Wertefragen in der Oberlausitz: Das Dilemma zwischen Demokratie und Skepsis

Unse­re Erhe­bung „Ober­lau­sit­zer Wer­te­fra­gen“ zeich­net ein facet­ten­rei­ches, aus man­chem Blick­win­kel sicher auch besorg­nis­er­re­gen­des Bild der Hal­tun­gen zur Demo­kra­tie in der Ober­lau­sit­zer Bevölkerung.

Die­ser Text ist die Lang­fas­sung der Dar­stel­lung der Ergeb­nis­se unse­rer Stu­die auf die­sem Blog. Soll­ten Sie sich eher für eine Kurz­fas­sung inter­es­sie­ren, sind Sie hier richtig.

Die für die Ober­lau­sitz reprä­sen­ta­ti­ve Stu­die haben wir im Auf­trag des Insti­tuts B3 und in Zusam­men­ar­beit mit MAS Part­ners rea­li­siert. Die aktu­el­le Vor­trags­rei­he zu den Ergeb­nis­sen kam in Zusam­men­ar­beit mit der Volks­hoch­schu­le Drei­län­der­eck, der Gör­lit­zer Volks­hoch­schu­le und dem Ver­ein Schwes­tern­haus Klein­wel­ka e.V. zustan­de. Die Metho­dik der Befra­gung lehnt sich an den mitt­ler­wei­le deut­lich bekann­te­ren Lau­sitz-Moni­tor an.

Zwei Drit­tel der Befrag­ten (68 Pro­zent) haben im Jahr 2023 die Demo­kra­tie für eine gute Regie­rungs­form gehal­ten. Die­ses Ergeb­nis bedeu­tet eine mar­kan­te Ver­än­de­rung im Ver­gleich zu frü­he­ren Stu­di­en: Im letz­ten Sach­sen-Moni­tor (Befra­gungs­zeit­punkt: Win­ter 21/22) hat­ten in Sach­sen ins­ge­samt noch 92 Pro­zent und in der Ober­lau­sitz noch 83 Pro­zent die Demo­kra­tie für eine gute Regie­rungs­form gehal­ten. Inner­halb von nicht ein­mal zwei Jah­ren sank der Anteil der Demo­kra­tie­be­für­wor­ter also um 15 Pro­zent­punk­te. Die­se Ent­wick­lung deu­tet nicht nur auf eine (vor­über­ge­hend?) schwin­den­de Akzep­tanz demo­kra­ti­scher Prin­zi­pi­en hin, son­dern unse­res Erach­tens auch auf tief­grei­fen­de gesell­schaft­li­che Spannungen.

Polarisierung entlang politischer Präferenzen

Beson­ders her­vor­zu­he­ben ist die poli­ti­sche Spal­tung der Ober­lau­sit­zer Bevöl­ke­rung. Anhän­ger eta­blier­ter Par­tei­en wie CDU und SPD ste­hen der Demo­kra­tie weit­aus posi­ti­ver gegen­über (über 90 Pro­zent Befür­wor­tung), wäh­rend unter AfD-Anhän­gern ledig­lich jede zwei­te Per­son die­se Regie­rungs­form unter­stützt. Die­se Bruch­li­ni­en ver­wei­sen auf ein zuneh­mend stär­ke­res poli­ti­sches Dilem­ma: Wäh­rend man einer­seits der Mei­nung sein kann, dass die­se Ergeb­nis­se dafür spre­chen, dass das Miss­trau­en gegen­über staat­li­chen Insti­tu­tio­nen steigt und dies eine Ver­la­ge­rung hin zu popu­lis­ti­schen Nar­ra­ti­ven bedeu­tet, könn­te man ande­rer­seits schluss­fol­gern, dass die aktu­el­le Poli­tik dem Wil­len eines immer grö­ßer wer­den­den Teils der Wäh­ler­schaft nicht mehr ent­spricht — und des­halb Ver­än­de­run­gen (oder auch: neue Koali­tio­nen) umso not­wen­di­ger erscheinen.

Apro­pos Wäh­le­rin­nen: Erstaun­lich skep­tisch zei­gen sich jün­ge­re Frau­en. Nur 51 Pro­zent der Frau­en unter 40 Jah­ren hal­ten die Demo­kra­tie für eine gute Regie­rungs­form – der nied­rigs­te Wert unter allen unter­such­ten Grup­pen. Im Kon­trast dazu bewer­ten älte­re Frau­en (60+) mit 77 Pro­zent die Demo­kra­tie über­wie­gend posi­tiv. Die geschlech­ter­be­zo­ge­ne und gene­ra­tio­nel­le Dif­fe­ren­zie­rung ver­deut­licht, wie unter­schied­lich gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen wahr­ge­nom­men wer­den und wel­che sozia­len Rea­li­tä­ten die­sen Ein­schät­zun­gen zugrun­de liegen.

