Wenn Organisationen sterben

Seit zwei, drei Jah­ren häuft sich im Auf­trags­buch eine spe­zi­el­le Art von Mode­ra­ti­ons­auf­trä­gen. Es han­delt sich um Stra­te­gie­sit­zun­gen, bei denen es um die Exis­tenz der jewei­li­gen Orga­ni­sa­ti­on geht. Die zen­tra­len Fra­gen lau­ten: Schafft man den Weg aus der Kri­se? Mit wel­chen Inhal­ten – und vor allem: mit wel­chen Per­so­nen – wäre ein Neu­start zu schaf­fen? Oder soll man die Orga­ni­sa­ti­on lie­ber abwickeln?

Doch so klar sind die Fra­gen zunächst in kaum einem Fall. Die Mode­ra­ti­ons- oder Pro­zess­be­glei­tungs­auf­trä­ge wer­den in der Regel von Per­so­nen aus­ge­löst, die sich der exis­ten­ti­el­len Situa­ti­on bewusst sind, und für die das Ende der Orga­ni­sa­ti­on durch­aus eine denk­ba­re Opti­on dar­stellt. Doch an das Ende der Orga­ni­sa­ti­on über­haupt zu den­ken, fällt vie­len Betei­lig­ten schwer. Für eini­ge ist es gar tabu. Nun machen es Kri­sen­si­tua­tio­nen aber not­wen­dig, die Betei­lig­ten zusam­men­zu­brin­gen. Die Alter­na­ti­ve wäre, den sprich­wört­li­chen „Kopf in den Sand“ zu ste­cken, was die Situa­ti­on in den aller­meis­ten Fäl­len wei­ter ver­schlech­tert und dazu führt, dass die Betei­lig­ten der Orga­ni­sa­ti­on bei ihrem lang­sa­men Ende zuse­hen. Es scheint also bes­ser, die Lage offen zu bespre­chen, ggf. das Ende bewusst ein­zu­lei­ten und in gewis­ser Wei­se auch zu zele­brie­ren. Den­je­ni­gen, die bis dato für die Orga­ni­sa­ti­on gear­bei­tet (und oft genug auch: gelebt) haben, fällt das reich­lich schwer, und das ist nur all­zu ver­ständ­lich. Beleh­run­gen über Not­wen­dig­kei­ten oder Dis­kus­sio­nen hel­fen dabei wenig; ein lang­sa­mer Frage‑, Erzähl- und Erkennt­nis­pro­zess über eini­ge Mona­te hin­weg erweist sich als das geeig­ne­te­re Instru­ment. Die Erkennt­nis, dass es eine Opti­on ist (was immer impli­ziert, dass es auch ande­re Mög­lich­kei­ten gibt), die Tore zu schlie­ßen, wächst erst lang­sam. Nach unse­ren Erfah­run­gen durch­läuft ein sol­cher Pro­zess eini­ge cha­rak­te­ris­ti­sche Pha­sen, die einem Trau­er­pro­zess oder dem in der Chan­ge-Lite­ra­tur viel bespro­che­nen „Tal der Trä­nen“ nicht unähn­lich ist.

Tal der Tränen
Ver­än­de­rungs­pro­zes­se als “Tal der Trä­nen” (Abbil­dung: Julia­ne Wed­lich; Quel­le: Hei­dig et al. (2012): Pro­zess­psy­cho­lo­gie. Köln: EHP) dar­zu­stel­len, ist eine der gän­gigs­ten Modell­va­ri­an­ten. In den letz­ten Jahr­zehn­ten sind sol­che eher linea­ren Vor­stel­lun­gen in die Kri­tik gera­ten und zu eher kreis- oder spi­ral­för­mi­gen Model­len erwei­tert wor­den, um der oft pos­tu­lier­ten Dau­er­haf­tig­keit oder Ste­tig­keit von Ver­än­de­rungs­pro­zes­sen Rech­nung zu tragen.
Durch die Einordnung des linearen Phasenmodells der Veränderung in ein Koordinatensystem zwischen "Einvernehmen in der Organisation" und "Innovation" ermöglichen Leão & Hofmann (2009: Fit for Change II. Bonn: managerSeminare, S. 17) eine kreis- oder spiralförmige Modellvorstellung von Veränderungsprozessen.
Durch die Ein­ord­nung des linea­ren Pha­sen­mo­dells der Ver­än­de­rung in ein Koor­di­na­ten­sys­tem zwi­schen “Ein­ver­neh­men in der Orga­ni­sa­ti­on” und “Inno­va­ti­on” ermög­li­chen Leão & Hof­mann (2009: Fit for Chan­ge II. Bonn: mana­ger­Se­mi­na­re, S. 17) eine kreis- oder spi­ral­för­mi­ge Modell­vor­stel­lung von Ver­än­de­rungs­pro­zes­sen. (Abbil­dung: eige­ne Dar­stel­lung in Anleh­nung an die Abbil­dung a. a. O.)

