In diesem Text geht es zunächst um den Ursprung, später um den Zweck von Organisationen. Aus der Betrachtung des Zwecks einer Organisation ergeben sich verschiedene praktisch relevante Hinweise zum Verständnis und zur Beratung bzw. Entwicklung von Organisationen. Die methodische Umsetzbarkeit der Darstellungen wird am Ende des Textes anhand eines Praxisbeispiels illustriert. Die anfänglich sehr ausführlichen theoretischen Darstellungen mögen den sofort erfassbaren pragmatischen Wert und die Lesbarkeit des Textes verringern, dienen aber einem umfassenderen Verständnis.
Der von mir sehr geschätzte Organisationspsychologe Edgar Schein hat einmal geschrieben, dass wir uns, was das Denken über Organisationen angeht, in einer Art vor-darwinischen Zeitalters befinden. Das heißt meines Erachtens, dass es zwar viele Bilder und Denkmodelle über Organisationen gibt (drei nach meinem Dafürhalten recht gut geschriebene Übersichten zu den vorhandenen Theorien liefern Morgan, Kieser oder Hernes), dass es aber nach wie vor an einem umfassenden Verständnis fehlt.
Eine Theorie kann also zutreffen – und es gibt Modelle, mit denen man viel erklären kann (bspw. das der Organisationskultur) – aber es gibt eben auch oft genug Phänomene, die sich mit einer oder mehreren Theorien zwar irgendwie, aber eben doch nicht hinreichend erklären lassen.
Auch wenn die Texte auf diesem Blog an dieser Lage nichts ändern werden, hat mich Scheins Frage nicht mehr losgelassen, seit dem ich sie gelesen und dann auch noch einmal direkt von ihm selbst gehört habe. So sei es mir gestattet, hier einige Überlegungen aufzuschreiben, die m.E. einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis des komplexen Phänomens Organisation zu liefern in der Lage sind.
Wollte man die in der Überschrift gestellte Frage wirklich umfassend beantworten, dürfte man sich ihr zunächst nicht organisationspsychologisch nähern, sondern müsste die Perspektive weiter fassen. Man müsste die Frage stellen, woher das Phänomen “Organisation” überhaupt kommt, womit man mindestens bei der Anthropologie und im weiteren Sinne auch bei der Soziologie landen würde. Man würde zu den Anfängen des Menschen zurückgehen und feststellen, dass unsere Art nicht etwa das Ende einer langen Entwicklung von Primaten über Vormenschen hin zum Menschen war, sondern dass der homo sapiens nur eine von mehreren oder gar vielen Menschenarten war, es ihm nur gelungen ist, sich durchzusetzen bzw. die Mit-Arten auszurotten, um sich dann einzubilden, dazu geschaffen worden zu sein, sich die Erde untertan zu machen (was wir in Bezug auf die von uns beeinflussbaren Faktoren geschafft haben dürften). Man würde feststellen, dass diese Erfolge wahrscheinlich in der uns eigenen, ziemlich effizienten Handlungskoordination begründet liegen, womit man beim Ursprung der Sprache als Mittel zur Handlungskoordination landen würde.
Ich habe diese Zusammenhänge an anderer Stelle auf diesem Blog ausführlich beschrieben, weshalb diese Entwicklungen hier nicht noch einmal nachgezeichnet werden sollen.
Wir nehmen also an, dass Menschen ihre Handlungen miteinander koordinieren, und dass die Art, wie wir dies tun, so effizient wurde, dass wir uns nicht nur durchgesetzt haben, sondern dass wir den Erdball spürbar gestaltet haben. Wir sind seit Langem nicht mehr nur Teil der Natur, sondern wir haben Teile der Natur so in den Griff bekommen, dass sie unseren Zwecken untergeordnet ist (andere Teile haben wir entsprechend dezimiert oder zurückgedrängt). Wir haben unsere Lebensumstände so verändert, dass es Milliarden von uns möglich ist, auf diesem Planeten zu leben, ohne ständigen Bedrohungen ausgesetzt zu sein. Die aktuellen Bedrohungen sind fast ausschließlich Begleiterscheinungen (bspw. Kriege) oder unbeabsichtigte Wirkungen (bspw. der Klimawandel) unserer koordinierten Handlungen – aber (allermeistens) eben keine plötzlich aus dem Dickicht hervorbrechenden wilden Tiere.
Wenn ein Mensch etwas ausprobiert und damit erfolgreich ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er dies unter ähnlichen Umständen wieder versuchen wird. Bleibt der Erfolg wahrscheinlich, wird aus den entsprechenden Versuchen irgendwann ein Muster.
So auch, wenn es sich um die Handlungen mehrerer Menschen handelt: Wir überlegen etwas, probieren etwas aus, kommen nicht zum Ziel, ändern die Vorgehensweise, schaffen es vielleicht und probieren es im Erfolgsfall wieder so oder so ähnlich. Wenn das über längere Zeit hinweg erfolgreich bleibt, geben wir die Handlungsmuster weiter, bringen anderen (bspw. unseren Kindern oder Lehrlingen) etwas bei. Spätere Generationen müssen also, wenn es um bestimmte, bereits erprobte Handlungen geht, nicht in jedem Fall auf das Muster Versuch und Irrtum zurückgreifen, sondern können (zunächst: auch; später: immer mehr) darauf zurückgreifen, was frühere Generationen bereits erlernt und erworben haben.
Diese kurzen Darstellungen enthalten bereits einige wesentliche Elemente des Begriffs Organisation: Jemand probiert etwas, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen; das kann erfolgreich sein oder nicht. Aus erfolgreichen Versuchen bilden sich Muster. Das funktioniert nicht nur individuell, sondern auch im Verband, d.h. unter Koordination mit anderen Individuen. Auch als Gruppe kann man Ziele verfolgen (bspw. Belange der Verbesserung der Daseinsvorsorge, die man überhaupt nur durch Handlungskoordination erreichen kann). Der Modus der Koordination ist die Sprache. Erfolgreiche Handlungen werden wiederholt. Auch gemeinsam koordinierte erfolgreiche Handlungen werden wiederholt. Daraus werden Gewohnheiten bzw. eine Art “Gewohnheitswissen”, das an nachfolgende Mitglieder/Generationen weitergegeben wird.