Vertrauenskrise in Institutionen

Das Ver­trau­en in Insti­tu­tio­nen vari­iert stark. Feu­er­wehr und Poli­zei genie­ßen hohen Rück­halt (über 90 Pro­zent bzw. 70 Pro­zent), wäh­rend Lan­des- und Bun­des­re­gie­rung nur von rund einem Fünf­tel der Befrag­ten posi­tiv bewer­tet wer­den. Beson­ders nied­rig ist das Ver­trau­en in poli­ti­sche Par­tei­en (11 Pro­zent). Die­se Zah­len illus­trie­ren nicht nur eine all­ge­mei­ne Insti­tu­tio­nen­skep­sis, son­dern auch eine min­des­tens „frag­men­tier­te“ Wahr­neh­mung staat­li­cher Handlungsfähigkeit.

Die Ergeb­nis­se zur Ver­tei­lung des Ver­trau­ens in Insti­tu­tio­nen nach Par­tei­prä­fe­renz zeich­nen ein dras­ti­sches Bild: Wäh­rend Anhän­ger von CDU und SPD Ver­trau­en in vie­le staat­li­che und gesell­schaft­li­che Ein­rich­tun­gen zei­gen, ver­har­ren AfD-Bevor­zu­ger und Nicht­wäh­ler oft in tie­fem Miss­trau­en. Das Ver­trau­en in die Poli­zei, die Wis­sen­schaft und Gerich­te unter­schei­det sich dabei teil­wei­se dras­tisch zwi­schen die­sen Grup­pen. Doch inmit­ten die­ser Frag­men­tie­rung bleibt eine Insti­tu­ti­on, die alle Lager eint: die Feu­er­wehr. Mit 93 Pro­zent Zustim­mung, unab­hän­gig von poli­ti­scher Ein­stel­lung, erscheint sie gleich­sam als „die letz­te Bas­ti­on“ gesell­schaft­li­chen Vertrauens.

Die herausragende Rolle der Feuerwehren

War­um ist aus­ge­rech­net die Feu­er­wehr die­ser uner­schüt­ter­li­che Anker? Viel­leicht liegt es dar­an, dass sie etwas ver­kör­pert, das gleich­zei­tig uni­ver­sell und unmit­tel­bar ver­ständ­lich ist: Hilfs­be­reit­schaft, Tat­kraft und Neu­tra­li­tät. Die Feu­er­wehr steht nicht für Poli­tik, son­dern für Ret­tung und für Hil­fe; für Men­schen, die kom­men, wenn alle ande­ren gehen. Sie ist ein Sinn­bild für das, was die Gesell­schaft noch ver­bin­det: prak­ti­sche Hil­fe ohne ideo­lo­gi­sche oder insti­tu­tio­nel­le Hintergründe.

Die schwindende Bedeutung der Kirchen

Im Gegen­satz dazu zei­gen die Kir­chen ein ande­res Bild. Nur 20 Pro­zent der Befrag­ten spre­chen den Kir­chen noch Ver­trau­en zu. Die­ser Wert ent­spricht einer­seits in etwa dem Anteil der Men­schen, die noch Ange­hö­ri­ge einer Kir­che sind. Ande­rer­seits liegt die­ser Anteil „gefähr­lich nah“ an dem Anteil der Bevöl­ke­rung, die noch den Medi­en ver­trau­en (19 Pro­zent), die wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie zum grö­ße­ren Teil eine stark pola­ri­sie­ren­de Rol­le spiel­ten. Doch wäh­rend die Medi­en zumin­dest als Ver­mitt­ler von Infor­ma­tio­nen im „Dis­kurs“ blie­ben, scheint die Kir­che still aus dem gesell­schaft­li­chen „Bus“ aus­zu­stei­gen. Sie ver­lor wahr­schein­lich nicht nur durch laut dis­ku­tier­te Skan­da­le, son­dern auch und vor allem durch die schwin­den­de Rele­vanz in einer Welt, die sich vom Glau­ben (post­mo­dern gespro­chen: „von spi­ri­tu­el­len Nar­ra­ti­ven“) ent­fernt hat.

