Wenn der Hamster Geburtstag hat: Narzisstisch motivierter Anspruchsradikalismus als wachsende Herausforderung für Führungskräfte

Ange­sichts der aktu­el­len gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen steht zu erwar­ten, dass der Anteil nar­ziss­tisch gepräg­ter Per­sön­lich­kei­ten in den Beleg­schaf­ten steigt. Mit die­sem Bei­trag wird ver­sucht, die­se Ent­wick­lun­gen zu beschrei­ben und Ant­wor­ten auf die Fra­ge zu geben, wie Füh­rungs­kräf­te mit die­ser Ent­wick­lung umge­hen kön­nen. Die Ant­wor­ten wer­den vie­len Lese­rin­nen und Lesern womög­lich zu vage blei­ben. Es sei des­halb ange­merkt, dass es sich bei dem Text um eine ers­te, stel­len­wei­se „spit­ze“ und hier und da auch „augen­zwin­kern­de“ Annä­he­rung han­delt. Zudem könn­te es sein, dass sich man­che Lese­rin­nen oder Leser an dem ggf. zu unkri­ti­schen Ton stö­ren, mit dem der Umgang mit einem wach­sen­den Anteil nar­ziss­tisch gepräg­ter Per­sön­lich­kei­ten in den Beleg­schaf­ten beschrie­ben wird. Der Text folgt der Annah­me, dass nar­ziss­ti­sche Ver­hal­tens­wei­sen nicht durch Benen­nen oder gar Anpran­gern ver­schwin­den, im Gegen­teil. Und wenn, wie hier dar­ge­legt wird, wäh­rend Nar­ziss­mus stän­dig und auf brei­ter Front kri­tisch betrach­tet wird, der Nar­ziss­mus-Index der gesam­ten Gesell­schaft unbe­merkt steigt, dann kann man zwar in die all­ge­mein ver­nehm­ba­re Kri­tik ein­stim­men, behält das Pro­blem des kon­kre­ten Umgangs aber trotz­dem auf der Agen­da. Also erscheint die Fra­ge nach dem funk­tio­nie­ren­den prak­ti­schen Umgang hilf­rei­cher, als nur die all­seits bekann­ten Dar­stel­lun­gen der nega­ti­ven Effek­te zu wie­der­ho­len. Ein Risi­ko aller­dings bleibt: Man ist, so gut man auch dar­in sein mag, einen funk­tio­nie­ren­den Umgang zu fin­den, nie vor dem nächs­ten „Blitz“ geschützt. Und nach so und so vie­len sol­chen Blit­zen kann sich der gedul­di­ge Umgang wie Gesichts­ver­lust oder Unter­wer­fung anfüh­len. Keins der hier beschrie­be­nen Hand­lungs­mus­ter hilft in allen Fäl­len, und kei­nes hilft für immer. Manch­mal ist es sogar wirk­sam, einen geziel­ten „Kon­ter­blitz“ los­zu­las­sen. Man­che Leu­te neh­men einen erst ernst, wenn man ihnen bewie­sen hat, dass man es auch „blit­zen“ las­sen kann.

Trauma und Narzissmus

Nar­ziss­mus ist, von der Ursa­che her betrach­tet, kein Cha­rak­ter­feh­ler, son­dern eine Über­le­bens­stra­te­gie, und zwar eine, die sich früh bil­det. Ein Kind erlebt Situa­tio­nen, die es über­for­dern. Man kann sich das etwa so vorstellen:

  • Ent­we­der war es in der frü­hen Kind­heit zu kalt, zu distan­ziert — es kann auch in der spä­te­ren Kind­heit zu gewalt­sam zuge­gan­gen sein; ein Kind kann sei­ne Eltern ja nicht nicht lie­ben, es geht immer wie­der hin, auch wenn es Gewalt­er­fah­run­gen machen muss.
  • Oder es war viel zu viel Lie­be, Umar­mung, Behü­tung — aber nicht wegen des Kin­des, son­dern weil ande­re den­ken soll­ten, dass man alles rich­tig macht, die bes­te Mama der Welt ist — und weil das Kind genau das spä­ter auch bestä­ti­gen soll, oft sogar muss.