Die gemeinsame Koordination, das gemeinsame “Gewohnheitswissen” und das “Beibringen” bilden den Rahmen dessen, was wir als Organisation verstehen. Organisationen bestehen aus miteinander verketteten Handlungen und geben ihr erworbenes Gewohnheitswissen an neue Mitglieder weiter.
Das Gewohnheitswissen wird, sobald es besteht, auch eine gewisse Schwerkraft oder ein Beharrungsvermögen entwickeln (“Das haben wir schon immer so gemacht!”), eben weil es auf Erfahrung beruht und weitergegeben wird. Irgendwann wissen die Beteiligten nichts mehr von den Originalerfahrungen, dafür sind dann zu viele Generationen ins Land gegangen. Hier helfen Mythenbildungen – Vorfahren, später Götter und andere kanonisierte Regelsysteme. Am Ende einer langen Kette von Fortsetzungen sind bspw. auch unsere heutigen Berufsausbildungen und Studiengänge nichts anderes als kanonisierte Systeme der Weitergabe von Wissen und Prozeduren.
Neuerungen sind dann oft nur noch durch “Einfälle” mehr oder minder junger oder frustrierter oder anderweitig zum Nachdenken oder zur Rebellion gekommener Organisationsmitglieder möglich – und sind deshalb kaum ohne Konflikte realisierbar, die in der Geschichte mitunter sehr blutig abgelaufen sind. Man denke etwa an die “Einfälle” eines Martin Luther in Bezug auf die Organisation Kirche und ihre überaus blutigen Folgen.
So ist das: Wenn wir etwas probieren und es nicht klappt, können wir uns etwas einfallen lassen. Aber hat es lange genug geklappt und ist der “Einfallszusammenhang” lange genug her, wollen viele von uns kaum mehr etwas ändern und bestrafen sogar neue “Einfälle”.
Die heute populäre Idee einer adaptiven bzw. auch sich selbst heraus “lernenden” Organisation ist also die einer Gratwanderung zwischen den (bewahrenden) Phänomenen, die mit der Zeit einer Organisation innewohnen und jenen anderen, ursprünglich einmal zu eben jener Anpassung geführt habenden, adaptiven Mechanismen, die zu neuen Ideen führen. Letztlich geht es um eine Gratwanderung zwischen Gewohnheit und Einfall.
Organisationsmitgliedern, die zu sehr auf der Seite der Gewohnheit stehen, fällt nichts mehr ein, und jene, denen nur etwas einfällt, sind kaum oder nur unter sehr bestimmten Voraussetzungen integrierbar in eine Organisation.
Hier wird ein weiteres Element von Organisationen deutlich: Durch die “Einfälle” neuer oder frustrierter oder die Routinen aus sich heraus infrage stellender Mitglieder “mäandern” Organisationen zwischen Routine und Anpassung, was von teils heftigen Konflikten begleitet sein kann oder bspw. auch zu längeren Phasen der Bewahrung führen kann.
Organisationen lassen sich also in gewisser Weise als “kondensierte” oder zeitlich überdauernde Muster der Verfolgung eines Zwecks begreifen.
Weil dies oder das erreicht werden soll, kommt es zur Handlungskoordination; war diese erfolgreich, bilden sich Muster und werden ggf. weitergegeben. Das kann zu Bewahrungsphänomenen führen, die einerseits an neue Mitglieder weitergegeben werden, andererseits aber auch von Mitgliedern einer Organisation infrage gestellt werden können. Im Grunde stehen sich in Organisationen die in der Vergangenheit erfolgreich gewesenen Muster der Daseinsvorsorge mit neuen Ideen zur Daseinsvorsorge gegenüber. Über allem steht jedoch der Zweck einer Organisation (hier zunächst ganz allgemein: Daseinsvorsorge).
Dieser Zweck einer Organisation kann mit der Zeit obsolet werden, aber der Zweck war im Entstehungszusammenhang einmal der Impuls zur Bildung einer Organisation.
Organisationen lassen sich deshalb am besten verstehen, wenn man sie vor dem Hintergrund ihrer Entstehung bzw. ihres Zwecks betrachtet.
Der Organisationszweck ist dasjenige Merkmal einer Organisation, dem sich alles unterordnet, eben weil der Zweck einer Organisation einmal der Ursprung für alle Handlungen und die Handlungskoordination war.
Die Organisation selbst kann (und oft auch: sollte) sich natürlich immer wieder Umwelterfordernissen anpassen, muss es aber nicht. Hier geht es sowohl um eine (evolutionäre) Anpassungsleistung als auch um einen absichtsvollen Prozess – oder vielleicht um einen Prozess, in dem Absichten eine Rolle spielen, der aber von Weitem wie eine evolutionäre Anpassungsleistung aussieht.
Es gibt einige derzeit recht populärere Publikationen, die ihrerseits entweder stärker die evolutionäre Sichtweise vertreten (bspw. Harari) oder stärker absichtsvolle Entwicklungen betonen (aktuell vor allem Graeber & Wengrow). Die Geschichte der Menschheit lässt sich unseres Erachtens aber eher sowohl als Folge von Anpassungen als auch als Folge von Absichten erklären. Es hilft wenig, sich hier lediglich auf einen der beiden Standpunkte zu stellen. Man gerät dadurch in ein Dickicht ähnlich dem, das sich aus der Frage ergibt, ob der Mensch nun im Grunde gut (bspw. Bregman) oder (als Teil bestimmter Organisationen) böse (bspw. Zimbardo) sei bzw. ob die Menschheit zum Kollaps verdammt (bspw. Diamond) oder vor allem anpassungs- oder lernfähig sei (bspw. Harford).Es handelt sich dabei oft genug um Simplifizierungen, die mitunter mehr über die Glaubenssätze der Autoren aussagen, als die jeweiligen Autoren mit ihren Texten Neues über die Menschheit sagen. Gleichzeitig lassen sich eine Reihe von Publikationen finden, die den einen Fall (“im Grunde gut”) mit den Umständen des Eintretens des anderes Falls (“böse”) plausibel in Beziehung setzen (bspw. Arendt).