Die gerin­ge Bedeu­tung der Kir­chen lässt uns eine essen­ti­el­le Fra­ge stel­len: Was bleibt, wenn auch Insti­tu­tio­nen, die tra­di­tio­nell für Wer­te und Gemein­schaft stan­den, ihren Ein­fluss ver­lie­ren? Ihre Rol­le als Orte des Zusam­men­kom­mens – für Ritua­le, gemein­sa­me Freu­de und geteil­te Trau­er – wird schmerz­lich vermisst.

Gemeinsame Themen statt politischer Differenzen

Was kann uns also noch ver­bin­den? Viel­leicht nicht Insti­tu­tio­nen, son­dern Erleb­nis­se. Geteil­te Freu­de und geteil­te Trau­er sind viel­leicht die stärks­ten Bin­de­kräf­te der mensch­li­chen Psy­che. In die­sem Licht betrach­tet, liegt die Ant­wort auf das Pro­blem der Spal­tung nicht in poli­ti­schen Dis­kus­sio­nen, son­dern in den schein­bar ein­fa­chen Momen­ten: beim Essen und Trin­ken, bei Fes­ten, bei all den Ereig­nis­sen, die uns dar­an erin­nern, dass wir Men­schen sind – unab­hän­gig davon, wo unser Kreuz auf dem Wahl­zet­tel steht. Die Feu­er­wehr zeigt, dass es funk­tio­niert: Man misst Feu­er­wehr­leu­ten nicht zu, was sie den­ken, son­dern was sie tun.

Das Bei­spiel der Feu­er­wehr kann uns qua­si stell­ver­tre­tend auf einen Fak­tor des Zusam­men­halts hin­wei­sen, der eben­falls „jen­seits“ poli­ti­scher Dis­kus­sio­nen statt­fin­det: das Ver­eins­le­ben. Wir müs­sen uns nicht unbe­dingt „neue For­ma­te“ aus­den­ken, son­dern wir haben eine Grö­ße im gesell­schaft­li­chen Leben, die alle ver­bin­den­den Fak­to­ren in sich ver­eint: gemein­sam etwas tun, gemein­sam Freu­de und Trau­er tei­len, gemein­sam essen und trin­ken – und zwar jen­seits poli­ti­scher Spaltungen.

Die Ergeb­nis­se der „Ober­lau­sit­zer Wer­te­fra­gen“ mah­nen uns, unse­ren Fokus zu ver­schie­ben. Anstatt auf die Spal­tun­gen zu bli­cken, könn­ten wir mehr Raum für das schaf­fen, was uns ver­eint. Es geht nicht dar­um, poli­ti­sche Dif­fe­ren­zen zu igno­rie­ren, son­dern sie für Momen­te bei­sei­te­zu­le­gen – für das gemein­sa­me Lachen, Trau­ern, Fei­ern und Han­deln. Wenn wir die­se geteil­ten Räu­me schaf­fen, gibt es viel­leicht eine Chan­ce, die Brü­cken zu bau­en, die so drin­gend gebraucht werden.

Das Dilemma: Die gesellschaftliche Katze beißt sich in den Schwanz

Fast die Hälf­te der Befrag­ten (52 Pro­zent) gibt an, ihre poli­ti­schen Ansich­ten lie­ber für sich zu behal­ten, wäh­rend nur 24 Pro­zent bereit sind, sich aktiv für gesell­schaft­li­che Ver­bes­se­run­gen ein­zu­set­zen. Die Dis­kre­panz zwi­schen Dis­kus­si­ons­freu­de im pri­va­ten Raum und öffent­li­chem Enga­ge­ment zeigt ein Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen indi­vi­du­el­ler Mei­nungs­bil­dung und kol­lek­ti­vem Handeln.

Die Ergeb­nis­se unse­rer Unter­su­chung spie­geln eine Regi­on wider, die sich in einem Span­nungs­feld zwi­schen demo­kra­ti­scher Tra­di­ti­on und wach­sen­der Skep­sis bewegt.

Es han­delt sich um ein „per­fek­tes poli­ti­sches Dilem­ma“, weil man die poli­ti­sche Lage so oder so inter­pre­tie­ren kann.

Man kann sagen #nie­wie­derist­jetzt. Damit nimmt man an, dass, wenn es so wei­ter­geht, die Lage irgend­wann zu einer Kon­stel­la­ti­on führt, die wir in Deutsch­land schon ein­mal hat­ten, und die kei­nes­wegs wie­der ein­tre­ten darf, weil das sei­ner­zeit aller­schreck­lichs­te Fol­gen hatte.

