Wie bekommt man Ordnung in das Denken über Organisationen? Über den Organisationszweck als Denkmodell zur Führung, Entwicklung und Analyse von Organisationen

In die­sem Text geht es zunächst um den Ursprung, spä­ter um den Zweck von Orga­ni­sa­tio­nen. Aus der Betrach­tung des Zwecks einer Orga­ni­sa­ti­on erge­ben sich ver­schie­de­ne prak­tisch rele­van­te Hin­wei­se zum Ver­ständ­nis und zur Bera­tung bzw. Ent­wick­lung von Orga­ni­sa­tio­nen. Die metho­di­sche Umsetz­bar­keit der Dar­stel­lun­gen wird am Ende des Tex­tes anhand eines Pra­xis­bei­spiels illus­triert. Die anfäng­lich sehr aus­führ­li­chen theo­re­ti­schen Dar­stel­lun­gen mögen den sofort erfass­ba­ren prag­ma­ti­schen Wert und die Les­bar­keit des Tex­tes ver­rin­gern, die­nen aber einem umfas­sen­de­ren Verständnis.

Der von mir sehr geschätz­te Orga­ni­sa­ti­ons­psy­cho­lo­ge Edgar Schein hat ein­mal geschrie­ben, dass wir uns, was das Den­ken über Orga­ni­sa­tio­nen angeht, in einer Art vor-dar­wi­ni­schen Zeit­al­ters befin­den. Das heißt mei­nes Erach­tens, dass es zwar vie­le Bil­der und Denk­mo­del­le über Orga­ni­sa­tio­nen gibt (drei nach mei­nem Dafür­hal­ten recht gut geschrie­be­ne Über­sich­ten zu den vor­han­de­nen Theo­rien lie­fern Mor­gan, Kie­ser oder Her­nes), dass es aber nach wie vor an einem umfas­sen­den Ver­ständ­nis fehlt.

Eine Theo­rie kann also zutref­fen – und es gibt Model­le, mit denen man viel erklä­ren kann (bspw. das der Orga­ni­sa­ti­ons­kul­tur) – aber es gibt eben auch oft genug Phä­no­me­ne, die sich mit einer oder meh­re­ren Theo­rien zwar irgend­wie, aber eben doch nicht hin­rei­chend erklä­ren lassen.

Auch wenn die Tex­te auf die­sem Blog an die­ser Lage nichts ändern wer­den, hat mich Scheins Fra­ge nicht mehr los­ge­las­sen, seit dem ich sie gele­sen und dann auch noch ein­mal direkt von ihm selbst gehört habe. So sei es mir gestat­tet, hier eini­ge Über­le­gun­gen auf­zu­schrei­ben, die m.E. einen wesent­li­chen Bei­trag zum bes­se­ren Ver­ständ­nis des kom­ple­xen Phä­no­mens Orga­ni­sa­ti­on zu lie­fern in der Lage sind.

Woll­te man die in der Über­schrift gestell­te Fra­ge wirk­lich umfas­send beant­wor­ten, dürf­te man sich ihr zunächst nicht orga­ni­sa­ti­ons­psy­cho­lo­gisch nähern, son­dern müss­te die Per­spek­ti­ve wei­ter fas­sen. Man müss­te die Fra­ge stel­len, woher das Phä­no­men “Orga­ni­sa­ti­on” über­haupt kommt, womit man min­des­tens bei der Anthro­po­lo­gie und im wei­te­ren Sin­ne auch bei der Sozio­lo­gie lan­den wür­de. Man wür­de zu den Anfän­gen des Men­schen zurück­ge­hen und fest­stel­len, dass unse­re Art nicht etwa das Ende einer lan­gen Ent­wick­lung von Pri­ma­ten über Vor­men­schen hin zum Men­schen war, son­dern dass der homo sapi­ens nur eine von meh­re­ren oder gar vie­len Men­schen­ar­ten war, es ihm nur gelun­gen ist, sich durch­zu­set­zen bzw. die Mit-Arten aus­zu­rot­ten, um sich dann ein­zu­bil­den, dazu geschaf­fen wor­den zu sein, sich die Erde unter­tan zu machen (was wir in Bezug auf die von uns beein­fluss­ba­ren Fak­to­ren geschafft haben dürf­ten). Man wür­de fest­stel­len, dass die­se Erfol­ge wahr­schein­lich in der uns eige­nen, ziem­lich effi­zi­en­ten Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on begrün­det lie­gen, womit man beim Ursprung der Spra­che als Mit­tel zur Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on lan­den würde.

Ich habe die­se Zusam­men­hän­ge an ande­rer Stel­le auf die­sem Blog aus­führ­lich beschrie­ben, wes­halb die­se Ent­wick­lun­gen hier nicht noch ein­mal nach­ge­zeich­net wer­den sollen.

Wir neh­men also an, dass Men­schen ihre Hand­lun­gen mit­ein­an­der koor­di­nie­ren, und dass die Art, wie wir dies tun, so effi­zi­ent wur­de, dass wir uns nicht nur durch­ge­setzt haben, son­dern dass wir den Erd­ball spür­bar gestal­tet haben. Wir sind seit Lan­gem nicht mehr nur Teil der Natur, son­dern wir haben Tei­le der Natur so in den Griff bekom­men, dass sie unse­ren Zwe­cken unter­ge­ord­net ist (ande­re Tei­le haben wir ent­spre­chend dezi­miert oder zurück­ge­drängt). Wir haben unse­re Lebens­um­stän­de so ver­än­dert, dass es Mil­li­ar­den von uns mög­lich ist, auf die­sem Pla­ne­ten zu leben, ohne stän­di­gen Bedro­hun­gen aus­ge­setzt zu sein. Die aktu­el­len Bedro­hun­gen sind fast aus­schließ­lich Begleit­erschei­nun­gen (bspw. Krie­ge) oder unbe­ab­sich­tig­te Wir­kun­gen (bspw. der Kli­ma­wan­del) unse­rer koor­di­nier­ten Hand­lun­gen – aber (aller­meis­tens) eben kei­ne plötz­lich aus dem Dickicht her­vor­bre­chen­den wil­den Tiere.