Zurück zur eigentlichen Frage. In der Überschrift dieses Textes wird behauptet, dass hier ein Gedanke entwickelt wird, der in der Lage ist, Ordnung in das Denken über Organisationen zu bringen, und dass der Begriff, mit dem dies möglich ist, der Zweck einer Organisation ist.
Weiter oben wurde zunächst deutlich gemacht, wie eine Organisation entsteht. Warum eine Organisation einen Zweck hat oder haben soll, wurde durch die Hintertür hereingebracht, quasi – mehr oder minder unbemerkt – behauptet. Es gilt, dieser Unbemerktheit hier ein wenig Aufmerksamkeit zu widmen, also die Frage zu stellen, wo der Zweck herkommt und warum er irgendwie selbstverständlich ist.
Tiere können, wie der allergrößte Teil der Natur, den Grund ihrer Existenz nicht hinterfragen. Das Säugetier homo sapiens tut zumindest so oder kann es irgendwie. Zumindest versuchen viele Vertreterinnen und Vertreter unserer Art das immer wieder. Was im evolutionären Weltbild schlicht auf die Funktion eines Verhaltens bzw. auf die Verfeinerung der Anpassung durch Mutation und Selektion reduziert wird, begreifen andere Lesarten bspw. als Sinn – Menschen könnten sich absichtsvoll verhalten, suchten nach einem Sinn, strebten gar nach Selbstverwirklichung. Aktuellere Forschungen gehen wiederum davon aus, dass die Vermutung eines Sinns Quatsch ist, sondern wir nur aus Erinnerungen und Gewohnheiten bestehen.
Man kann – etwas sarkastisch reduziert – die Sinnsuche als Folge des Gewahrseins des Menschen seiner selbst in Verbindung mit allzu großen Komfortzonen begreifen: Gibt es für manche Individuen zu wenig zu tun, beginnen sie sich zu fragen, was sie eigentlich hier sollen – und lassen sich etwas einfallen. Etwas konstruktiver gewendet erscheint Sinn aus dieser Sicht als eine bewusstseinsfähige Spielart des (funktionalen) Zwecks.
Wobei es keinen Sinn macht, einen irgendwie ursprünglichen Zweck zu suchen, sonst landete man bei magischem Denken oder gar Leontjews Amöbe. Leontjew hat den Ursprung des Psychischen tatsächlich am Ursprung der gerichteten Bewegung von Einzellern festgemacht, indem er einen Unterschied zwischen Einzellern, die sich irgendwie (also zufällig) bewegen und Einzellern, die in der Lage waren, Licht mit höheren Nahrungskonzentrationen zu assoziieren und dementsprechend auf Licht zu reagieren und sich gerichtet zu bewegen, gemacht hat.
Zu Zeiten Leontjews war das sicher eine bahnbrechende Erkenntnis, wie der Begriff des Bahnbrechers in der damaligen (sowjetischen) Welt insgesamt wichtig gewesen sein mag. Aber in der Rückschau fällt auf, dass es eine recht willkürliche Unterschiedsfestsetzung gewesen sein könnte. Warum soll ausgerechnet dieser eine Aspekt der wachsenden Komplexität von Einzellern den Unterschied gemacht haben? Oder hat es sich nicht vielmehr um eine deutlich komplexere Entwicklung gehandelt, die wir nur eben in der Rückschau auf uns verständlichere Phasen- oder Stufenmodelle reduzieren?
Jenseits eines transzendierten Sinns: Der Zweck von Organisationen
Aufgrund des Umstands, dass wir Tiere sind, sind wir letztlich eine Variante oder Spielart des lebendigen Daseins auf diesem Planeten – nur mit dem Unterschied, dass wir uns, mehr oder minder, einen Kopf darüber machen können, dass wir sind – was, Bewusstsein vorausgesetzt, zwangsläufig auch zu der Frage führt, warum wir sind.
Bleiben wir aber zunächst bei dem Umstand, dass wir sind. Dieses Sein impliziert zunächst ganz säugetiermäßig Stoffwechsel, Bewegung, Fortpflanzung und anderes Verhalten ohne Einsicht in den Zweck. Es ist einfach und hinterfragt sich nicht. Nun kommt aber hinzu, dass wir zur Sprache fähig sind. Auf späteren Erkenntnisstufen führt die Sprache vielleicht auch zur Frage nach dem Warum; im Entstehungszusammenhang aber war Sprache zunächst ein Mittel zur Handlungskoordination. Wir verhalten uns nicht nur, sondern wir sind uns vermittels der mit anderen geteilten Sprache unseres Verhaltens gewahr, wodurch wir die Konsequenzen unseres Verhaltens simulieren und abschätzen können – und wodurch das Verhalten zur (kollektiv) koordinierbaren Handlung wird.
Der Zweck bleibt im Ursprung verborgen bzw. ist in alles Handeln impliziert.
Wie das Verhalten einem Instinkt oder – moderner ausgedrückt – einem Motiv folgt, so hat die Handlung einen Zweck, nur dass der Unterschied zwischen Verhalten und Handlung im Gewahrsein bzw. durch das Gewahrsein in der Entsetzung vom Verhalten liegt: Indem ich einem Reiz nicht nur folgen muss, sondern des Reizes gewahr bin, kann ich mich davon entsetzen und verschiedene Reaktionsmöglichkeiten simulieren. Voraussetzung dazu bzw. Instrument dafür ist die Sprache.
Reduzierend könnte man sagen, dass das Ziel vor dem Gewahrsein war, also unbemerkt in das Gewahrsein übergegangen ist, bzw. dass das Gewahrsein zwar das Ziel erfassen und ggf. auch infragestellen kann, aber dass das Ziel zumindest erst einmal da war oder ist.
Der Sinn einer kommunikativen Handlung liegt in der Reaktion des anderen, ist also auf Handlungskoordination ausgerichtet.
Die Handlungskoordination selbst folgt dabei einem Zweck, der zunächst einfach da ist, schon da war, bevor mit der durch die Sprache verbesserten Handlungskoordination das Bewusstsein entstanden ist und dadurch überhaupt erst die Möglichkeit entstand, nach dem Zweck zu fragen. Bis dahin war der Zweck einfach da, wie eben das Leben oder die Notwendigkeit zu atmen oder zu essen einfach da war.