Die Fol­ge ist in bei­den Sze­na­ri­en (ver­nach­läs­si­gen­de Käl­te vs. mani­pu­la­ti­ve Über­be­hü­tung) die glei­che: das Kind zieht sich zurück. Nicht äußer­lich, son­dern inner­lich. Es nimmt die Ver­bin­dung zu sei­nen Gefüh­len gleich­sam „vom Netz“. Das ist ein Selbst­schutz, der zunächst über­le­bens­wich­tig ist – und spä­ter zer­stö­re­risch wir­ken kann.

Ein Trau­ma ist kein Ereig­nis. Es ist eine Reak­ti­on. Das Ereig­nis ist das, was die Reak­ti­on aus­löst. Es kann ein sin­gu­lä­res Ereig­nis sein oder etwas, das man „lang­an­hal­ten­des Grau­en“ nen­nen könn­te. Ein klei­nes Kind kann nicht flie­hen, so etwas wür­de einem Kind kaum ein­fal­len, und wer als Kind nicht flie­hen kann, muss inner­lich ver­schwin­den. In die­sem Rück­zug liegt die Saat des Narzissmus.

Ein nar­ziss­tisch gepräg­ter Mensch hat das Füh­len ver­lernt, weil zu füh­len irgend­wann ein­mal zu schreck­lich war. Er hat gelernt, sich selbst zu beob­ach­ten, statt sich selbst zu spü­ren. Er hat sich ein Ersatz-Selbst­bild gebaut, das er ver­tei­digt, weil das ech­te Selbst zu ver­letz­lich ist.

Sol­che Men­schen wir­ken stark, erfolg­reich, oft char­mant. Aber innen… füh­len sie sich leer. Innen sitzt ein klei­ner Mensch mit sie­ben Hüten in einem Kris­tall­pa­last. Hüte mit Auf­schrif­ten wie: „Ich bin beson­ders“, „Ich bin uner­setz­lich“, „Ich bin die bes­te Mut­ter“, „Ich bin die Klügs­te“, „Ich habe die schöns­te Freun­din“, „Ich bin der hilf­reichs­te Sozi­al­ar­bei­ter“, „Ich habe die meis­te Erfah­rung“ o.ä. Aber kei­ner die­ser Hüte wärmt. Kei­ner schützt. Die Hüte (oder: Mas­ken, Män­tel, Ersatz-Selbst­bil­der) ver­de­cken nur den Schmerz.

Außen steht der erfolg­rei­che, lie­bens­wer­te, char­man­te, bewun­derns­wer­te, über­aus enga­gier­te usw. Mensch und bewacht sei­nen Kris­tall­pa­last — und belegt jede und jeden mit „pro­phy­lak­ti­schen Eska­la­tio­nen“, die oder der dem hüb­schen, aber eben fra­gi­len Palast gefähr­lich wer­den könn­te. Nahe kom­men geht nur, wenn sich das Gegen­über blen­den lässt — oder den Ein­druck der Blen­dung glaub­haft auf­recht erhält. Wenn man so nah kom­men darf, dass man hin­ein­ge­las­sen wird, wird man durch die Gale­rie mit den „sie­ben Hüten“ geführt. Nur in das eine Zim­mer dort hin­ten in der Ecke, dort darf man nicht hin­ein. Und wehe, man ver­sucht, den­noch hineinzublicken.