Wenn ein Mensch etwas aus­pro­biert und damit erfolg­reich ist, steigt die Wahr­schein­lich­keit, dass er dies unter ähn­li­chen Umstän­den wie­der ver­su­chen wird. Bleibt der Erfolg wahr­schein­lich, wird aus den ent­spre­chen­den Ver­su­chen irgend­wann ein Muster.

So auch, wenn es sich um die Hand­lun­gen meh­re­rer Men­schen han­delt: Wir über­le­gen etwas, pro­bie­ren etwas aus, kom­men nicht zum Ziel, ändern die Vor­ge­hens­wei­se, schaf­fen es viel­leicht und pro­bie­ren es im Erfolgs­fall wie­der so oder so ähn­lich. Wenn das über län­ge­re Zeit hin­weg erfolg­reich bleibt, geben wir die Hand­lungs­mus­ter wei­ter, brin­gen ande­ren (bspw. unse­ren Kin­dern oder Lehr­lin­gen) etwas bei. Spä­te­re Gene­ra­tio­nen müs­sen also, wenn es um bestimm­te, bereits erprob­te Hand­lun­gen geht, nicht in jedem Fall auf das Mus­ter Ver­such und Irr­tum zurück­grei­fen, son­dern kön­nen (zunächst: auch; spä­ter: immer mehr) dar­auf zurück­grei­fen, was frü­he­re Gene­ra­tio­nen bereits erlernt und erwor­ben haben.

Die­se kur­zen Dar­stel­lun­gen ent­hal­ten bereits eini­ge wesent­li­che Ele­men­te des Begriffs Orga­ni­sa­ti­on: Jemand pro­biert etwas, um ein bestimm­tes Ziel zu errei­chen; das kann erfolg­reich sein oder nicht. Aus erfolg­rei­chen Ver­su­chen bil­den sich Mus­ter. Das funk­tio­niert nicht nur indi­vi­du­ell, son­dern auch im Ver­band, d.h. unter Koor­di­na­ti­on mit ande­ren Indi­vi­du­en. Auch als Grup­pe kann man Zie­le ver­fol­gen (bspw. Belan­ge der Ver­bes­se­rung der Daseins­vor­sor­ge, die man über­haupt nur durch Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on errei­chen kann). Der Modus der Koor­di­na­ti­on ist die Spra­che. Erfolg­rei­che Hand­lun­gen wer­den wie­der­holt. Auch gemein­sam koor­di­nier­te erfolg­rei­che Hand­lun­gen wer­den wie­der­holt. Dar­aus wer­den Gewohn­hei­ten bzw. eine Art “Gewohn­heits­wis­sen”, das an nach­fol­gen­de Mitglieder/Generationen wei­ter­ge­ge­ben wird.

Die gemein­sa­me Koor­di­na­ti­on, das gemein­sa­me “Gewohn­heits­wis­sen” und das “Bei­brin­gen” bil­den den Rah­men des­sen, was wir als Orga­ni­sa­ti­on ver­ste­hen. Orga­ni­sa­tio­nen bestehen aus mit­ein­an­der ver­ket­te­ten Hand­lun­gen und geben ihr erwor­be­nes Gewohn­heits­wis­sen an neue Mit­glie­der weiter.

Das Gewohn­heits­wis­sen wird, sobald es besteht, auch eine gewis­se Schwer­kraft oder ein Behar­rungs­ver­mö­gen ent­wi­ckeln (“Das haben wir schon immer so gemacht!”), eben weil es auf Erfah­rung beruht und wei­ter­ge­ge­ben wird. Irgend­wann wis­sen die Betei­lig­ten nichts mehr von den Ori­gi­nal­erfah­run­gen, dafür sind dann zu vie­le Gene­ra­tio­nen ins Land gegan­gen. Hier hel­fen Mythen­bil­dun­gen – Vor­fah­ren, spä­ter Göt­ter und ande­re kano­ni­sier­te Regel­sys­te­me. Am Ende einer lan­gen Ket­te von Fort­set­zun­gen sind bspw. auch unse­re heu­ti­gen Berufs­aus­bil­dun­gen und Stu­di­en­gän­ge nichts ande­res als kano­ni­sier­te Sys­te­me der Wei­ter­ga­be von Wis­sen und Prozeduren.

Neue­run­gen sind dann oft nur noch durch “Ein­fäl­le” mehr oder min­der jun­ger oder frus­trier­ter oder ander­wei­tig zum Nach­den­ken oder zur Rebel­li­on gekom­me­ner Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glie­der mög­lich – und sind des­halb kaum ohne Kon­flik­te rea­li­sier­bar, die in der Geschich­te mit­un­ter sehr blu­tig abge­lau­fen sind. Man den­ke etwa an die “Ein­fäl­le” eines Mar­tin Luther in Bezug auf die Orga­ni­sa­ti­on Kir­che und ihre über­aus blu­ti­gen Folgen.

So ist das: Wenn wir etwas pro­bie­ren und es nicht klappt, kön­nen wir uns etwas ein­fal­len las­sen. Aber hat es lan­ge genug geklappt und ist der “Ein­falls­zu­sam­men­hang” lan­ge genug her, wol­len vie­le von uns kaum mehr etwas ändern und bestra­fen sogar neue “Ein­fäl­le”.

Die heu­te popu­lä­re Idee einer adap­ti­ven bzw. auch sich selbst her­aus “ler­nen­den” Orga­ni­sa­ti­on ist also die einer Grat­wan­de­rung zwi­schen den (bewah­ren­den) Phä­no­me­nen, die mit der Zeit einer Orga­ni­sa­ti­on inne­woh­nen und jenen ande­ren, ursprüng­lich ein­mal zu eben jener Anpas­sung geführt haben­den, adap­ti­ven Mecha­nis­men, die zu neu­en Ideen füh­ren. Letzt­lich geht es um eine Grat­wan­de­rung zwi­schen Gewohn­heit und Einfall.

Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glie­dern, die zu sehr auf der Sei­te der Gewohn­heit ste­hen, fällt nichts mehr ein, und jene, denen nur etwas ein­fällt, sind kaum oder nur unter sehr bestimm­ten Vor­aus­set­zun­gen inte­grier­bar in eine Organisation.

Hier wird ein wei­te­res Ele­ment von Orga­ni­sa­tio­nen deut­lich: Durch die “Ein­fäl­le” neu­er oder frus­trier­ter oder die Rou­ti­nen aus sich her­aus infra­ge stel­len­der Mit­glie­der “mäan­dern” Orga­ni­sa­tio­nen zwi­schen Rou­ti­ne und Anpas­sung, was von teils hef­ti­gen Kon­flik­ten beglei­tet sein kann oder bspw. auch zu län­ge­ren Pha­sen der Bewah­rung füh­ren kann.

Orga­ni­sa­tio­nen las­sen sich also in gewis­ser Wei­se als “kon­den­sier­te” oder zeit­lich über­dau­ern­de Mus­ter der Ver­fol­gung eines Zwecks begreifen.

Weil dies oder das erreicht wer­den soll, kommt es zur Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on; war die­se erfolg­reich, bil­den sich Mus­ter und wer­den ggf. wei­ter­ge­ge­ben. Das kann zu Bewah­rungs­phä­no­me­nen füh­ren, die einer­seits an neue Mit­glie­der wei­ter­ge­ge­ben wer­den, ande­rer­seits aber auch von Mit­glie­dern einer Orga­ni­sa­ti­on infra­ge gestellt wer­den kön­nen. Im Grun­de ste­hen sich in Orga­ni­sa­tio­nen die in der Ver­gan­gen­heit erfolg­reich gewe­se­nen Mus­ter der Daseins­vor­sor­ge mit neu­en Ideen zur Daseins­vor­sor­ge gegen­über. Über allem steht jedoch der Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on (hier zunächst ganz all­ge­mein: Daseinsvorsorge).

Die­ser Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on kann mit der Zeit obso­let wer­den, aber der Zweck war im Ent­ste­hungs­zu­sam­men­hang ein­mal der Impuls zur Bil­dung einer Organisation.

Orga­ni­sa­tio­nen las­sen sich des­halb am bes­ten ver­ste­hen, wenn man sie vor dem Hin­ter­grund ihrer Ent­ste­hung bzw. ihres Zwecks betrachtet.

Der Orga­ni­sa­ti­ons­zweck ist das­je­ni­ge Merk­mal einer Orga­ni­sa­ti­on, dem sich alles unter­ord­net, eben weil der Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on ein­mal der Ursprung für alle Hand­lun­gen und die Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on war.

Die Orga­ni­sa­ti­on selbst kann (und oft auch: soll­te) sich natür­lich immer wie­der Umwelt­er­for­der­nis­sen anpas­sen, muss es aber nicht. Hier geht es sowohl um eine (evo­lu­tio­nä­re) Anpas­sungs­leis­tung als auch um einen absichts­vol­len Pro­zess – oder viel­leicht um einen Pro­zess, in dem Absich­ten eine Rol­le spie­len, der aber von Wei­tem wie eine evo­lu­tio­nä­re Anpas­sungs­leis­tung aussieht.

Es gibt eini­ge der­zeit recht popu­lä­re­re Publi­ka­tio­nen, die ihrer­seits ent­we­der stär­ker die evo­lu­tio­nä­re Sicht­wei­se ver­tre­ten (bspw. Hara­ri) oder stär­ker absichts­vol­le Ent­wick­lun­gen beto­nen (aktu­ell vor allem Grae­ber & Wen­grow). Die Geschich­te der Mensch­heit lässt sich unse­res Erach­tens aber eher sowohl als Fol­ge von Anpas­sun­gen als auch als Fol­ge von Absich­ten erklä­ren. Es hilft wenig, sich hier ledig­lich auf einen der bei­den Stand­punk­te zu stel­len. Man gerät dadurch in ein Dickicht ähn­lich dem, das sich aus der Fra­ge ergibt, ob der Mensch nun im Grun­de gut (bspw. Breg­man) oder (als Teil bestimm­ter Orga­ni­sa­tio­nen) böse (bspw. Zim­bar­do) sei bzw. ob die Mensch­heit zum Kol­laps ver­dammt (bspw. Dia­mond) oder vor allem anpas­sungs- oder lern­fä­hig sei (bspw. Har­ford).Es han­delt sich dabei oft genug um Sim­pli­fi­zie­run­gen, die mit­un­ter mehr über die Glau­bens­sät­ze der Autoren aus­sa­gen, als die jewei­li­gen Autoren mit ihren Tex­ten Neu­es über die Mensch­heit sagen. Gleich­zei­tig las­sen sich eine Rei­he von Publi­ka­tio­nen fin­den, die den einen Fall (“im Grun­de gut”) mit den Umstän­den des Ein­tre­tens des ande­res Falls (“böse”) plau­si­bel in Bezie­hung set­zen (bspw. Are­ndt).

Zurück zur eigent­li­chen Fra­ge. In der Über­schrift die­ses Tex­tes wird behaup­tet, dass hier ein Gedan­ke ent­wi­ckelt wird, der in der Lage ist, Ord­nung in das Den­ken über Orga­ni­sa­tio­nen zu brin­gen, und dass der Begriff, mit dem dies mög­lich ist, der Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on ist.

Wei­ter oben wur­de zunächst deut­lich gemacht, wie eine Orga­ni­sa­ti­on ent­steht. War­um eine Orga­ni­sa­ti­on einen Zweck hat oder haben soll, wur­de durch die Hin­ter­tür her­ein­ge­bracht, qua­si – mehr oder min­der unbe­merkt – behaup­tet. Es gilt, die­ser Unbe­merkt­heit hier ein wenig Auf­merk­sam­keit zu wid­men, also die Fra­ge zu stel­len, wo der Zweck her­kommt und war­um er irgend­wie selbst­ver­ständ­lich ist.