Die Brücke von diesen Ursprüngen zu unseren heutigen Organisationen ist weit gespannt. Aber man muss sich das vor Augen halten, um zu verstehen, was ursprünglich der Zweck der Handlungskoordination war – und wie sich aus der Verkettung von Handlungen die Organisation ergibt. Genau wie der Zweck des Verhaltens allgemein, ist auch der Zweck von (koordinierten) Handlungen im Nebel der ursprünglichen Daseinserfordernisse zu suchen.
Wonach man fragen kann, und was sich zu analysieren lohnt
Nachdem nun geklärt wurde, dass der Zweck einer Organisation aus der Handlungskoordination selbst stammt und es sich damit um eine Art unbewusst kondensierten – und mit zunehmender Komplexität der Daseinsvorsorge auch differenzierten, aber eben grundlegenden – Merkmals handelt, können wir die praktische Anwendung des Begriffes in den Fokus nehmen, also zu möglichen Antworten auf die Frage nach dem Wert des Organisationszwecks für das praktische Denken über Organisationen kommen.
Es ist lohnenswert, nach dem eigentlichen Zweck einer Organisation zu fragen.
Freilich kann der Zweck einer Organisation nebulös und im Dickicht der Vergangenheit unkenntlich werden oder sich gar in reinen Selbstzweck auflösen. Freilich kann der Zweck einer Organisation auch unter die autoritäre Fuchtel einzelner Personen geraten – all das ist möglich. Nichts schützt eine Organisation davor, ihrem Zweck entfremdet zu werden oder aus der Zeit zu fallen.
Aber man kann eben immer nach dem eigentlichen Zweck fragen – und falls dieser nicht mehr zeitgemäß ist (= adäquate Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen um die Organisation herum liefernd), kann man immerhin noch nach den handlungsleitenden Vorstellungen zur Aktualisierung des Zwecks bzw. zur Anpassung der Organisation fragen.
Das bedeutet nicht, dass man in jedem Fall brauchbare Antworten findet, aber die Frage stellen kann man – und die Erkenntnisse, die man gewinnt, wenn man keine brauchbaren Antworten bekommt, sind allemal hilfreicher als das Geschwätz, welches man hört, wenn niemand mehr weiß, was eigentlich der Zweck ist, oder wenn viele meinen, dass es besser sei, darüber nicht erst nachzudenken (das aber um Himmels willen nicht laut aussprechen).
Freilich ist es nicht bei jeder Organisation sofort offensichtlich, welchen Zweck sie verfolgt. Wir leben in einer stark ausdifferenzierten Gesellschaft. Im Grunde können wir davon ausgehen, dass es sich bei der Geschichte der Organisationen um ein gleichzeitig immer dichter und komplexer werdendes Gewebe von Handlungskoordinationen zur Daseinsvorsorge handelt.
So mag es zunächst keine Feuerwehren gegeben haben, aber irgendwann kam jemand auf die Idee, dass man Feuer nicht nur spontan löschen, sondern die diesbezüglich notwendigen Handlungen koordinieren – und später die entsprechende Koordination sogar prophylaktisch organisieren könnte. Am Anfang war die Idee, blieb die Idee erfolgreich, wurde sie so oder so ähnlich wiederholt, daraus bildeten sich ggf. Muster, die später an nachfolgende Generationen weitergegeben wurden… und so weiter.
Ein einfaches Denkmodell und die Gefahr, Modelle zu generalisieren
Es handelt sich um ein einfaches Denkmodell: Aus dem (ursprünglichen) Zweck ergab sich die Geschichte der Organisation, aus späteren Handlungserfordernissen ergaben sich Anpassungen, aus den heutigen Erfordernissen und den “Zöpfen” aus der Vergangenheit ergeben sich die Erwartungen an die Mitglieder einer Organisation und damit deren “Aufgabenbündel” oder “Rollen”, die, systematisiert dargestellt, das Organigramm der Organisation bilden.
Ein Organigramm ist kein Selbstzweck.
Schon gar nicht ist etwa eine Hierarchie “gottgegeben” oder selbstverständlich. Hierarchien ergeben sich – wie alle Strukturen – zunächst aus dem Zweck der Organisation und den zu seiner Realisierung stattfindenden Interaktionen bzw. der entsprechenden Handlungskoordination. Aber Organisationen sind mit der Zeit voller Gewohnheiten und damit auch voller Selbstverständlichkeiten. Organisationen können tatsächlich oder auch nur gewohnheitsmäßig alt, eingefahren, unflexibel, stark formalisiert usw. sein. In vielen Fällen gehört ein gewisser Grad an organisationaler Formalisierung sogar ganz zentral zum Zweck der Organisation. So soll sich eine Behörde oder eine Einsatzorganisation ja nicht dauernd selbst neu erfinden, sondern sie soll funktionieren.
Genauso ist aber demgegenüber eine hierarchiearme Organisation keineswegs ein Selbstzweck, sondern richtet sich nach einem Zweck. Es gibt genügend Organisationen, deren Zweck man heute mit halbwegs hierarchiearmen Organisationsformen erreicht, aber es gibt auch eine ganze Reihe von Beispielen, die sich heute populären Denkmodellen (bspw. “agile” Organisation) nachhaltig widersetzen – und spätestens im Falle der korruptionsarm und korrekt arbeiten sollenden Behörden oder in den funktionieren sollenden Einsatzorganisationen ist das auch gut so.
Man muss also vorsichtig sein mit den Denkmodellen über Organisationen. Man soll sie nicht allzu schnell generalisieren oder normativ anwenden, nur weil sie einem ggf. einleuchten oder einem “irgendwie besser” erscheinen.
Beispielsweise neigen manche Berater dazu, ein Modell zu favorisieren und dieses Modell mehr oder weniger generell für “gut geeignet” zu halten. Was gut geeignet ist, ergibt sich aber aus einer komplexen Analyse des Organisationszwecks, des gegenwärtigen Zustands der Organisation und den Zielen einer möglichen Weiterentwicklung der Organisation bzw. aus den gegenwärtigen Veränderungserfordernissen.