Nar­ziss­ti­sches Ver­hal­ten ist des­halb oft kühl, berech­nend, schnell wech­selnd. Weil es nicht ums Gegen­über geht, son­dern um Selbst­schutz. Ein Nar­zisst kann sich tren­nen, ohne zu füh­len. Eine Nar­zis­stin kann ohne Bin­dung lie­ben. Sie kann ohne Nähe hel­fen. Aber was wie Sou­ve­rä­ni­tät aus­sieht, ist in Wahr­heit ein ver­zwei­fel­ter Ver­such, nicht noch ein­mal so zu füh­len wie damals, son­dern statt­des­sen „ersatz­wei­se“ zu fühlen.

Es hilft, wenn man ver­steht, dass hin­ter dem Stolz oft Scham liegt. Hin­ter dem Zorn: Angst. Und hin­ter der Käl­te: ein altes Zittern.

Der Ursprung liegt wie gesagt in der Kind­heit, in der Ver­nach­läs­si­gung oder in der Über­be­hü­tung — in der for­dern­den Lie­be einer Mut­ter, die das Kind braucht, um sich selbst zu bestä­ti­gen, oder im emo­ti­ons­lo­sen Funk­ti­ons­mo­dus eines Vaters, der zwar alles gibt – außer sich selbst. In bei­den Fäl­len bleibt das Kind gewis­ser­ma­ßen allein. Und aus die­sem Allein­sein her­aus wird ein Ersatz-Selbst­bild kon­stru­iert, das ande­re braucht, um sich real anzufühlen.

Die narzisstische Gesellschaft

Soweit ein kur­zer Ein­blick in die Ent­ste­hung von Nar­ziss­mus und die Rea­li­tät, in der nar­ziss­tisch gepräg­te Men­schen leben. Sol­ches Wis­sen hat dazu geführt, dass wir heu­te vie­le Men­schen kri­tisch als „nar­ziss­tisch“ beschrei­ben — manch­mal mag das zutref­fen, aber manch­mal wird es sich dabei auch um eine aus Selbst­schutz oder Eigen­nutz her­aus for­mu­lier­te „küchen­psy­cho­lo­gi­sche“ Zuschrei­bung oder um eine schlich­te „Fern­dia­gno­se“ han­deln. „Nar­zisst“ wird dann zum (häu­fig gebrauch­ten) Schimpf­wort — für nar­ziss­ti­sche Chefs, nar­ziss­ti­sche Ex-Part­ner usw. Manch­mal wird der Begriff auch gezielt mani­pu­la­tiv ver­wen­det: Man kri­ti­siert qua­si Mani­pu­la­ti­on, um von den eige­nen Mani­pu­la­tio­nen abzulenken.

Aber wenn es nur das wäre: Wäh­rend Nar­ziss­mus oft kri­ti­siert wird, wird die Gesell­schaft ins­ge­samt nar­ziss­ti­scher. Es han­delt sich um eine para­do­xe Ent­wick­lung: Auf der einen Sei­te die öffent­li­che Kri­tik, auf der ande­ren Sei­te das stil­le Ein­üben nar­ziss­ti­scher Mus­ter im All­tag – in Fami­li­en, Schu­len, Institutionen.

Die Haupt­ur­sa­che für jenes „stil­le Ein­üben nar­ziss­ti­scher Mus­ter im All­tag“ ist wahr­schein­lich dar­in zu suchen, dass wir die Erzie­hung „umge­dreht“ haben, dass sich heu­er vie­le Eltern ihren Kin­dern unter­wer­fen, und sich in der Fol­ge auch Schu­len und Insti­tu­tio­nen zuneh­mend den wach­sen­den indi­vi­du­el­len Ansprü­chen unterwerfen.

Zuge­spitzt for­mu­liert: Frü­her bestimm­te die Welt der Erwach­se­nen die Erzie­hung. Heu­te dreht sich die Welt um das Kind. Frü­her bedeu­te­te Erzie­hung unter ande­rem: ler­nen zu war­ten. Heu­te bedeu­tet sie oft: sofort bekom­men. Aus dem Wunsch des Kin­des wird ein Recht. Und aus dem Recht ein Anspruch.