Tie­re kön­nen, wie der aller­größ­te Teil der Natur, den Grund ihrer Exis­tenz nicht hin­ter­fra­gen. Das Säu­ge­tier homo sapi­ens tut zumin­dest so oder kann es irgend­wie. Zumin­dest ver­su­chen vie­le Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter unse­rer Art das immer wie­der. Was im evo­lu­tio­nä­ren Welt­bild schlicht auf die Funk­ti­on eines Ver­hal­tens bzw. auf die Ver­fei­ne­rung der Anpas­sung durch Muta­ti­on und Selek­ti­on redu­ziert wird, begrei­fen ande­re Les­ar­ten bspw. als Sinn – Men­schen könn­ten sich absichts­voll ver­hal­ten, such­ten nach einem Sinn, streb­ten gar nach Selbst­ver­wirk­li­chung. Aktu­el­le­re For­schun­gen gehen wie­der­um davon aus, dass die Ver­mu­tung eines Sinns Quatsch ist, son­dern wir nur aus Erin­ne­run­gen und Gewohn­hei­ten bestehen.

Man kann – etwas sar­kas­tisch redu­ziert – die Sinn­su­che als Fol­ge des Gewahr­s­eins des Men­schen sei­ner selbst in Ver­bin­dung mit all­zu gro­ßen Kom­fort­zo­nen begrei­fen: Gibt es für man­che Indi­vi­du­en zu wenig zu tun, begin­nen sie sich zu fra­gen, was sie eigent­lich hier sol­len – und las­sen sich etwas ein­fal­len. Etwas kon­struk­ti­ver gewen­det erscheint Sinn aus die­ser Sicht als eine bewusst­seins­fä­hi­ge Spiel­art des (funk­tio­na­len) Zwecks.

Wobei es kei­nen Sinn macht, einen irgend­wie ursprüng­li­chen Zweck zu suchen, sonst lan­de­te man bei magi­schem Den­ken oder gar Leont­jews Amö­be. Leont­jew hat den Ursprung des Psy­chi­schen tat­säch­lich am Ursprung der gerich­te­ten Bewe­gung von Ein­zellern fest­ge­macht, indem er einen Unter­schied zwi­schen Ein­zellern, die sich irgend­wie (also zufäl­lig) bewe­gen und Ein­zellern, die in der Lage waren, Licht mit höhe­ren Nah­rungs­kon­zen­tra­tio­nen zu asso­zi­ie­ren und dem­entspre­chend auf Licht zu reagie­ren und sich gerich­tet zu bewe­gen, gemacht hat.

Zu Zei­ten Leont­jews war das sicher eine bahn­bre­chen­de Erkennt­nis, wie der Begriff des Bahn­bre­chers in der dama­li­gen (sowje­ti­schen) Welt ins­ge­samt wich­tig gewe­sen sein mag. Aber in der Rück­schau fällt auf, dass es eine recht will­kür­li­che Unter­schieds­fest­set­zung gewe­sen sein könn­te. War­um soll aus­ge­rech­net die­ser eine Aspekt der wach­sen­den Kom­ple­xi­tät von Ein­zellern den Unter­schied gemacht haben? Oder hat es sich nicht viel­mehr um eine deut­lich kom­ple­xe­re Ent­wick­lung gehan­delt, die wir nur eben in der Rück­schau auf uns ver­ständ­li­che­re Pha­sen- oder Stu­fen­mo­del­le reduzieren?

Jenseits eines transzendierten Sinns: Der Zweck von Organisationen

Auf­grund des Umstands, dass wir Tie­re sind, sind wir letzt­lich eine Vari­an­te oder Spiel­art des leben­di­gen Daseins auf die­sem Pla­ne­ten – nur mit dem Unter­schied, dass wir uns, mehr oder min­der, einen Kopf dar­über machen kön­nen, dass wir sind – was, Bewusst­sein vor­aus­ge­setzt, zwangs­läu­fig auch zu der Fra­ge führt, war­um wir sind.

Blei­ben wir aber zunächst bei dem Umstand, dass wir sind. Die­ses Sein impli­ziert zunächst ganz säu­ge­tier­mä­ßig Stoff­wech­sel, Bewe­gung, Fort­pflan­zung und ande­res Ver­hal­ten ohne Ein­sicht in den Zweck. Es ist ein­fach und hin­ter­fragt sich nicht. Nun kommt aber hin­zu, dass wir zur Spra­che fähig sind. Auf spä­te­ren Erkennt­nis­stu­fen führt die Spra­che viel­leicht auch zur Fra­ge nach dem War­um; im Ent­ste­hungs­zu­sam­men­hang aber war Spra­che zunächst ein Mit­tel zur Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on. Wir ver­hal­ten uns nicht nur, son­dern wir sind uns ver­mit­tels der mit ande­ren geteil­ten Spra­che unse­res Ver­hal­tens gewahr, wodurch wir die Kon­se­quen­zen unse­res Ver­hal­tens simu­lie­ren und abschät­zen kön­nen – und wodurch das Ver­hal­ten zur (kol­lek­tiv) koor­di­nier­ba­ren Hand­lung wird.

Der Zweck bleibt im Ursprung ver­bor­gen bzw. ist in alles Han­deln impliziert.

Wie das Ver­hal­ten einem Instinkt oder – moder­ner aus­ge­drückt – einem Motiv folgt, so hat die Hand­lung einen Zweck, nur dass der Unter­schied zwi­schen Ver­hal­ten und Hand­lung im Gewahr­sein bzw. durch das Gewahr­sein in der Ent­set­zung vom Ver­hal­ten liegt: Indem ich einem Reiz nicht nur fol­gen muss, son­dern des Rei­zes gewahr bin, kann ich mich davon ent­set­zen und ver­schie­de­ne Reak­ti­ons­mög­lich­kei­ten simu­lie­ren. Vor­aus­set­zung dazu bzw. Instru­ment dafür ist die Sprache.