Genauso wie die Struktur einer Organisation kein Selbstzweck ist, so ist auch keineswegs klar, dass der Zweck einer Organisation selbst auf Dauer Bestand hat. Zwecke können sich verändern, sie können auch erlöschen. Organisationen können also auch “sterben” oder schlicht geschlossen werden.
Grundsätzlich gilt: Wenn die Gewohnheitsträger aussterben oder/und klar wird, dass es kaum noch jemanden mit einem Interesse an der Organisation gibt, wird die Organisation irgendwann sterben. Aber Vorsicht: Was vielleicht für manche Druckerei oder Würfelzuckerfabrik zutreffen mag, kann in anderen Fällen nur eine ideologieschwangere Träumerei sein.
So haben sich vielleicht manche Deutsche in den friedlichen Jahrzehnten nach 1990 daran gewöhnt, dass der Zweck der Bundeswehr langsam obsolet zu werden scheint – bis dahin, dass die Kampfkraft der Truppe schrumpfen konnte, ohne dass dies ein großartig bemerkenswertes Thema gewesen sei. Bis der Ukraine-Krieg eine so genannte “Zeitenwende” bewirkt hat – zumindest erst einmal “gefühlt”; später wird man sehen, wie viel “Zeitenwende” tatsächlich stattgefunden hat.
Zwecke entstehen, ändern sich, schwächen sich ab und verlöschen oder kehren zurück und verstärken sich wieder. All das kann absichtsvoll passieren, aber auch eine Folge komplexer Entwicklungen sein, die keineswegs auf nur eine Absichtsbildung zurückzuführen sind. In letzterem Fall werden sie später wahrscheinlich “Anpassung” genannt. Man kann sich also nicht sicher sein, sondern man muss genau hinschauen und die Lage umfassend analysieren.
Ähnlich wie sich bspw. die Strukturen einer Organisation und die Aufgabenbündel/Rollen der Organisationsmitglieder anhand des Zwecks einer Organisation analysieren lassen, lässt sich auch die praktische Umsetzung, also der Prozess der Realisierung des Organisationszwecks beobachten und analysieren. In gewisser Weise hat diese Analyse sogar Vorrang, denn wir hatten ja gesehen, dass sich eine Organisation quasi aus der Verkettung der Handlungen bzw. aus der damit verbundenen Handlungskoordination ergibt. Auch Strukturen ergeben sich daraus und verändern sich dadurch. Auch wenn sich z.B. besonders alte oder formalisierte oder von Macht beherrschte Strukturen der Veränderung bisweilen heftig widersetzen, heißt das nicht, dass sie sich nicht verändern.
Es kann langwierig werden und viele Versuche brauchen oder gar blutig werden und eines regelrechten Zusammenbruches bedürfen (wie im Falle vieler Diktaturen). Es ist auch keineswegs garantiert, dass das, was danach kommt, irgendwie besser ist. Es kann nämlich sein, dass auf neuerliche Anpassungs- und Lernprozesse verzichtet und einfach behauptet und qua Macht durchgesetzt wird, was besser sei. Dass es dann ggf. nicht funktioniert, führt zum nächsten Problem bzw. Erfordernis.
Nur weil wir die Entstehung von Organisationen anhand relativ offener Interaktionsprozesse erläutert haben, bedeutet das nicht, dass alle diese Prozesse so frei und beliebig ablaufen.
Konkrete Analysefragen
Zurück zum Zweck der Organisation und der Analyse des Prozesses der Umsetzung des Zwecks. Praktisch handelt es sich um eine recht einfache Frage: Zahlen die Handlungen der Organisationsmitglieder auf den Zweck ein?
Diese Frage lässt sich auf drei Ebenen analysieren:
- Auf der Ebene der konkreten Handlungen: Ist das, was ein Organisationsmitglied tut, dazu geeignet, dem Organisationsziel näher zu kommen?
- Auf der direkten Führungsebene: Führungskräfte stehen ja, folgt man dem hier beschriebenen Modell, in gewisser Weise zwischen dem Zweck und den Mitgliedern einer Organisation. Aus dem Organisationszweck ergeben sich Erwartungen an die Mitglieder; die Mitglieder ihrerseits haben selbstverständlich auch Erwartungen an ihre Organisation. Führung bedeutet aus dieser Sicht “Erwartungsmanagement” oder die “Moderation eines Erwartungsabgleichs”.
- Auf der indirekten bzw. strukturellen/prozessualen Ebene: Sind die Strukturen und Prozesse dazu geeignet, dass die Organisationsmitglieder wissen, was sie machen sollen, damit ihre Handlungen auf den Zweck der Organisation einzahlen? Mit anderen Worten: Funktioniert Führung auch über die Handlungen einer konkreten Führungskraft hinaus? Vor dem Hintergrund des hier dargestellten Denkmodells besteht Führung primär im Management von Erwartungen und sekundär im Zusammenwirken verschiedener Führungskräfte in Bezug auf die Realisierung des Organisationszwecks.
An dieser Stelle sei auf ein nach meiner Erfahrung recht häufiges Phänomen verwiesen. Organisationen bestehen ja nicht nur aus ihrem Zweck und der sich daraus ergebenden Handlungskoordination. Vielmehr gibt es ja neben dem Aspekt des notwendigen “Alignments” menschlicher Handlungen, also neben der Notwendigkeit der Unterordnung menschlicher Handlungen unter den generellen Zweck der Daseinsvorsorge bzw. den – ggf. abstrakteren oder indirekteren – Zweck der Organisation noch einen “rein menschlichen” Faktor, der aus Emotionen und informellen Beziehungen besteht. Eine ausführliche Analyse dieser Zusammenhänge kann man hier nachlesen.
