Die Grundlage für Handlungen sind die Bedeutungen, die Dinge für die handelnden Personen besitzen. Es geht also nicht darum, was ist, sondern darum, was die betreffenden Personen glauben, das ist. Beides muss nicht zwingend übereinstimmen, im Gegenteil: Ein Ding und seine Bedeutung können weit auseinanderliegen. Die Dinge erhalten ihre Bedeutung durch den sozialen Interaktionsprozess, weshalb die Bedeutung von Dingen aus dem sozialen Interaktionsprozess ableitbar ist. Es geht dementsprechend immer um erlernte bzw. im Prozess veränderte Bedeutungen, niemals um gegebene Symbole oder Bedeutungen. Menschen nehmen durch Gesten oder Symbole auf Bedeutungen Bezug. Symbole sind gesellschaftlich festlegte Verweise auf erlernte Grundbedeutungen von Dingen und bilden den ”Zeichensatz“ sozialer Interaktionen. So mag zum Beispiel der Begriff ”Dienstanweisung“ zwar rechtlich definiert sein – welche Bedeutung er aber in einer konkreten Situation für eine Behördenmitarbeiterin oder einen Behördenmitarbeiter hat, hängt vom Fluss der Interaktionen mit Vorgesetzten und Kollegen ab. Durch die Interaktionen innerhalb der Gruppe oder zwischen zwei einzelnen Personen wird die Bedeutung jeweils spezifiziert, an die Erwartungen der handelnden Personen und die jeweilige Situation angepasst und dadurch verändert. Der Fokus liegt damit auf dem Prozess. Die Bedeutungen sind Teil des Prozesses, bleiben also veränderbar, indem sie im interaktiven Prozess bestimmt und fortgeschrieben werden. An dieser Stelle werden drei methodologische Prämissen deutlich (vgl. Blumer 2013, S. 64ff.; Lamnek 2005, S. 39f.):
- Menschen handeln in Bezug auf Objekte; die Grundlage dieser Bezugnahme sind Bedeutungen.
- Bedeutungen sind erlernt und aus sozialen Interaktionen ableitbar.
- Bedeutungen unterliegen der Fortschreibung, d.h. sie werden genutzt und abgeändert.
Der Begriff der ”Dinge“ bezieht sich auf alles, was für Menschen Bedeutung annehmen kann – also ”Bäume oder Stühle; andere Menschen wie eine Mutter (…); Kategorien von Menschen wie Freunde oder Feinde; Institutionen wie eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhängigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen wie ihre Befehle oder Wünsche; und solche Situationen, wie sie dem Individuum in seinem ta ̈glichen Leben begegnen“ (Blumer 2013, S. 64). Zwar sei die Aussage, dass Menschen gegenüber Objekten auf der Grundlage von deren Bedeutungen handeln, in der Wissenschaft weitgehend unbestritten, jedoch werde die Tragweite dieser Aussage in Psychologie und Sozialwissenschaften weitgehend ignoriert, indem menschliches Handeln in beiden Bereichen vor allem als Produkt des Zusammenwirkens verschiedener, auf den Menschen einwirkender Faktoren betrachtet werde. Man bestimme die das jeweilige Verhalten auslösenden Faktoren und lasse die Bedeutungen unbeachtet, wodurch die Bedeutung regelrecht verschwinde, oder man verorte die Bedeutung in den auslösenden Faktoren, wodurch die Bedeutung zum reinen Element der Vermittlung würde, ”das man zugunsten der auslösenden Faktoren unberücksichtigt lassen“ (Blumer 2013, S. 65) könne.
In der qualitativen Forschung kommt den Bedeutungen, die Objekte (Dinge) für die handelnden Menschen haben, ein zentraler Wert zu, wobei Blumer betont, dass die Bedeutung den Dingen nicht etwa innewohne und die Bedeutung auch kein durch psychische Prozesse bedingter ”Zusatz“ (Blumer 2013, S. 66) sei, den eine Person an ein Ding oder Objekt herantrage. Die Bedeutung ist weder Ausdruck der Beschaffenheit eines Dinges, noch sei die Bedeutung das Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener Prozesse im Individuum. Die Bedeutung geht vielmehr ”aus dem Interaktionsprozess zwischen verschiedenen Personen hervor“ (Blumer 2013, S. 67), weshalb Bedeutungen als soziale Produkte anzusehen sind, was erhebliche methodologische Implikationen nach sich zieht.