Um nicht falsch ver­stan­den zu wer­den: Wenn man Kin­der­schutz als Abwe­sen­heit von Gewalt, Ver­nach­läs­si­gung, Unter­drü­ckung und Her­ab­set­zung begreift, und wenn Chan­cen­gleich­heit die zen­tra­le Ori­en­tie­rungs­grö­ße bil­det, ist dem unse­res Erach­tens nur zuzu­stim­men. Aber wenn Kin­der­rech­te so über­trie­ben wer­den, dass Kin­der Ansprü­che haben kön­nen sol­len und Ent­schei­dun­gen tref­fen kön­nen sol­len, zu denen sie kogni­tiv noch gar nicht in der Lage sind, dann han­delt es sich wahr­schein­lich um Ideo­lo­gie (kön­nen sol­len) oder Unter­wer­fung (ein­fach nur kön­nen, ohne zu sollen).

In den ein­kom­mens­stär­ke­ren Haus­hal­ten wird ein Kind gleich­sam zum „Pro­jekt“ — man hat ja, wenn über­haupt, in den meis­ten Fäl­len nur noch ein Kind (die Ein-Kind-Ehe ist der sta­tis­tisch häu­figs­te Fall, dann folgt die Kein-Kind-Ehe und dann die Ehen oder Bezie­hun­gen mit zwei oder meh­re­ren Kin­dern). Dann muss aus dem Kind, ver­flixt noch­mal, auch etwas wer­den. Das Pro­blem dabei ist, dass adäqua­te För­de­rung und Erzie­hung oft mit wahl­wei­se Per­fek­tio­nis­mus, Unter­wer­fung aus ideo­lo­gi­schen Grün­den oder schlicht der „Zucker­ka­no­ne“ ver­wech­selt wird.

In ein­kom­mens­schwä­che­ren Haus­hal­ten wird das Kind mit­un­ter zur „letz­ten Hoff­nung auf Zuwen­dung“ — wenn ich mei­nen Selbst­wert nicht aus der Arbeit zie­hen kann, wie dies ande­re Erwach­se­ne tun, dann bin ich nett zu mei­nen Kin­dern und erfül­le ihnen jeden Wunsch, damit ich wenigs­tens ein­mal am Tag das Gefühl habe, dass mich jemand mag. Am Ende einer gewis­sen Dyna­mik haben jün­ge­re Kin­der von mit­un­ter deut­lich unter zehn Jah­ren unli­mi­tier­ten Zugang zu Mobil­te­le­fo­nen — und for­dern sich die­sen immer wie­der ein, bis sie am Ende mit sie­ben oder zehn Jah­ren täg­lich meh­re­re Stun­den am Han­dy ver­brin­gen — und das für die­se Kin­der irgend­wie „selbst­ver­ständ­lich“ wird.

In bei­den Fäl­len fin­det kei­ne wirk­li­che Erzie­hung statt, son­dern eine stil­le Unter­wer­fung der Eltern. Die Auto­ri­tät wird auf­ge­ge­ben — aus Angst, aus Erschöp­fung, aus schlech­tem Gewis­sen, aus ideo­lo­gi­schen Grün­den, und manch­mal auch aus purem Eigennutz.

Damit wächst eine Gene­ra­ti­on her­an, in der eine bestimm­te Prä­gung häu­fi­ger wird — ein Typ, der wenig Frus­tra­ti­on kennt und des­halb auch nicht genug Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz ent­wi­ckeln konn­te, und der des­halb auch wenig Empa­thie besitzt. Empa­thie ent­steht unter ande­rem durch das Erle­ben von Gren­zen. Wer aber kaum war­ten muss­te, kaum ver­zich­ten muss­te, kaum erle­ben muss­te, dass das eige­ne Ich nicht das Zen­trum des Gesche­hens ist, wird spä­ter umso schwe­rer erken­nen, dass da auch ande­re Men­schen sind, die Inter­es­sen haben usw. — und dass die eige­nen Erwar­tun­gen, Bedürf­nis­se und Belan­ge dort enden, wo die Erwar­tun­gen, Bedürf­nis­se und Belan­ge ande­rer Men­schen anfangen.