Man kann aber auch der Mei­nung sein, dass, wenn wir so wei­ter­ma­chen, genau dies wie­der ein­tre­ten kann, eben weil wir es ver­mei­den wol­len. Denn wenn wir so wei­ter­ma­chen (Stich­wort: „Brand­mau­er“), steigt die Wahr­schein­lich­keit, dass es eben so wei­ter­geht, wie es bis­her gelau­fen ist — bis eben noch viel mehr Men­schen sagen: egal, was kommt, Haupt­sa­che, es ändert sich etwas.

Fakt ist, dass die AfD stär­ker gewor­den ist. Unse­re Unter­su­chung zeigt bspw. ein­deu­tig, dass das AfD-Wäh­ler­po­ten­ti­al in der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on grö­ßer ist als in der älte­ren Gene­ra­ti­on. Es steht also nicht zu erwar­ten, dass die Pola­ri­sie­rung nach­lässt, im Gegen­teil: die Pola­ri­sie­rung wird wahr­schein­lich eher zuneh­men. Die Welt spal­tet sich weiter.

Die Regier­bar­keit des Lan­des wird ein The­ma blei­ben. Dar­auf mit noch mehr Nor­men von EU-Ebe­ne oder noch mehr poli­tisch-kor­rekt-nor­ma­ti­ven Demo­kra­tie-Beleh­run­gen von Bun­des­ebe­ne zu reagie­ren, macht die Sache nicht bes­ser, son­dern wahr­schein­lich schlimmer.

Im Grun­de hat man zwei Möglichkeiten:

  1. Man kann sagen #nie­wie­derist­jetzt und ver­su­chen, etwas gegen den Trend zu tun. Die gegen­wär­ti­ge Bun­des­po­li­tik setzt mehr oder min­der nor­ma­tiv auf Trans­for­ma­ti­on. Der Modus lau­tet: „Wir müssen…“
  2. Man kann auch sagen, dass man den Wäh­ler­wil­len respek­tiert, anstatt das Wahl­volk zu beleh­ren, dass es falsch liegt. Wenn man das Wahl­volk wei­ter belehrt, ist es sehr wahr­schein­lich, dass noch mehr Men­schen aus Trotz etwas ande­res wäh­len. Woll­te man den Wäh­ler­wil­len sim­pel inter­pre­tie­ren, müss­te man sagen, dass (spä­tes­tens in Sach­sen) die CDU mit der AfD koalie­ren müsste.

Ich höre schon den Auf­schrei. Die Brandmauer!

Aber was pas­siert, wenn wir die Brand­mau­er auf­recht erhal­ten, wenn wir wei­ter beleh­ren, dies oder das gehe so gar nicht?

Dann wächst die Reak­tanz wei­ter. Reak­tanz bedeu­tet: Wider­stand gegen Über­zeu­gungs­druck. Men­schen wol­len nicht belehrt wer­den. Vie­le Men­schen sehen, dass die aktu­el­le Poli­tik nicht passt, weil sie das Land zu schnell ver­än­dern möch­te und damit zu viel Scha­den anrich­tet. Der Anteil der­je­ni­gen, die mei­nen, dass es in den letz­ten fünf Jah­ren bes­ser gewor­den ist, geht seit Jah­ren zurück — beson­ders stark in der Grup­pe der 40–60-Jährigen, also den­je­ni­gen, die gera­de Ver­ant­wor­tung übernehmen.

Zuge­spitzt könn­te man mei­nen, dass immer weni­ger Men­schen mei­nen, dass es die nächs­te Gene­ra­ti­on ein­mal bes­ser haben wird als man selbst. Die Regie­rung hat der­weil vie­le Zuge­ständ­nis­se an immer klei­ne­re Bedarfs­grup­pen gemacht (bspw. Ren­te mit 63) — weiß nun aber auch nicht mehr, wie man all jene Din­ge noch finan­zie­ren soll, die sich von einer wach­sen­den Zahl von Anspruchs­grup­pen mit immer mehr Ansprü­chen gewünscht wer­den. Man hät­te sehen kön­nen, dass die Steu­er­ein­nah­men zurück­ge­hen. Die star­ke Maschi­nen­bau­bran­che hat schon vor Jah­ren geschrie­ben, dass die Auf­trä­ge deut­lich zurück­ge­hen werden.