Pflichtverweigerung: Wenn Organisationsmiglieder die eigenen Belange für wichtiger erachten als die der Organisation
Dieser Faktor ist erst einmal grundsätzlich vorhanden, wird aber dann virulent, wenn Menschen ihre individuellen Belange oder die Belange etwa einer Subgruppe gleichsam “über” den Zweck der Organisation stellen. Als Menschen haben wir individuelle Bedürfnisse nach Status, Nähe usw., die sich in der Erfüllung einer Rolle teilweise, aber in der Regel nicht ganz erfüllen lassen. Kommt es nun zur Frustration von Bedürfnissen oder sind sich eine Reihe von Organisationsmitgliedern bezüglich bestimmter Aspekte einig (z.B. “Mit dieser Chefin wollen wir nicht arbeiten!”), kann es vorkommen, dass die eigenen Belange als so bedeutsam erachtet werden, dass diese Belange in ihrer Bedeutung stärker bewertet werden als die Bedeutung des Organisationszwecks. Handelt es sich um Mitarbeiter auf unteren Ebenen, kann dies ggf. länger toleriert werden – ausschalten lässt sich dieser “rein menschliche Faktor” nicht. Formal interpretiert handelt es sich in gewisser Weise um eine “Pflichtverweigerung”, also eine tendentielle Nichterfüllung der eigenen Aufgaben oder eine (tendentiell wenig bewusste) Infragestellung der eigenen Rolle. Handelt es sich dabei aber um Führungskräfte, ist dies nicht nur möglicherweise, sondern unbedingt zu thematisieren, denn hier kann die besagte “Pflichtverweigerung” Ausmaße annehmen, die dazu geeignet sind, die Organisationsleistung zu reduzieren oder die Effektivität der Organisation insgesamt infragezustellen.
Das ist natürlich eine Gratwanderung: Akzeptiert eine Führungskraft den Zweck der Organisation, bemängelt aber die Umsetzung und hat diesbezüglich Vorschläge, so ist dem im Sinne einer effektiven oder sogar effizienten Organisation Gehör zu schenken. Handelt es sich aber um eine selbstschutz-bezogene Rückzugshandlung, macht der oder die Betreffende also etwa demonstrativ Dienst nach Vorschrift, unterminiert aber das Miteinander durch mehr oder minder dauernde unsachliche Bemerkungen, so ist darauf eher bald zu reagieren – im ersten Ansatz sicher mit einem gut gemeinten, aber grundsätzlichen Erwartungsabgleich und einer Vereinbarung, wie es weitergehen soll für diese Person, oder aber (bei bleibender Verweigerungshaltung) mit einer Versetzung oder Kündigung der betreffenden Person.
Andauernde Pflichtverweigerung ist etwas, das geahndet werden muss, sonst ist es geeignet, auf Dauer das Funktionieren der Organisation zu untergraben. Besonders schwerwiegend wirkt sich solches Verhalten auf der Ebene mittlerer Führungskräfte aus.
Im Grunde ergeben sich aus dem Zweck der Organisation Ziele, Werte und konkrete Handlungen. Aus diesem Dreiklang – Ziele, Werte und Handlungen – ergibt sich ein Maßstab für die Analyse der konkreten Tätigkeiten eines Organisationsmitglieds, und zwar unabhängig von der Frage, ob es sich dabei um eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter oder eine Führungskraft handelt. Ich habe diesen Maßstab in einem anderen Text ausführlich beschrieben.
Schließlich kann es über die Ebene der Entsprechung von Strukturen und Rollen und über die Ebene des konkreten Handelns hinaus noch um den Zweck der Organisation an und für sich gehen.
Hier sind manchen Organisationen mehr oder minder selbstverständliche Grenzen gesetzt: eine Behörde oder eine Feuerwehr oder ein Rettungsdienst sollen ihren Zweck nicht hinterfragen; Mitglieder können bspw. Führungshandlungen hinterfragen, wenn sie etwa nicht zweckentsprechend oder im Zweifelsfall sogar nicht der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland entsprechen, aber ein Mitglied solcher Organisationen kann sich im Normalfall nicht fragen, ob es eine Aufgabe umsetzt oder nicht. Die Aufgabenerfüllung ist im Zweck der Organisation vorgesehen, und die Erfüllung des Zwecks der Organisation ist Gegenstand des Arbeitsvertrags.
Für eine Anwendung der hier dargestellten “Denke” über Organisationen auf das Beispiel der Führung von Feuerwehren, siehe diesen Text.
Die ethische Dimension: Fragen nach der Verfassung der Organisation insgesamt
Unter ganz bestimmten Voraussetzungen und in Organisationen, deren Zweck nicht durch gesetzliche Bestimmungen direkt geregelt ist, kann es zu einer Hinterfragung des Zwecks kommen, kann man eine gleichsam verfassungsmäßige Frage stellen. Manche Organisationen, wie bspw. in schnell drehenden Marktsegmenten operierende oder besonders agile Unternehmen, sind sogar auf die regelmäßige Vergewisserung zu dieser Frage angewiesen. Man kann den Zweck einer Organisation hinterfragen, etwa mit den folgenden Fragen: Ist der Zweck noch zeitgemäß? Oder: Welche Antworten liefert der Zweck auf die gegenwärtigen (Markt-)Erfordernisse und Bedingungen?
In solchen Fällen muss man ab und an die Frage stellen, ob das Ganze noch funktioniert (reine Zweckbetrachtung) bzw. wie es funktioniert (Mittel-Ziel-Relation, also Effektivität oder sogar Effizienz)… Hinzu kommt noch die Betrachtung der Folgen der Verfolgung des Zwecks (bspw. Nachhaltigkeit) oder gar der Voraussetzungen des Zwecks:
- Wozu machen wir das?
- Soll der Zweck noch sein, oder wie_soll der Zweck aussehen? _Wie soll der Zweck umgesetzt werden?
Spätestens dann ist man bei der ethischen Dimension organisationalen Handelns angelangt, und die Zukunft der Menschheit scheint kaum denkbar ohne eine weitaus stärkere Reflexion dieser Dimension organisierten Handelns als bisher.
Für eine genauere Betrachtung der ethischen Dimension organisierten Handelns sei noch einmal auf den Text zum Dreiklang Ziele – Werte – Handlungen verwiesen.
Zusammenfassung
In diesem Text ging es um den Zweck von Organisationen als “Ordnungsprinzip” für das, was in Organisationen konkret geschieht. Der Organisationszweck bildet nicht nur eine Analysegrundlage für Organisationsstrukturen und ‑prozesse, sondern auch einen Maßstab für die Handlungen von Organisationsmitgliedern und Führungskräften. Es wurde schließlich deutlich, wo die Grenzen von in Organisationen möglichen Handlungen verlaufen und wann es sich etwa um eine “Pflichtverweigerung” handelt.