Die Fol­gen die­ser Ent­wick­lung zei­gen sich über­all: in Schu­len, in Orga­ni­sa­tio­nen, in Insti­tu­tio­nen. Zwei Beispiele:

  • Noten wer­den hin­ter­fragt. Wenn man unge­recht behan­delt wur­de, ist das ja ein gutes Recht, aber wenn die­ses Recht gleich­sam stra­te­gisch zur Ver­bes­se­rung der Note benutzt wird, und wenn Leh­rer an Schu­len und Prü­fungs­aus­schüs­se an Hoch­schu­len auf­ge­ben, kon­se­quent zu sein, weil sie kei­ne Kraft und kei­ne Res­sour­cen für die ent­spre­chen­den Dis­kus­sio­nen mehr haben, dann kippt das Noten­sys­tem, dann machen Noten kei­nen Unter­schied mehr, dann bekom­men irgend­wann fast alle eine Eins.
  • Dienst­plä­ne sol­len sich nicht nur an den Erfor­der­nis­sen der Orga­ni­sa­ti­on ori­en­tie­ren, son­dern es geht dar­um, durch die Fle­xi­bi­li­sie­rung der Arbeits­zei­ten und der Arbeits­zeit­mo­del­le eine bes­se­re Ver­ein­bar­keit von per­sön­li­chen und dienst­li­chen Belan­gen zu ermög­li­chen. Aber was pas­siert, wenn das über­trie­ben wird, und indi­vi­du­el­le Ansprü­chen völ­lig selbst­ver­ständ­lich über die Funk­ti­ons­an­for­de­run­gen der Orga­ni­sa­ti­on gestellt wer­den? Ein, zuge­ge­be­ner­ma­ßen sehr spit­zes und nicht ganz ernst gemein­tes, aber hof­fent­lich umso tref­fen­de­res Bei­spiel: „Das habe ich letz­te Woche in der Team­run­de ver­ges­sen zu sagen: ich brau­che mor­gen frei. Unser Fami­li­en­hams­ter hat Geburts­tag, und mein Sohn wünscht sich, dass wir alle zusam­men mit dem Hams­ter den Geburts­tag fei­ern. Ich muss mor­gen frei haben. Ich habe es mei­nem Sohn ver­spro­chen. … Wenn ich nicht frei bekom­me, muss ich mir über­le­gen, ob ich hier über­haupt arbei­ten kann. Sie ent­schei­den, ob ich hier arbei­ten kann. Ich wür­de gern auch wei­ter­hin hier arbei­ten. Es ist Ihre Entscheidung.“

Aus (berech­tig­tem, ver­ständ­li­chem) Indi­vi­dua­lis­mus wird ganz lang­sam ein sich schlei­chend ver­stär­ken­der „Anspruchs­ra­di­ka­lis­mus“.

Dabei bleibt das (nar­ziss­ti­sche) Bedürf­nis nach Bedeut­sam­keit oft unge­stillt. Es wächst mit­un­ter sogar und sucht sich neue Kanä­le — zum Bei­spiel den Akti­vis­mus. Wer heu­te Teil einer Bewe­gung ist, ist oft auch Teil einer Insze­nie­rung. Nicht immer aus Kal­kül, oft aus Not — und weil „Sinn“ gebraucht wird wie die Luft zum Atmen. Weil glaub­haf­te Zie­le und Inhal­te oft durch bana­les, aber umso wirk­sa­me­res Recht­ha­ben und Mora­li­sie­ren ersetzt wer­den. Aber vor allem, weil sich das (nar­ziss­ti­sche) Ich nur im Spie­gel ande­rer erken­nen kann.