Haben Sie ein­mal das Wort „Über­fei­ne­rung“ gehört? Wenn man in einer Zeit lebt, in der man sich nicht ent­fal­ten kann, oder in der man für sein So-Sein sogar bedroht wird, ist mehr Frei­heit immer bes­ser. Aber es geht schon lan­ge nicht mehr dar­um, nur in Ruhe gelas­sen zu wer­den. Aus dem Wunsch nach Abwe­sen­heit von Repres­sa­li­en ist eine Frei­heits­for­de­rung zu jeder mög­li­chen Iden­ti­tät gewor­den — ver­bun­den mit der For­de­rung, die­se Fein­hei­ten auch recht­lich abzu­bil­den. Man kann hier sicher unter­schied­li­cher Mei­nung sein, wie weit man das trei­ben oder gestal­ten soll­te. Aber wenn man Leu­te aus­lädt, nur weil sich irgend­je­mand im Publi­kum unwohl füh­len könn­te, nun ja, was ist das dann? Ist das noch Frei­heit, oder ist das dann schon eine Über­fei­ne­rung der Erwartungen?

Die poli­ti­sche Kat­ze beißt sich in den Schwanz.

ENTWEDER fol­ge ich dem Wäh­ler­wil­len — dann koalie­re ich viel­leicht, set­ze ich mich aber dem Vor­wurf aus, mich mit Sicht­wei­sen gemein zu machen, die man weit­hin für so gest­rig hält, dass man sie ver­hin­dern möchte. 

Demo­kra­tie bedeu­te Ent­schei­dung durch die Betrof­fe­nen, hat Fried­rich von Weiz­sä­cker ein­mal sinn­ge­mäß gesagt (das genaue Zitat lese man auf der Start­sei­te der Web­prä­senz des Insti­tuts B3 nach). Ent­spricht es noch dem Wäh­ler­wil­len, wenn bestimm­te (wach­sen­de) Wahl­er­geb­nis­se mehr oder min­der sys­te­ma­tisch igno­riert wer­den? Und wer­den sol­che Wahl­er­geb­nis­se dadurch nicht noch wahrscheinlicher?

Wenn es sich um wirk­lich natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Eska­pa­den han­delt, ist das ja, ver­dammt noch­mal, auch gut so, dass es blitzt. Falls jemand tat­säch­lich einen grup­pen­be­zo­ge­nen Dis­kri­mi­nie­rungs- oder Ver­nich­tungs­wil­len hat, hel­fen nur die Poli­zei und der Rechtsstaat. 

Man­che Aus­sa­gen sind nicht so „rechts“, wie es gern behaup­tet wird. Wenn wir alles Mög­li­che unter der Kate­go­rie „rechts“ ver­han­deln, gehen uns die Begrif­fe, die Unter­schei­dungs­mög­lich­kei­ten ver­lo­ren — und die Wahl­er­geb­nis­se ent­wi­ckeln sich dann um so dyna­mi­scher, wie sie sich eben entwickeln.

Man könn­te den Weg der CSU gehen, da gibt es immer mal jeman­den, der laut genug und rechts genug „grunzt“, als dass sich vie­le „abge­holt“ fühlen.

ODER man geht den ande­ren Weg und trimmt sich qua­si-pro­phy­lak­tisch auf poli­tisch-kor­rekt, um nur nicht anzu­ecken. Bei wem wür­de man denn eigent­lich anecken? Sicher nicht bei den Migran­ten, die gera­de Hil­fe brau­chen. Wohl aber bei all jenen Par­tei­funk­tio­nä­ren und Jour­na­lis­ten und Wis­sen­schaft­lern, die, mit Idea­len auf­ge­la­den und fern­ab der Rea­li­tät, das Land „trans­for­mie­ren“ wollen.

Trans­for­ma­ti­on ist kein Selbst­zweck. Es braucht immer ein „Wozu“. Und die­ses „Wozu“ ist dem Wahl­volk, so fürch­te ich, auf abseh­ba­re Zeit abhan­den gekommen.

Der bit­te­re Preis, den die gan­ze Dyna­mik hat, ist mei­nes Erach­tens fol­gen­der: Indem man bestimm­te Sicht­wei­sen und Hal­tun­gen wei­ter kon­se­quent aus­schließt, sorgt dies dafür, dass die­se Sicht­wei­sen und Hal­tun­gen popu­lä­rer wer­den — spä­tes­tens durch den besag­ten Wider­stand gegen Über­zeu­gungs­druck (Reak­tanz).