Bei der Betrachtung einer Organisation von ihrem Zweck her handelt es sich um eine recht allgemeine Ebene der Organisationsanalyse. An anderer Stelle auf diesem Blog lässt sich nachlesen, auf welchen konkreteren Ebenen sich Organisationen analysieren lassen (bspw. Struktur, Prozess, Kultur) und welche Fragen diesbezüglich hilfreich sind.
Fallbeispiel
Abschließend soll hier noch anhand eines Fallbeispiels geschildert werden, wie sich das hier dargestellte Modell des Organisationszwecks in der Praxis anwenden lässt. Auf ein weiteres praktisches Beispiel der Anwendung im Kontext von Feuerwehren wurde weiter oben bereits verwiesen. Doch nun zum abschließenden Beispiel:
Nehmen wir an, es handelt sich um einen Produktionsstandort mit ca. 400 Mitarbeitern irgendwo in Sachsen. Die Konzernmutter ist weit weg, sodass fast alle wesentlichen Betriebsteile einschließlich einer kleinen Entwicklungsabteilung vor Ort vorhanden sind. Man blickt auf eine längere Tradition zurück, und für viele Mitarbeiter ist es nicht die erste Konzernmutter, sodass man sich als relativ unabhängig versteht und auch gewohnt ist, wesentliche Entscheidungen vor Ort zu treffen. Seit einer Weile gibt es Probleme in einem Produktionsbereich. Es hat damit angefangen, dass insbesondere die Tag- und die Nachtschicht zu “verschiedenen Welten” wurden. Führungskräfte waren vor allem tagsüber anwesend, Dinge, die in der Spätschicht oder nachts schief liefen, wurden nicht mehr angesprochen bzw. einfach “weiterlaufen gelassen”. Es zog langsam, aber sicher ein gewisser Schlendrian ein, und man redete vor allem übereinander, weniger miteinander, und wenn man versuchte, miteinander zu reden, kam es häufiger zu Schuldzuweisungen, als dass man versuchte, nach Ursachen für die Probleme zu suchen und sich zu einigen. Hinzu kamen eine Reihe schneller Wechsel auf Führungsebene. Die Teams der verschiedenen Schichten spalteten sich in Untergruppen. Natürlich blieben die Probleme nicht nur unter den Beteiligten, sondern erreichten auch die Führunsebenen, allerdings wurden die Probleme erst im Zusammenhang mit größeren Schäden durch Ausschuss bzw. Produktionsausfälle auf Führungsebene ernst genommen. Es gab, wie überall, verschiedene, besonders gut funktionierende informelle Kanäle im Unternehmen. So hatte der Werksleiter noch aus “alten Zeiten”, als das Werk noch viel kleiner war, gute Verbindungen zu einigen Produktionsmitarbeitern. Diese holte er in sein Büro und befragte sie, was denn eigentlich los sei. Die Personalleiterin des Standortes hatte wiederum einen direkten Draht zu einer Führungskraft, die vor noch nicht allzu langer Zeit eingestellt worden war in der Hoffnung, dass sie das Problem lösen könnte. Hinzu kam, dass der Betriebsratsvorsitzende in dem besagten Bereich arbeitete, seinerseits ebenfalls eine persönliche Version der Dinge hatte und sich wiederum gut mit dem für Technologie zuständigen leitenden Ingenieur des Werkes verstand. Und so weiter. Es ist nicht zielführend, hier das gesamte Netz informeller Beziehungen nachzuzeichnen. Wichtig ist nur zu wissen, dass die informellen Beziehungen im Unternehmen bedeutsamer sind als die formalen, also dass sich das Verhalten der Mitglieder einer Organisation meistens stärker nach den informell wirksamen Verhältnissen richtet als nach den formalen. Es gab also eine ganze Reihe verschiedener Sichtweisen auf das Problem, die auf informellen Kanälen geteilt wurden. Natürlich gab es auch Versuche, das Problem zu klären. Diese Versuche führten aber immer wieder zu Mustern aus Kritik und Rechtfertigung bzw. zu Schuldzuweisungen. Die Kommunikation wurde immer defensiver und nahm recht bald die Gestalt von so genannten “defensiven Routinen” an. Die Beteiligten versuchten zwar (vorwiegend aus Gründen des Selbstschutzes, die aber eben oft unbewusst bleiben), die Probleme zu lösen, verstrickten sich aber in Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen. Damit taten sie unbewusst etwas, das alles andere als hilfreich ist für das Funktionieren einer Organisation: sie stellten ihre persönlichen Belange immer mehr über den Zweck der Organisation. Sie betonten zwar immer wieder, an einer sachlichen Lösung der Probleme interessiert zu sein, bewirkten mit ihren Handlungen aber genau das Gegenteil.
Indem ich zwar (bewusst) an einer Lösung interessiert bin, aber (weniger bewusst) an “meiner” Version der Dinge festhalte, wird irgendwann die eigene emotionale Involviertheit in die Konfliktdynamik für meine Handlungen bedeutsamer als die Implikationen, die sich aus dem Unternehmenszweck “eigentlich” für meine Rolle ergeben. Ich bin dann so gefangen in der Dynamik, dass ich zwar denke, das im Sinne des Organisationszwecks Richtige zu tun, gleichzeitig aber nicht merke, dass ich mit zunehmender Emotionalität des Geschehens die Organisationsziele immer mehr mit meinen assoziiere bzw. verwechsle.
Die “Lösung” dieses Problems liegt in einer Art Entsetzung von der eigenen (emotional gefärbten) Sichtweise – oder eben der Sichtweise, die ich von anderen übernommen habe, ggf. sogar, ohne mir die anderen vorhandenen Sichtweisen in ausreichender Weise angehört und diese reflektiert zu haben. Es geht darum, sich von der eigenen Sichtweise zu distanzieren, die Perspektive des Zwecks der Organisation und der damit verbundenen Ziele einzunehmen, und sich dann zu fragen, was für die Organisation richtig wäre, welche Implikationen sich daraus für die einzelnen beteiligten Rollen ergeben und welche (auf dieser Grundlage meist: neuen) Ideen es gibt, sich der Lösung des Problems auf andere Weise als bisher zu nähern.