Die Gesell­schaft hat durch die fort­schrei­ten­de Indi­vi­dua­li­sie­rung in gewis­sem Sin­ne die Bin­dung, den sozia­len „Kleb­stoff“, ver­lo­ren und sucht nun Ersatz – in Aner­ken­nung, in Likes, in Zuge­hö­rig­keit zu mora­li­schen Eli­ten. Aber Bin­dung lässt sich nicht ein­fach so her­stel­len. Zustim­mung allein reicht nicht. Es braucht auch Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz, und die bedeu­tet gesell­schaft­lich vor allem das gemein­sa­me Aus­hal­ten von Wider­sprü­chen, Gegen­sätz­lich­kei­ten usw.

Und genau das ver­ler­nen wir gerade.

Wir sind nicht mehr bereit, irgend­was gemein­sam aus­zu­hal­ten. Wir mora­li­sie­ren oder wir sind dage­gen. Wir sind dage­gen, oder wir mora­li­sie­ren. Jede belie­bi­ge Sei­te meint, sie habe Recht, und eine jeweils ande­re Sei­te sei das Übel. Ein per­fek­ter Teu­fels­kreis, des­sen Dyna­mik sich selbst verstärkt.

Wem die­se Dar­stel­lun­gen hier zu knapp und ggf. noch zu unver­ständ­lich sind, die oder der fin­det hier einen län­ge­ren Text über die Zusam­men­hän­ge zwi­schen „Tole­ranz­ak­ti­vis­mus“, Nar­ziss­mus und Dekadenz.

Führen im Zeitalter wachsenden Narzissmus’

Füh­rungs­kräf­te begeg­nen heu­te einer wach­sen­den Zahl von Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern, die schnel­ler „auf­bre­chen“ als „ankom­men“, die sich weni­ger bin­den, die weni­ger „Frust“ oder „Stress“ aus­hal­ten — weil sie gelernt haben, dass sie das nicht müs­sen, und oft genug auch, weil sie das gar nicht mehr wol­len. Nar­ziss­ti­scher wer­den­de Men­schen lei­ten ihr Selbst­wert­ge­fühl stär­ker aus Rück­mel­dun­gen ab als aus inne­rer Sta­bi­li­tät. Bei Kri­tik gehen die­se Men­schen weni­ger in die Refle­xi­on, son­dern eher in die Eskalation.

Das bedeu­tet prak­tisch: Die durch­schnitt­li­che Ver­weil­dau­er in Orga­ni­sa­tio­nen sinkt. Die Irri­ta­ti­ons­po­ten­tia­le neh­men zu. Die Loya­li­tät brö­ckelt. Und gleich­zei­tig stei­gen die Ansprü­che – an Wert­schät­zung, Mit­spra­che, Sinn und vor allem Anpas­sung der Orga­ni­sa­ti­on an indi­vi­du­el­le Ansprüche.

Was bedeu­tet das für Führungskräfte?

Ers­tens: kür­ze­re Pla­nungs­zy­klen. Nar­ziss­tisch gepräg­te Mit­ar­bei­ten­de „ticken“ kurz­fris­ti­ger. Lang­fris­ti­ge Zie­le moti­vie­ren weni­ger als unmit­tel­ba­re Wirk­sam­keit. Füh­rung soll­te das akzep­tie­ren. Gleich­zei­tig darf man nicht alles dem Zeit­geist hin­ter­her­wer­fen. Das ist eine schwie­ri­ge Gratwanderung.