Neben den drei oben bereits dargestellten Prämissen gelten für die qualitative Forschung weitere Kernvorstellungen, die hier ergänzend dargestellt werden sollen:
1. Der Fokus liegt auf dem Prozess: Soziale Interaktion ist ein Prozess, der Verhalten formt, weshalb sie von zentraler Bedeutung ist. Indem sich Gruppen aus handelnden Individuen zusammensetzen, besteht das menschliche Zusammenleben gleichsam aus Handlungen, weshalb der Ausgangspunkt für die Untersuchung menschlichen Zusammenlebens die menschlichen Handlungen und ihre Verkettung sein müssen.
“(…) so versucht man, die Bedeutung eines Dinges zu erklären, indem man die besonderen psychologischen Elemente, die diese Bedeutungen hervorbringen, isoliert. Man sieht dies in der ein wenig altehrwürdigen und klassischen psychologischen Vorgehensweise, die Bedeutung eines Gegenstandes zu analysieren, indem man die Empfindungen bestimmt, die in die Wahrnehmung dieses Objektes eingehen; oder in der gegenwärtig üblichen Vorgehensweise, die Bedeutung eines Gegenstandes, wie zum Beispiel der Prostitution, zu analysieren, indem man sie auf die Einstellung des Betrachters zurückführt. Die Verortung der Bedeutung von Dingen in psychologischen Elementen begrenzt die Ausbildung von Bedeutungen auf solche Prozesse, die an der Stimulation und der Verbindung der gegebenen psychologischen Elemente, die diese Bedeutung hervorbringen, beteiligt sind. Derartige Prozesse sind psychologischer Art; sie schließen Wahrnehmung, Erkennen, Unterdrückung, Übertragung von Gefühlen und Assoziation ein.“ (Blumer 2013, S. 67)
Handlungen dienen gleichsam der Definition von Dingen im Prozess der Interaktion. Die so geschaffenen Bedeutungen werden also wechselseitig geschaffen und bilden die Grundlage für weitere Bezugnahmen auf diese Bedeutungen. In diesem fortlaufenden Prozess der wechselseitigen Bezugnahmen auf Bedeutungen werden diese Bedeutungen fortgeschrieben – Bedeutungen bestehen also nicht, sondern werden ständig geschaffen bzw. aktualisiert in einem fortlaufenden Prozess des Aufeinander-Abstimmens der Aktivitäten ihrer Mitglieder, weshalb das Zusammenleben in Handlungskategorien zu erfassen ist.
Forschungspraktisch bedeutet dies, dass wir in der qualitativen Forschung weniger nach dem Warum, sondern eher nach dem Wie und Wozu von Handlungen fragen, was die Kommunikation in den Vordergrund rückt und eher zur Untersuchung von Relationen bzw. Beziehungen führt als zur Analyse einzelner Variablen. Es gilt, die Interpretationen konkreter Situationen durch die jeweils handelnden Akteure zu untersuchen. Zwar sollen auch theoretische Aussagen überprüft werden, jedoch erfordert diese Überprüfung eine von der traditionellen, naturwissenschaftlich geprägten Forschungslogik unterschiedliche Methodologie, worauf an späterer Stelle noch ausführlicher eingegangen wird.
2. Menschen achten in der Interaktion darauf, was die oder der jeweilige andere tut, denn die ”Handlungen anderer können die eigenen Pläne bekräftigen, sie können ihnen entgegenstehen oder sie verhindern, sie können eine Abänderung solcher Pläne erforderlich machen, und sie können einen sehr unterschiedlichen Set solcher Pläne verlangen“ (Blumer 2013, S. 72). Beispiel: Dienstanweisungen oder Veränderungsimpulse durchlaufen die Hierarchie in der Regel von oben nach unten. Immer wenn eine Dienstanweisung oder ein Veränderungsvorhaben an eine nachgeordnete Ebene weitergegeben wird, ist Interaktion erforderlich. Durch den sich so ergebenden Interaktionsprozess werden die in Bezug auf die Dienstanweisung oder den Veränderungsimpuls entstandenen Handlungspläne bekräftigt oder abgeschwächt.