Redu­zie­rend könn­te man sagen, dass das Ziel vor dem Gewahr­sein war, also unbe­merkt in das Gewahr­sein über­ge­gan­gen ist, bzw. dass das Gewahr­sein zwar das Ziel erfas­sen und ggf. auch infra­ge­stel­len kann, aber dass das Ziel zumin­dest erst ein­mal da war oder ist. 

Der Sinn einer kom­mu­ni­ka­ti­ven Hand­lung liegt in der Reak­ti­on des ande­ren, ist also auf Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on ausgerichtet. 

Die Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on selbst folgt dabei einem Zweck, der zunächst ein­fach da ist, schon da war, bevor mit der durch die Spra­che ver­bes­ser­ten Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on das Bewusst­sein ent­stan­den ist und dadurch über­haupt erst die Mög­lich­keit ent­stand, nach dem Zweck zu fra­gen. Bis dahin war der Zweck ein­fach da, wie eben das Leben oder die Not­wen­dig­keit zu atmen oder zu essen ein­fach da war.

Die Brü­cke von die­sen Ursprün­gen zu unse­ren heu­ti­gen Orga­ni­sa­tio­nen ist weit gespannt. Aber man muss sich das vor Augen hal­ten, um zu ver­ste­hen, was ursprüng­lich der Zweck der Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on war – und wie sich aus der Ver­ket­tung von Hand­lun­gen die Orga­ni­sa­ti­on ergibt. Genau wie der Zweck des Ver­hal­tens all­ge­mein, ist auch der Zweck von (koor­di­nier­ten) Hand­lun­gen im Nebel der ursprüng­li­chen Daseins­er­for­der­nis­se zu suchen.

Wonach man fragen kann, und was sich zu analysieren lohnt

Nach­dem nun geklärt wur­de, dass der Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on aus der Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on selbst stammt und es sich damit um eine Art unbe­wusst kon­den­sier­ten – und mit zuneh­men­der Kom­ple­xi­tät der Daseins­vor­sor­ge auch dif­fe­ren­zier­ten, aber eben grund­le­gen­den – Merk­mals han­delt, kön­nen wir die prak­ti­sche Anwen­dung des Begrif­fes in den Fokus neh­men, also zu mög­li­chen Ant­wor­ten auf die Fra­ge nach dem Wert des Orga­ni­sa­ti­ons­zwecks für das prak­ti­sche Den­ken über Orga­ni­sa­tio­nen kommen.

Es ist loh­nens­wert, nach dem eigent­li­chen Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on zu fragen.

Frei­lich kann der Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on nebu­lös und im Dickicht der Ver­gan­gen­heit unkennt­lich wer­den oder sich gar in rei­nen Selbst­zweck auf­lö­sen. Frei­lich kann der Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on auch unter die auto­ri­tä­re Fuch­tel ein­zel­ner Per­so­nen gera­ten – all das ist mög­lich. Nichts schützt eine Orga­ni­sa­ti­on davor, ihrem Zweck ent­frem­det zu wer­den oder aus der Zeit zu fallen.

Aber man kann eben immer nach dem eigent­li­chen Zweck fra­gen – und falls die­ser nicht mehr zeit­ge­mäß ist (= adäqua­te Ant­wor­ten auf die gegen­wär­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen um die Orga­ni­sa­ti­on her­um lie­fernd), kann man immer­hin noch nach den hand­lungs­lei­ten­den Vor­stel­lun­gen zur Aktua­li­sie­rung des Zwecks bzw. zur Anpas­sung der Orga­ni­sa­ti­on fragen.

Das bedeu­tet nicht, dass man in jedem Fall brauch­ba­re Ant­wor­ten fin­det, aber die Fra­ge stel­len kann man – und die Erkennt­nis­se, die man gewinnt, wenn man kei­ne brauch­ba­ren Ant­wor­ten bekommt, sind alle­mal hilf­rei­cher als das Geschwätz, wel­ches man hört, wenn nie­mand mehr weiß, was eigent­lich der Zweck ist, oder wenn vie­le mei­nen, dass es bes­ser sei, dar­über nicht erst nach­zu­den­ken (das aber um Him­mels wil­len nicht laut aussprechen).

Frei­lich ist es nicht bei jeder Orga­ni­sa­ti­on sofort offen­sicht­lich, wel­chen Zweck sie ver­folgt. Wir leben in einer stark aus­dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schaft. Im Grun­de kön­nen wir davon aus­ge­hen, dass es sich bei der Geschich­te der Orga­ni­sa­tio­nen um ein gleich­zei­tig immer dich­ter und kom­ple­xer wer­den­des Gewe­be von Hand­lungs­ko­or­di­na­tio­nen zur Daseins­vor­sor­ge handelt.

So mag es zunächst kei­ne Feu­er­weh­ren gege­ben haben, aber irgend­wann kam jemand auf die Idee, dass man Feu­er nicht nur spon­tan löschen, son­dern die dies­be­züg­lich not­wen­di­gen Hand­lun­gen koor­di­nie­ren – und spä­ter die ent­spre­chen­de Koor­di­na­ti­on sogar pro­phy­lak­tisch orga­ni­sie­ren könn­te. Am Anfang war die Idee, blieb die Idee erfolg­reich, wur­de sie so oder so ähn­lich wie­der­holt, dar­aus bil­de­ten sich ggf. Mus­ter, die spä­ter an nach­fol­gen­de Gene­ra­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben wur­den… und so weiter.

Ein einfaches Denkmodell und die Gefahr, Modelle zu generalisieren

Es han­delt sich um ein ein­fa­ches Denk­mo­dell: Aus dem (ursprüng­li­chen) Zweck ergab sich die Geschich­te der Orga­ni­sa­ti­on, aus spä­te­ren Hand­lungs­er­for­der­nis­sen erga­ben sich Anpas­sun­gen, aus den heu­ti­gen Erfor­der­nis­sen und den “Zöp­fen” aus der Ver­gan­gen­heit erge­ben sich die Erwar­tun­gen an die Mit­glie­der einer Orga­ni­sa­ti­on und damit deren “Auf­ga­ben­bün­del” oder “Rol­len”, die, sys­te­ma­ti­siert dar­ge­stellt, das Orga­ni­gramm der Orga­ni­sa­ti­on bilden.