Gleich­zei­tig wächst genau dadurch in der Bevöl­ke­rung eine gewis­se Tole­ranz gegen­über wirk­lich extre­men Hal­tun­gen — und zwar weni­ger, weil man die­se Hal­tun­gen teilt, son­dern mehr, weil man aus der Reak­tanz her­aus sagt: „Die trau­en sich wenigs­tens was. Auf uns hört sowie­so kei­ner. Es ist doch schon klar, was bei der Wahl her­aus­kom­men soll. Und wenn das nicht her­aus­kommt, dann sind wir hier alle rechts. Ich bin gar nicht rechts, aber ich bin migra­ti­ons­skep­tisch. Kei­ne Ahnung, war­um es kei­ne Ober­gren­ze geben darf. Kei­ne Ahnung, war­um es nicht gehört wird, wenn man sagt, dass man das alles für einen Feh­ler hält. Die Ver­nunft gebie­tet, dass man sich einigt. Aber man einigt sich nicht. Man will nur Recht haben und belehrt den skep­ti­schen Rest des Vol­kes. Da kann ich nur sagen: Hut ab, ich hät­te nicht gedacht, dass ich mal sol­che Mei­nun­gen tei­le, aber wenn Ihr nicht zuhört und die gan­ze Zeit sagt, dass es falsch ist, wie ich den­ke, dann wäh­le ich die ande­ren, nur um Euch mit­zu­tei­len, dass ich Euch arro­gant und abge­ho­ben fin­de. Mir hat noch nie­mand plau­si­bel gemacht, war­um die gegen­wär­ti­ge Migra­ti­ons­po­li­tik rich­tig sein soll. Ich bin nicht gegen Migra­ti­on, wir brau­chen Fach­kräf­te, und man soll sich auch um Flücht­lin­ge küm­mern, wenn es sich wirk­lich um Flücht­lin­ge han­delt. Aber die­se ideo­lo­gi­sche Dis­kus­si­on und die­se gene­rel­le Ableh­nung jeder Skep­sis — tut mir Leid, das kann ich nicht nach­voll­zie­hen. Dann müsst Ihr eben wei­ter­ma­chen, bis die Wahl­er­geb­nis­se so sind, dass Ihr weg seid vom Fenster.“

Man muss die­se Ver­ba­li­sie­rung nicht gut fin­den. Sie ist der Ver­such, die Stim­me, die aus unse­ren Unter­su­chungs­er­geb­nis­sen spricht, mög­lichst authen­tisch zu formulieren.

Jörg Hei­dig

PS: Bevor jetzt jemand denkt: Jaja, die Ober­lau­sitz ist ja eine Regi­on an der pol­ni­schen und an der tsche­chi­schen Gren­ze, demo­gra­phisch stark über­al­tert usw. Natür­lich „ticken“ Men­schen in Grenz­re­gio­nen immer etwas anders als wei­ter drin­nen im Land, das ist bspw. auch in Tsche­chi­en so — die Nord­krei­se (Liber­ecky kraj und Uste­cky kraj) ticken dort immer „spit­zer“ als etwa Prag. Und natür­lich muss man auch dies aner­ken­nen: Wenn Ost­deutsch­land ein Land wäre, wären auf der Welt nur Japans und Ita­li­ens Bevöl­ke­rung älter als die ost­deut­sche Bevöl­ke­rung. Aber auch Deutsch­land altert ins­ge­samt, und was weit im Osten pas­siert, soll­te man nicht als „weit im Osten“ abtun, son­dern eher als einen Vor­bo­ten des­sen ver­ste­hen, was pas­siert, wenn bspw. die jun­ge Wäh­ler­schaft stär­ker nach rechts rückt, weil die Zei­ten här­ter wer­den — und gleich­zei­tig die Mehr­heit der Wäh­ler über 60 Jah­re alt ist. Unwahr­schein­lich? Wenn man mit her­ab­las­sen­dem Blick auf den Osten schaut, gern. Aber ob das tat­säch­lich so unwahr­schein­lich ist, oder der „fer­ne Osten“ Deutsch­lands in die­sem Sin­ne nur eine „frü­he Modell­re­gi­on“ gewe­sen sein wird, dar­über wird womög­lich noch zu reden sein.

PPS: Das Bei­trags­bild wur­de mit Hil­fe einer künst­li­chen Intel­li­genz erstellt.

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.