re Pro­blem ist der Ver­lust einer gemein­sa­men Grund­la­ge – eines Raums, in dem kon­kur­rie­ren­de Ansich­ten ver­han­delt wer­den und neben­ein­an­der exis­tie­ren können.

Frü­her konn­te man sich mit Kol­le­gen, Nach­barn oder Freun­den strei­ten, ohne sozia­le Äch­tung befürch­ten zu müs­sen. Heu­te jedoch haben Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten – beson­ders bei The­men wie Iden­ti­tät, Kul­tur und Moral – ein ande­res Gewicht. Sie gel­ten nicht mehr als Per­spek­tiv­un­ter­schie­de, son­dern als mora­li­sche Verfehlungen.

Die­se Ver­schie­bung wur­de durch Tech­no­lo­gie beschleu­nigt. Sozia­le Medi­en haben nicht nur Spal­tun­gen ver­stärkt, son­dern eine neue Form des öffent­li­chen Raums geschaf­fen – einen, in dem jede Äuße­rung, jede Mei­nung, jeder Feh­ler archi­viert, bewer­tet und ent­we­der belohnt oder bestraft wird. Es gibt kaum Platz für Ambi­va­lenz, kaum Tole­ranz für unfer­ti­ge Gedan­ken oder sich ent­wi­ckeln­de Über­zeu­gun­gen. Alles erscheint unmit­tel­bar und abso­lut. Die Zeit­li­nie ver­dampft zum Moment — wir jagen uns gegen­sei­tig von Moment zu Moment. Im Extrem­fall steht immer gleich „alles“ auf dem Spiel.

Das bedeu­tet nicht, dass die Ver­gan­gen­heit „tole­ran­ter“ war. Mar­gi­na­li­sier­te Grup­pen wur­den oft unter­drückt, vie­le Stim­men blie­ben unge­hört. Doch was die­sen Umstand ersetzt hat, ist nicht unbe­dingt bes­ser. Die Sum­me der Pro­ble­me bleibt gleich.

Statt eines Dia­logs erle­ben wir heu­te ideo­lo­gi­schen Tri­ba­lis­mus, in dem Men­schen nicht mehr aus Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten ler­nen, son­dern ver­su­chen, abwei­chen­de Mei­nun­gen zu eliminieren.

Wenn die Geschich­te uns etwas lehrt, dann, dass Gesell­schaf­ten nicht über Nacht zer­fal­len. Sie ero­die­ren lang­sam. Sie errei­chen Kipp­punk­te – Momen­te, in denen sich die unter­schwel­li­gen Span­nun­gen, die sich über Jah­re auf­ge­baut haben, plötz­lich entladen.

Eine Gesell­schaft zer­fällt nicht, weil die Men­schen ein­zeln „radi­kal“ wer­den. Sie zer­fällt, weil die Struk­tu­ren, die einst wider­strei­ten­de Inter­es­sen in Balan­ce hiel­ten, zusam­men­bre­chen. Wenn sich pro­gres­si­ve und kon­ser­va­ti­ve Extre­me wei­ter radi­ka­li­sie­ren, wenn der gemein­sa­me Boden wei­ter ero­diert – was geschieht dann?

Stel­len wir uns eine Gesell­schaft vor, in der die Span­nun­gen ihren Höhe­punkt erreicht haben. Wenn das alte Gerüst ero­diert und nichts Sta­bi­les an sei­ne Stel­le tritt, zer­fällt die Gesell­schaft in Fraktionen.

Wir sehen uns als Indi­vi­du­en, aber wir exis­tie­ren in einem Netz von­ein­an­der abhän­gi­ger Hand­lun­gen. Was wir sagen, tun oder glau­ben, wird durch die kol­lek­ti­ven Struk­tu­ren um uns her­um geformt. Und doch sind die­se Struk­tu­ren nicht unzerstörbar.

Wenn die extre­men Pole wei­ter­hin die Bedin­gun­gen dik­tie­ren, wenn wir ideo­lo­gi­sche Rein­heits­prü­fun­gen über ech­ten Dia­log stel­len, dann trei­ben wir wei­ter in Rich­tung Spaltung.

Die eigent­li­che Fra­ge ist: Kön­nen wir noch umkeh­ren? Kön­nen wir uns eini­gen, wei­ter­hin gemein­sam auf unser Gemein­we­sen ein­zu­zah­len? Oder wer­den wir lang­sam, aber sicher hand­lungs­un­fä­hig? Und ist das nicht genau der Zustand, in dem uns man­che Macht­ha­ber sehen wollen?

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.