Ein Orga­ni­gramm ist kein Selbstzweck.

Schon gar nicht ist etwa eine Hier­ar­chie “gott­ge­ge­ben” oder selbst­ver­ständ­lich. Hier­ar­chien erge­ben sich – wie alle Struk­tu­ren – zunächst aus dem Zweck der Orga­ni­sa­ti­on und den zu sei­ner Rea­li­sie­rung statt­fin­den­den Inter­ak­tio­nen bzw. der ent­spre­chen­den Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on. Aber Orga­ni­sa­tio­nen sind mit der Zeit vol­ler Gewohn­hei­ten und damit auch vol­ler Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten. Orga­ni­sa­tio­nen kön­nen tat­säch­lich oder auch nur gewohn­heits­mä­ßig alt, ein­ge­fah­ren, unfle­xi­bel, stark for­ma­li­siert usw. sein. In vie­len Fäl­len gehört ein gewis­ser Grad an orga­ni­sa­tio­na­ler For­ma­li­sie­rung sogar ganz zen­tral zum Zweck der Orga­ni­sa­ti­on. So soll sich eine Behör­de oder eine Ein­satz­or­ga­ni­sa­ti­on ja nicht dau­ernd selbst neu erfin­den, son­dern sie soll funktionieren.

Genau­so ist aber dem­ge­gen­über eine hier­ar­chie­ar­me Orga­ni­sa­ti­on kei­nes­wegs ein Selbst­zweck, son­dern rich­tet sich nach einem Zweck. Es gibt genü­gend Orga­ni­sa­tio­nen, deren Zweck man heu­te mit halb­wegs hier­ar­chie­ar­men Orga­ni­sa­ti­ons­for­men erreicht, aber es gibt auch eine gan­ze Rei­he von Bei­spie­len, die sich heu­te popu­lä­ren Denk­mo­del­len (bspw. “agi­le” Orga­ni­sa­ti­on) nach­hal­tig wider­set­zen – und spä­tes­tens im Fal­le der kor­rup­ti­ons­arm und kor­rekt arbei­ten sol­len­den Behör­den oder in den funk­tio­nie­ren sol­len­den Ein­satz­or­ga­ni­sa­tio­nen ist das auch gut so.

Man muss also vor­sich­tig sein mit den Denk­mo­del­len über Orga­ni­sa­tio­nen. Man soll sie nicht all­zu schnell gene­ra­li­sie­ren oder nor­ma­tiv anwen­den, nur weil sie einem ggf. ein­leuch­ten oder einem “irgend­wie bes­ser” erscheinen.

Bei­spiels­wei­se nei­gen man­che Bera­ter dazu, ein Modell zu favo­ri­sie­ren und die­ses Modell mehr oder weni­ger gene­rell für “gut geeig­net” zu hal­ten. Was gut geeig­net ist, ergibt sich aber aus einer kom­ple­xen Ana­ly­se des Orga­ni­sa­ti­ons­zwecks, des gegen­wär­ti­gen Zustands der Orga­ni­sa­ti­on und den Zie­len einer mög­li­chen Wei­ter­ent­wick­lung der Orga­ni­sa­ti­on bzw. aus den gegen­wär­ti­gen Veränderungserfordernissen.

Genau­so wie die Struk­tur einer Orga­ni­sa­ti­on kein Selbst­zweck ist, so ist auch kei­nes­wegs klar, dass der Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on selbst auf Dau­er Bestand hat. Zwe­cke kön­nen sich ver­än­dern, sie kön­nen auch erlö­schen. Orga­ni­sa­tio­nen kön­nen also auch “ster­ben” oder schlicht geschlos­sen werden.

Grund­sätz­lich gilt: Wenn die Gewohn­heits­trä­ger aus­ster­ben oder/und klar wird, dass es kaum noch jeman­den mit einem Inter­es­se an der Orga­ni­sa­ti­on gibt, wird die Orga­ni­sa­ti­on irgend­wann ster­ben. Aber Vor­sicht: Was viel­leicht für man­che Dru­cke­rei oder Wür­fel­zu­cker­fa­brik zutref­fen mag, kann in ande­ren Fäl­len nur eine ideo­lo­gie­schwan­ge­re Träu­me­rei sein.

So haben sich viel­leicht man­che Deut­sche in den fried­li­chen Jahr­zehn­ten nach 1990 dar­an gewöhnt, dass der Zweck der Bun­des­wehr lang­sam obso­let zu wer­den scheint – bis dahin, dass die Kampf­kraft der Trup­pe schrump­fen konn­te, ohne dass dies ein groß­ar­tig bemer­kens­wer­tes The­ma gewe­sen sei. Bis der Ukrai­ne-Krieg eine so genann­te “Zei­ten­wen­de” bewirkt hat – zumin­dest erst ein­mal “gefühlt”; spä­ter wird man sehen, wie viel “Zei­ten­wen­de” tat­säch­lich statt­ge­fun­den hat. 

Zwe­cke ent­ste­hen, ändern sich, schwä­chen sich ab und ver­lö­schen oder keh­ren zurück und ver­stär­ken sich wie­der. All das kann absichts­voll pas­sie­ren, aber auch eine Fol­ge kom­ple­xer Ent­wick­lun­gen sein, die kei­nes­wegs auf nur eine Absichts­bil­dung zurück­zu­füh­ren sind. In letz­te­rem Fall wer­den sie spä­ter wahr­schein­lich “Anpas­sung” genannt. Man kann sich also nicht sicher sein, son­dern man muss genau hin­schau­en und die Lage umfas­send analysieren.