Aus der Perspektive der qualitativen Forschungsperspektive entsteht Wissen, indem die Interpretationen der Akteure in einer konkreten Situation untersucht werden. Aus diesem Grund seien theoretische Konstrukte ”während des gesamten Untersuchungsverlaufs offen zu halten“ (Lamnek 2005, S. 38) und erst allmählich zu strukturieren und mit Inhalten zu füllen. Wollten wir diese Forderung adäquat umsetzen, müssten wir uns dem Forschungsgegenstand ohne jegliches Vorwissen annähern. Allerdings gibt es so etwas wie eine forscherische tabula rasa wahrscheinlich nicht. Vielmehr ist Wissenschaft zum einen eine Hochstilisierung vorher gelebter Praxis und zum anderen haben Wissenschaftler bei mittlerweile wahren Sätzen anderer Wissenschaftler zu beginnen. Janich (1996) konzipierte Wahrheit als Zustimmung durch andere Menschen. Wahrheit erscheint insofern als die Gewissheit, dass etwas in der Praxis funktioniert. Wahrheit in der Wissenschaft erscheint so als etwas, dem andere Wissenschaftler bereits zugestimmt haben.
Glaser (1978; siehe dazu auch Mey & Mruck 2010a, S. 620) ist der Meinung, dass der Forschungsprozess möglichst offen zu halten ist und theoretische Konzepte erst nach der Exploration einzubeziehen sind, während Strauss & Corbin (1996) oder auch Athens (2010, S. 95; unter Verweis auf Blumer) meinen, dass theoretische Konzepte im Vorfeld einzubeziehen sind. Glaser & Strauss hatten hingegen ursprünglich einmal von einer ”unscharfen Annäherung“ gesprochen (Glaser & Strauss 1998 (erstmals 1967), hier dargestellt auf Grundlage von Mey & Mruck 2010a, S. 618).
Es erscheint durchaus sinnvoll, beide Standpunkte miteinander zu verbinden, also relevantes Wissen zu berücksichtigen, gleichzeitig aber auch so offen wie möglich zu bleiben. Erst erfolgt eine ”unscharfe Annäherung“ auf der Grundlage bereits bekannter und zustimmungsfähiger Konzepte, und dann erfolgt eine ”allmähliche Strukturierung durch das Füllen mit Inhalten“ (Lamnek 2005, S. 38), und zwar durch die Interpretation des Vorgefundenen und eine schrittweise Herstellung von Bezügen zwischen den gefundenen Elementen im Zuge des Vergleichs einzelner Fälle.
Bedeutsame, also Wissen schaffende Beobachtungen sind in der qualitativen Forschung vor allem dann möglich, wenn Wissenschaftler die Fähigkeit erwerben und kultivieren, sich in die Position von Individuen oder Gruppen hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit wird aber in der Ausbildung von Wissenschaftlern nicht geschult. Aus Sicht der qualitativen Forschung sind bedeutsame Beobachtungen kaum durch gewöhnliche Forschungsverfahren wie Skalen und Fragebögen im Rahmen von repräsentativen Umfragen zu gewinnen, sondern vielmehr durch die beschreibende Darstellung konkreter Handlungen und Bezugnahmen auf Objekte, andere Personen oder Gruppen.
Letztlich bedeutet das, dass Forscher verkettete Handlungen und die zu ihrer Koordination stattfindenden Interaktionsprozesse beobachten und beschreiben. Wir verstehen unter Interaktion den aufeinander bezogenen Austausch von Symbolen zum Zwecke der Handlungskoordination – und zwar in dem Sinne, wie die Fähigkeit zur Symbolisierung letztlich die Fähigkeit zum Denken als Probehandeln und zum Handlungen koordinierenden Austausch über noch nicht stattgefundene Handlungen bedeutet. Unter dem Begriff der Beziehung verstehen wir hingegen das, was sich im Zuge von Interaktionsprozessen zwischen den interagierenden Personen ergibt – und zwar im Sinne von sich aus der Interaktion ergebenden relativ zeitstabilen Mustern; Beziehungen sind also relativ zeitstabile, aufeinander bezogene Interaktionsmuster zweier oder mehrerer Personen.
Forscher seien, wie alle anderen Menschen auch, dazu verdammt, ihren vorgefertigten Vorstellungen zu folgen und seien deshalb allzu schnell dabei, anderen zu unterstellen, dass diese die eigenen Vorstellungen teilen würden, weshalb sich Forscher vor dieser Tendenz zu schützen hätten und jederzeit bereit sein sollten, die eigenen Vorstellungen freiwillig und immer wieder zu prüfen. (Vgl. Blumer 2013, S. 128f.)
Jörg Heidig