Zwei­tens: höhe­re Bezie­hungs­prä­senz. Wer füh­ren will, muss als rea­ler Mensch spür­bar blei­ben. Nicht als Rol­le, nicht als Funk­ti­on, son­dern als ech­tes Gegen­über. Füh­rung bedeu­tet heu­te, auch emo­tio­na­le „Con­tai­ner­funk­tio­nen“ zu über­neh­men. Man bekommt stär­ke­re Eska­la­tio­nen ab, ohne dass man selbst eska­lie­rend ant­wor­ten darf. Man ist als Füh­rungs­kraft gleich­sam zum Ver­ständ­nis, zur Geduld und zum „klü­ger Sein“ ver­ur­teilt — denn sonst ren­nen die (nar­ziss­ti­schen) Mit­ar­bei­ter ggf. weg, bevor sie ler­nen konn­ten, was ihre Eska­la­tio­nen tat­säch­lich bedeuten.

Drit­tens: Klar­heit und Gren­zen. Nar­ziss­ten tes­ten Sys­te­me — nicht aus Bos­heit, son­dern weil ihnen ein inne­rer (empa­thi­scher) Kom­pass fehlt. Wer sich selbst nicht spürt, spürt ande­re noch weni­ger. Gren­zen geben Halt. Nicht durch Här­te, son­dern durch Verlässlichkeit.

Vier­tens: Refle­xi­on statt Reak­ti­on. Wer sich von der Emo­tio­na­li­tät nar­ziss­ti­scher Krän­kun­gen anste­cken lässt, ver­liert die Füh­rung. Wer sie ver­steht und ange­mes­sen reagiert, bleibt handlungsfähig.

Denn die Nar­zis­stin oder der Nar­zisst lebt mit einem tie­fen Gefühl stän­di­ger Bedro­hung: Kri­tik wird zunächst nicht als Impuls zur Ent­wick­lung ver­stan­den, son­dern als Angriff auf die Exis­tenz. Und aus die­ser Bedro­hung her­aus ent­steht oft die plötz­li­che Eska­la­ti­on – der Vor­wurf, der Rück­zug, die Kündigungsdrohung.

Füh­rung heißt dann: nicht mit Eska­la­ti­on auf Eska­la­ti­on reagie­ren. Son­dern den Raum und die Bezie­hung offen hal­ten und auf wert­schät­zen­de Wei­se Struk­tur bie­ten, um aus Kri­tik tat­säch­lich Ent­wick­lung wer­den zu las­sen. Ver­trau­en allein reicht nicht, denn Nar­ziss­ten wis­sen unter Druck nichts mehr von Ver­trau­en, son­dern nur noch etwas von Bedro­hung. Füh­rung bedeu­tet hier, das (nar­ziss­ti­sche) Gegen­über „gleich­sam ins Ver­trau­en zurückzucoachen“.

Und fünf­tens: Akzep­tanz für das, was ist. Nicht jede Orga­ni­sa­ti­on wird alle Mit­ar­bei­ten­den lang­fris­tig hal­ten kön­nen. Aber sie kann Räu­me schaf­fen, in denen Bin­dung mög­lich wird – auch wenn sie nicht garan­tiert ist.

Das bedeu­tet, sich an eine ins­ge­samt stär­ke­re Fluk­tua­ti­on zu gewöh­nen und die Ein­ar­bei­tung als per­ma­nen­ten Pro­zess zu betrach­ten — und die­sen Pro­zess kon­ti­nu­ier­lich zu verbessern.

Denn das ist die zen­tra­le Her­aus­for­de­rung ange­sichts wach­sen­den Nar­ziss­mus’ in der Gesell­schaft: Auch Men­schen zu hal­ten, die kaum gelernt haben zu blei­ben, bzw. die nur blei­ben, wenn sie sich sicher füh­len; sie wer­den sich aus sich selbst her­aus aber nicht sicher füh­len, sie kön­nen das nur lang­sam, sehr lang­sam ler­nen, und dafür braucht es eine eben­so klu­ge wie gedul­di­ge Füh­rung, die (1) nicht „mit­eska­liert“ und (2) klü­ger han­delt, indem sie Rück­halt trotz Eska­la­ti­on und Dro­hung signalisiert.