Ähn­lich wie sich bspw. die Struk­tu­ren einer Orga­ni­sa­ti­on und die Aufgabenbündel/Rollen der Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glie­der anhand des Zwecks einer Orga­ni­sa­ti­on ana­ly­sie­ren las­sen, lässt sich auch die prak­ti­sche Umset­zung, also der Pro­zess der Rea­li­sie­rung des Orga­ni­sa­ti­ons­zwecks beob­ach­ten und ana­ly­sie­ren. In gewis­ser Wei­se hat die­se Ana­ly­se sogar Vor­rang, denn wir hat­ten ja gese­hen, dass sich eine Orga­ni­sa­ti­on qua­si aus der Ver­ket­tung der Hand­lun­gen bzw. aus der damit ver­bun­de­nen Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on ergibt. Auch Struk­tu­ren erge­ben sich dar­aus und ver­än­dern sich dadurch. Auch wenn sich z.B. beson­ders alte oder for­ma­li­sier­te oder von Macht beherrsch­te Struk­tu­ren der Ver­än­de­rung bis­wei­len hef­tig wider­set­zen, heißt das nicht, dass sie sich nicht verändern.

Es kann lang­wie­rig wer­den und vie­le Ver­su­che brau­chen oder gar blu­tig wer­den und eines regel­rech­ten Zusam­men­bru­ches bedür­fen (wie im Fal­le vie­ler Dik­ta­tu­ren). Es ist auch kei­nes­wegs garan­tiert, dass das, was danach kommt, irgend­wie bes­ser ist. Es kann näm­lich sein, dass auf neu­er­li­che Anpas­sungs- und Lern­pro­zes­se ver­zich­tet und ein­fach behaup­tet und qua Macht durch­ge­setzt wird, was bes­ser sei. Dass es dann ggf. nicht funk­tio­niert, führt zum nächs­ten Pro­blem bzw. Erfordernis.

Nur weil wir die Ent­ste­hung von Orga­ni­sa­tio­nen anhand rela­tiv offe­ner Inter­ak­ti­ons­pro­zes­se erläu­tert haben, bedeu­tet das nicht, dass alle die­se Pro­zes­se so frei und belie­big ablaufen.

Konkrete Analysefragen

Zurück zum Zweck der Orga­ni­sa­ti­on und der Ana­ly­se des Pro­zes­ses der Umset­zung des Zwecks. Prak­tisch han­delt es sich um eine recht ein­fa­che Fra­ge: Zah­len die Hand­lun­gen der Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glie­der auf den Zweck ein?

Die­se Fra­ge lässt sich auf drei Ebe­nen analysieren:

  1. Auf der Ebe­ne der kon­kre­ten Hand­lun­gen: Ist das, was ein Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glied tut, dazu geeig­net, dem Orga­ni­sa­ti­ons­ziel näher zu kommen?
  2. Auf der direk­ten Füh­rungs­ebe­ne: Füh­rungs­kräf­te ste­hen ja, folgt man dem hier beschrie­be­nen Modell, in gewis­ser Wei­se zwi­schen dem Zweck und den Mit­glie­dern einer Orga­ni­sa­ti­on. Aus dem Orga­ni­sa­ti­ons­zweck erge­ben sich Erwar­tun­gen an die Mit­glie­der; die Mit­glie­der ihrer­seits haben selbst­ver­ständ­lich auch Erwar­tun­gen an ihre Orga­ni­sa­ti­on. Füh­rung bedeu­tet aus die­ser Sicht “Erwar­tungs­ma­nage­ment” oder die “Mode­ra­ti­on eines Erwartungsabgleichs”.
  3. Auf der indi­rek­ten bzw. strukturellen/prozessualen Ebe­ne: Sind die Struk­tu­ren und Pro­zes­se dazu geeig­net, dass die Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glie­der wis­sen, was sie machen sol­len, damit ihre Hand­lun­gen auf den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zah­len? Mit ande­ren Wor­ten: Funk­tio­niert Füh­rung auch über die Hand­lun­gen einer kon­kre­ten Füh­rungs­kraft hin­aus? Vor dem Hin­ter­grund des hier dar­ge­stell­ten Denk­mo­dells besteht Füh­rung pri­mär im Manage­ment von Erwar­tun­gen und sekun­där im Zusam­men­wir­ken ver­schie­de­ner Füh­rungs­kräf­te in Bezug auf die Rea­li­sie­rung des Organisationszwecks.

An die­ser Stel­le sei auf ein nach mei­ner Erfah­rung recht häu­fi­ges Phä­no­men ver­wie­sen. Orga­ni­sa­tio­nen bestehen ja nicht nur aus ihrem Zweck und der sich dar­aus erge­ben­den Hand­lungs­ko­or­di­na­ti­on. Viel­mehr gibt es ja neben dem Aspekt des not­wen­di­gen “Ali­gnments” mensch­li­cher Hand­lun­gen, also neben der Not­wen­dig­keit der Unter­ord­nung mensch­li­cher Hand­lun­gen unter den gene­rel­len Zweck der Daseins­vor­sor­ge bzw. den – ggf. abs­trak­te­ren oder indi­rek­te­ren – Zweck der Orga­ni­sa­ti­on noch einen “rein mensch­li­chen” Fak­tor, der aus Emo­tio­nen und infor­mel­len Bezie­hun­gen besteht. Eine aus­führ­li­che Ana­ly­se die­ser Zusam­men­hän­ge kann man hier nachlesen. 