Die ers­ten Ter­mi­ne lau­fen nach dem aktu­ell gewohn­ten Mus­ter der Bespre­chun­gen in der jewei­li­gen Orga­ni­sa­ti­on. Man sam­melt etwa Ideen für einen Weg aus der Kri­se, tut dies aber „selt­sam unbe­tei­ligt“. Es kann durch­aus pas­sie­ren, dass sich Füh­rungs­kräf­te in sol­chen Ideen­run­den inten­siv mit ihren Smart­phones beschäf­ti­gen. Man scheint sich unter­schwel­lig einig, dass man nichts tat­säch­lich anspre­chen will. Wir fas­sen das orga­ni­sa­ti­ons­theo­re­tisch als eine spä­te und lei­se Form gelern­ter Inkom­pe­tenz (Chris Argy­ris) auf: Man will nichts mehr, macht aber das gewohn­te Spiel noch mit, wenn auch zurück­hal­tend und bei­na­he traum­tän­ze­risch lang­sam und distan­ziert. Fragt man lan­ge genug und kon­fron­tiert man die Betei­lig­ten mit den eige­nen Beob­ach­tun­gen und Ein­drü­cken, folgt oft ein „Ruck durch das Estab­lish­ment“, und die kon­ser­va­ti­ven „Bewah­rer des Sta­tus quo“ tre­ten ener­gisch auf die Büh­ne, haben eini­ge kon­kre­te Ideen und wol­len damit „durch­star­ten“. Die­se Ener­gie beflü­gelt die Stim­mung am Ende die­ser ers­ten Phase.

Die ers­te Pha­se ver­läuft deut­lich schnel­ler, wenn die „prag­ma­ti­sche Frak­ti­on“ (das sind die­je­ni­gen, die dich das Ende durch­aus vor­stel­len kön­nen und die Initia­ti­ve für den Klä­rungs­pro­zess ergrif­fen haben) bereits am Anfang die Mög­lich­keit des Endes oder der Auf­lö­sung als eine Opti­on in den Raum stellt. Dann wird der „kon­ser­va­ti­ve Ruck“ rela­tiv schnell dadurch ausgelöst.

Es soll hier nicht der Ein­druck ent­ste­hen, dass so ein „kon­ser­va­ti­ver Ruck“ nicht zum Erfolg füh­ren kann. Frei­lich kann er das – gute Ideen und vor allem sich tat­säch­lich und kon­ti­nu­ier­lich enga­gie­ren­de Per­so­nen vor­aus­ge­setzt. Aber in den meis­ten Fäl­len bleibt die­se ers­te Pha­se der Dis­kus­si­on, in der es um das „Wie­der­be­le­ben“ geht, frucht­los, eben weil zwar viel dis­ku­tiert wird, sich aber kaum jemand kon­kret dazu ent­schei­det, die Initia­ti­ve zu übernehmen.