Jörg Hei­dig

PS: Das Bei­trags­bild wur­de mit­hil­fe künst­li­cher Intel­li­genz erstellt.

Nach­wort

Wie ein­gangs bereits ange­merkt, könn­ten die hier vor­ge­schla­ge­nen Hal­tun­gen und Vor­ge­hens­wei­sen eini­gen Lese­rin­nen und Lesern als zu unkri­tisch und zu akzep­tie­rend gegen­über nar­ziss­ti­schen Ver­hal­tens­wei­sen erschei­nen. Aber wenn, wie hof­fent­lich nach­voll­zieh­bar dar­ge­stellt wur­de, der Anteil nar­ziss­ti­scher Ver­hal­tens­wei­sen ins­ge­samt steigt, dann ist inner­halb von Orga­ni­sa­tio­nen nach unse­rem Dafür­hal­ten eher die Fra­ge nach einem funk­tio­nie­ren­den Umgang zu stel­len. Denn in Orga­ni­sa­tio­nen geht es dar­um, die Struk­tu­ren und Vor­ge­hens­wei­sen so zu gestal­ten, dass ein gemeinsames/kooperatives Ein­zah­len auf den Orga­ni­sa­ti­ons­zweck mög­lich wird. Die Eigen­hei­ten und Belan­ge ein­zel­ner Per­so­nen spie­len dabei auch eine Rol­le, aber eben eine peri­phe­re. Es geht also nicht um Nar­ziss­mus oder Kri­tik an nar­ziss­ti­schen Hand­lungs­mus­tern, son­dern es geht um einen mög­lichst funk­tio­na­len Umgang mit Nar­ziss­mus in Orga­ni­sa­tio­nen. Und das ist die Auf­ga­be von Führungskräften.

Es kann natür­lich pas­sie­ren, dass man des gedul­dig Seins, immer wie­der Pro­bie­rens und immer wie­der zurück ins Ver­trau­en Coa­chens müde wird, oder dass sich sol­che Vor­ge­hens­wei­sen irgend­wann wie Gesichts­ver­lust oder Unter­wer­fung anfüh­len. Kei­ne der hier vor­ge­schla­ge­nen Hal­tun­gen oder Vor­ge­hens­wei­sen funk­tio­niert in jedem Fall oder für immer. Natür­lich kommt man an Grenzen.

Eine letz­te, hier nicht beleuch­te­te Vari­an­te ist die des „den sprich­wört­li­chen Spieß Her­um­dre­hens“: Man eska­liert eben­falls, man stellt sei­ner­seits fina­le Kon­se­quen­zen in Aus­sicht. Das kann natür­lich schief­ge­hen, aber oft genug geht es nicht schief, son­dern oft genug ist genau das ein Zei­chen für das (nar­ziss­ti­sche) Gegen­über, dass nun „Schluss mit lus­tig“ ist, was oft genug dazu führt, dass man ernst genom­men wird. 

Man betritt also die Welt eines Men­schen, der mit einem bestän­di­gen Bedro­hungs­ge­fühl lebt und unter Druck mit­un­ter stark dro­hen­de For­mu­lie­run­gen wählt, sei­ner­seits mit einer Dro­hung. Auch das kann eine Spra­che sein, die ein (nar­ziss­ti­sches) Gegen­über ver­steht. Manch­mal ist es sogar die ein­zi­ge Spra­che, die ein nar­ziss­ti­sches Gegen­über ver­steht. Man muss vor­her aber eine Kon­se­quenz­ana­ly­se durch­füh­ren und über­le­gen, ob das wirk­lich die letz­te Kar­te ist, die man spie­len kann, bzw. ob man den Preis bezah­len möch­te und kann, der anfällt, falls das nicht klappt. Oft genug funk­tio­niert das, aber es kann eben auch schief­ge­hen — und wenn es schief­geht, ist nach­her alles kaputt. Damit muss man dann leben (kön­nen).

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.