Man kann und darf solche Abstraktionsleistungen sicher nicht von jeder Mitarbeiterin und jedem Mitarbeiter erwarten. Aber spätestens bei entscheidenden Führungsrollen kann und sollte man solche Abstraktionen und Differenzierungen durchaus erwarten können. “Durchaus” deshalb, weil es allzu menschlich ist, Emotionen zu zeigen, sich in Konflikte zu verstricken, eine mehr oder weniger gut begründete eigene Version der Dinge zu haben. Es handelt sich ja wie gesagt auch um “weniger bewusste” kommunikative Vorgänge, sodass vieles im Ansatz verzeihlich ist. Im Ansatz ja, aber nicht im Ergebnis. Hier liegt der Unterschied zwischen den Ebenen von Organisationsangehörigen ohne und Führungskräften mit viel Entscheidungsgewalt.
An dieser Stelle setzt oft unsere Beratung an:
- Was ist der Zweck der Organisation?
- Heruntergebrochen auf die jeweilige Situation: Was wäre für das Unternehmen in dieser Situation das Beste?
- Welche Implikationen/Erwartungen ergeben sich aus den Antworten auf die vorgenannten Fragen für die Rollen der Beteiligten in dieser Situation?
- Was müssten die Beteiligten demnach konkret tun?
In der Regel ist eine Thematisierung dieser Fragen – ggf. in Verbindung mit der Analyse bisheriger Handlungsmuster oder Situationsverläufe und ggf. auch in Verbindung mit wohltemperierten Konfrontationen – für das Verständnis der Probleme und für die Herstellung der Voraussetzungen zur Erarbeitung von Lösungen hilfreich. Oft bedeutet das Verständnis der Problemhintergründe noch nicht, dass die Beteiligten die Probleme sofort selbst lösen können, in solchen Fällen ist eine Zeit lang moderierende Begleitung in Verbindung mit ggf. neuerlichen Analysen und Konfrontationen notwendig.
Vielleicht ist die eben beschriebene Beratungsmethode genau das, was Chris Argyris in einem seiner wesentlichen Texte über defensive Routinen meinte, als er sagte, man müsse den von defensiven Kommunikationsmustern Betroffenen regelrecht “beibringen”, anders zu kommunizieren. Chris Argyris’ Kommunikationstheorien sind nach meinem Dafürhalten für das Verständnis kommunikativer Probleme und vor allem für die Gestaltung tatsächlich funktionierender bzw. hilfreicher Interventionen hilfreicher als die in Deutschland populären Lehrbücher von Friedemann Schulz von Thun, mit dessen Modellen man Kommunikation zwar beschreiben und ggf. auch erklären kann, man aber am Ende dennoch oft nicht weiß, wie man wirksam intervenieren kann – außer ein Kommunikationsseminar auf der Basis genau dieser Modelle durchzuführen, was leider sehr oft gemacht wird, aber kaum etwas bewirkt.
Im hier beschriebenen Fall forderte der Werksleiter die Beteiligten immer wieder auf, sich zusammenzureißen, früher sei es doch auch gegangen, da müsse eben mal einer eine klare Ansage machen, und dann liefe das schon. Aber genau das funktionierte eben nicht. Vielmehr fühlte sich eine Seite (eine Gruppe der länger zum Unternehmen gehörenden Mitarbeiter) bestärkt, während die andere Seite (vor allem eine jüngere Führungskraft, die bestimmte Umgangsweisen mit Fehlern hinterfragte) nicht genug Rückhalt bekam. Richtig wäre gewesen, die Träger älterer Gewohnheiten aufzufordern, ihre Routinen durch die jüngere Führungskraft hinterfragen zu lassen und gemeinsam an der Lösung der Probleme zu arbeiten, also bspw. neue Wege der Fehleranalyse, der transparenten Informationsweitergabe usw. auszuprobieren. Die Lösung scheiterte nicht etwa an mangelnder Kompetenz, sondern an Vorurteilen, also am mangelnden Zutrauen.
Waren die “wohltemperiert grausame” Konfrontationen einmal gesetzt, lief es fortan deutlich besser. Es ging lediglich nur darum, die “gefühlte Bedeutung” der eigenen Betroffenheit und Sichtweise soweit zu reduzieren, dass der Zweck der Organisation wieder in den Fokus gerückt werden konnte, was letztlich für jede und jeden Beteiligten eine “innere” Aufgabe ist, die er oder sie nur selbst ausführen kann.
Der Wortlaut der Intervention war etwa dieser, wobei Versionen davon sowohl in Einzelgesprächen als auch in Team- und Führungsterminen zur Sprache kamen: “Ihre Aufgabe ist es nicht, sich zu streiten und dann zu keiner Entscheidung zu kommen; ihre Aufgabe ist es, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und so lange verschiedene Optionen zu probieren und auszuwerten, bis Sie einen Weg gefunden haben, wie es besser funktioniert. Genau das ist ja ihr Job. Dieses Unternehmen ist darauf angewiesen, dass die Schnittstelle zwischen Ihren Bereichen funktioniert. Ansonsten stellen Sie ja Ihre persönlichen Belange über die des Unternehmens, und das ist, wenn man davon ausgeht, wozu dieses Unternehmen existiert, so nicht vorgesehen. Lassen Sie uns also jetzt gemeinsam überlegen, wie jenseits persönlicher Kritiken, an denen jeweils auch etwas dran ist, die Schnittstelle zwischen Ihren Bereichen aussehen müsste, damit am Ende der Prozesskette mehr von dem herauskommt, was eigentlich herauskommen soll. Es geht nicht darum, wer welche Schuld trägt oder wie viel, sondern es geht darum, dass am Ende möglichst viel von dem herauskommt, was herauskommen soll. Dem haben Sie sich persönlich unterzuordnen. Natürlich sollen Sie sagen, was schief läuft, darum geht es ja, aber danach sollen Sie auch gemeinsam daran arbeiten, wie es besser laufen kann. Dazu hat jede und jeder von Ihnen Ideen. Die Frage ist, wie diese Ideen zu realistischen Vorschlägen und Versuchen zusammengefügt werden können, die man umsetzen oder ausprobieren und deren Ergebnisse man auswerten kann.”