In der zwei­ten Pha­se hält etwas mehr Rea­lis­mus Ein­zug. Die betei­lig­ten Füh­rungs­kräf­te begin­nen, sich zu fra­gen, was tat­säch­lich für eine gelin­gen­de Ver­än­de­rung not­wen­dig wäre. Aus die­ser rea­lis­ti­sche­ren Ana­ly­se kön­nen zwei Arten von Akti­vi­tä­ten erwach­sen – ent­we­der die sich dif­fe­ren­zie­ren­de Ein­schät­zung ver­stärkt die Opti­on des Been­dens der Orga­ni­sa­ti­on, oder, was häu­fi­ger vor­kommt, es fin­det sich eine klei­ne Grup­pe von Füh­rungs­kräf­ten, die ver­schie­de­ne Din­ge aus­pro­biert. Manch­mal sind das die „Kon­ser­va­ti­ven“ und manch­mal die „Ver­än­de­rungs­ori­en­tier­ten“ (die ja trotz­dem an der Orga­ni­sa­ti­on und ihrem Zweck hän­gen). Die­se Pha­se kann von eini­gen Wochen bis hin zu meh­re­ren Mona­ten dau­ern. Am Ende die­ser Akti­vi­tä­ten steht eine durch Erfah­rung gestärk­te Ein­schät­zung der Situation.

Kommt man nach eini­ger Zeit wie­der zusam­men, fin­det sich ein deut­lich dif­fe­ren­zier­te­res Bild: man weiß sehr wohl um den „guten Kern“ der Orga­ni­sa­ti­on, kann die Mög­lich­keit des Wei­ter­be­stehens gut ana­ly­sie­ren und dabei vor allem ein­schät­zen, wel­che Vor­aus­set­zun­gen und Anstren­gun­gen dafür not­wen­dig wären. Oft­mals sieht die Run­de nun ein, dass man nicht mehr die Kraft oder die Mit­tel hat, auf die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen zu reagie­ren. Man ist nun in eine Pha­se des Aner­ken­nens der eige­nen Gren­zen ein­ge­tre­ten, sieht, was gut war oder ist, sieht aber auch, wo es nicht mehr wei­ter geht. In die­ser Pha­se kön­nen die Ange­hö­ri­gen lang­sam weni­ger emo­tio­nal über ihre Situa­ti­on reden. Es wird deut­lich, wel­che Optio­nen man hat – was not­wen­dig wäre, um tat­säch­lich mit einem trag­fä­hi­gen Kon­zept wei­ter­zu­ma­chen, und was nach rea­lis­ti­scher Ein­schät­zung mög­lich ist. Es ist hilf­reich, sich hier viel Zeit in den ent­spre­chen­den Work­shops zu neh­men. Spä­tes­tens in die­ser Pha­se erwei­sen sich die nach wie vor zu hören­den „Auf­ru­fe zum Durch­hal­ten“ („Wir müs­sen doch…!“ oder „Wir kön­nen doch nicht…!“) als zu wenig kon­kret. Wenn es die Mode­ra­ti­on nun schafft, eben jene Moti­va­ti­on zum Durch­hal­ten und zum Nicht-Auf­ge­ben zu wert­schät­zen, gleich­zei­tig aber wei­ter kon­kre­ti­sie­rend nach­zu­fra­gen, ver­hilft sie den Anwe­sen­den, ihre Sicht­wei­sen zuneh­mend offe­ner aus­zu­tau­schen und in den „emo­tio­na­len Ver­ar­bei­tungs­pro­zess“ einzutreten.

In den spä­te­ren Pha­sen die­ses „Ver­ar­bei­tungs­pro­zes­ses“ fin­den sich dann oft neue und bis­her nicht dis­ku­tier­te Ideen und Optio­nen, wie man zwar nicht die Orga­ni­sa­ti­on in ihrer gegen­wär­ti­gen Gestalt wei­ter­be­trei­ben, aber viel­leicht die Ideen (und ggf. auch Mit­ar­bei­ter) der Orga­ni­sa­ti­on in klei­ne­rem Maße wei­ter­füh­ren, in eine ande­re Rechts­form über­füh­ren oder in eine befreun­de­te Orga­ni­sa­ti­on inte­grie­ren könn­te. Das ent­spricht dann der letz­ten Pha­se eines Auf­lö­sungs­pro­zes­ses: wenn er gelingt, gibt es Ideen und Optio­nen, in deren Rich­tung man die sich auf­lö­sen­de Orga­ni­sa­ti­on führt.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.