Pflichtverweigerung: Wenn Organisationsmiglieder die eigenen Belange für wichtiger erachten als die der Organisation

Die­ser Fak­tor ist erst ein­mal grund­sätz­lich vor­han­den, wird aber dann viru­lent, wenn Men­schen ihre indi­vi­du­el­len Belan­ge oder die Belan­ge etwa einer Sub­grup­pe gleich­sam “über” den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on stel­len. Als Men­schen haben wir indi­vi­du­el­le Bedürf­nis­se nach Sta­tus, Nähe usw., die sich in der Erfül­lung einer Rol­le teil­wei­se, aber in der Regel nicht ganz erfül­len las­sen. Kommt es nun zur Frus­tra­ti­on von Bedürf­nis­sen oder sind sich eine Rei­he von Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glie­dern bezüg­lich bestimm­ter Aspek­te einig (z.B. “Mit die­ser Che­fin wol­len wir nicht arbei­ten!”), kann es vor­kom­men, dass die eige­nen Belan­ge als so bedeut­sam erach­tet wer­den, dass die­se Belan­ge in ihrer Bedeu­tung stär­ker bewer­tet wer­den als die Bedeu­tung des Orga­ni­sa­ti­ons­zwecks. Han­delt es sich um Mit­ar­bei­ter auf unte­ren Ebe­nen, kann dies ggf. län­ger tole­riert wer­den – aus­schal­ten lässt sich die­ser “rein mensch­li­che Fak­tor” nicht. For­mal inter­pre­tiert han­delt es sich in gewis­ser Wei­se um eine “Pflicht­ver­wei­ge­rung”, also eine ten­den­ti­el­le Nicht­er­fül­lung der eige­nen Auf­ga­ben oder eine (ten­den­ti­ell wenig bewuss­te) Infra­ge­stel­lung der eige­nen Rol­le. Han­delt es sich dabei aber um Füh­rungs­kräf­te, ist dies nicht nur mög­li­cher­wei­se, son­dern unbe­dingt zu the­ma­ti­sie­ren, denn hier kann die besag­te “Pflicht­ver­wei­ge­rung” Aus­ma­ße anneh­men, die dazu geeig­net sind, die Orga­ni­sa­ti­ons­leis­tung zu redu­zie­ren oder die Effek­ti­vi­tät der Orga­ni­sa­ti­on ins­ge­samt infragezustellen.

Das ist natür­lich eine Grat­wan­de­rung: Akzep­tiert eine Füh­rungs­kraft den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on, bemän­gelt aber die Umset­zung und hat dies­be­züg­lich Vor­schlä­ge, so ist dem im Sin­ne einer effek­ti­ven oder sogar effi­zi­en­ten Orga­ni­sa­ti­on Gehör zu schen­ken. Han­delt es sich aber um eine selbst­schutz-bezo­ge­ne Rück­zugs­hand­lung, macht der oder die Betref­fen­de also etwa demons­tra­tiv Dienst nach Vor­schrift, unter­mi­niert aber das Mit­ein­an­der durch mehr oder min­der dau­ern­de unsach­li­che Bemer­kun­gen, so ist dar­auf eher bald zu reagie­ren – im ers­ten Ansatz sicher mit einem gut gemein­ten, aber grund­sätz­li­chen Erwar­tungs­ab­gleich und einer Ver­ein­ba­rung, wie es wei­ter­ge­hen soll für die­se Per­son, oder aber (bei blei­ben­der Ver­wei­ge­rungs­hal­tung) mit einer Ver­set­zung oder Kün­di­gung der betref­fen­den Person.

Andau­ern­de Pflicht­ver­wei­ge­rung ist etwas, das geahn­det wer­den muss, sonst ist es geeig­net, auf Dau­er das Funk­tio­nie­ren der Orga­ni­sa­ti­on zu unter­gra­ben. Beson­ders schwer­wie­gend wirkt sich sol­ches Ver­hal­ten auf der Ebe­ne mitt­le­rer Füh­rungs­kräf­te aus.

Im Grun­de erge­ben sich aus dem Zweck der Orga­ni­sa­ti­on Zie­le, Wer­te und kon­kre­te Hand­lun­gen. Aus die­sem Drei­klang – Zie­le, Wer­te und Hand­lun­gen – ergibt sich ein Maß­stab für die Ana­ly­se der kon­kre­ten Tätig­kei­ten eines Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glieds, und zwar unab­hän­gig von der Fra­ge, ob es sich dabei um eine Mit­ar­bei­te­rin oder einen Mit­ar­bei­ter oder eine Füh­rungs­kraft han­delt. Ich habe die­sen Maß­stab in einem ande­ren Text aus­führ­lich beschrieben.

Schließ­lich kann es über die Ebe­ne der Ent­spre­chung von Struk­tu­ren und Rol­len und über die Ebe­ne des kon­kre­ten Han­delns hin­aus noch um den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on an und für sich gehen.

Hier sind man­chen Orga­ni­sa­tio­nen mehr oder min­der selbst­ver­ständ­li­che Gren­zen gesetzt: eine Behör­de oder eine Feu­er­wehr oder ein Ret­tungs­dienst sol­len ihren Zweck nicht hin­ter­fra­gen; Mit­glie­der kön­nen bspw. Füh­rungs­hand­lun­gen hin­ter­fra­gen, wenn sie etwa nicht zweck­ent­spre­chend oder im Zwei­fels­fall sogar nicht der Ver­fas­sung der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ent­spre­chen, aber ein Mit­glied sol­cher Orga­ni­sa­tio­nen kann sich im Nor­mal­fall nicht fra­gen, ob es eine Auf­ga­be umsetzt oder nicht. Die Auf­ga­ben­er­fül­lung ist im Zweck der Orga­ni­sa­ti­on vor­ge­se­hen, und die Erfül­lung des Zwecks der Orga­ni­sa­ti­on ist Gegen­stand des Arbeitsvertrags.

Für eine Anwen­dung der hier dar­ge­stell­ten “Den­ke” über Orga­ni­sa­tio­nen auf das Bei­spiel der Füh­rung von Feu­er­weh­ren, sie­he die­sen Text.

Die ethische Dimension: Fragen nach der Verfassung der Organisation insgesamt

Unter ganz bestimm­ten Vor­aus­set­zun­gen und in Orga­ni­sa­tio­nen, deren Zweck nicht durch gesetz­li­che Bestim­mun­gen direkt gere­gelt ist, kann es zu einer Hin­ter­fra­gung des Zwecks kom­men, kann man eine gleich­sam ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Fra­ge stel­len. Man­che Orga­ni­sa­tio­nen, wie bspw. in schnell dre­hen­den Markt­seg­men­ten ope­rie­ren­de oder beson­ders agi­le Unter­neh­men, sind sogar auf die regel­mä­ßi­ge Ver­ge­wis­se­rung zu die­ser Fra­ge ange­wie­sen. Man kann den Zweck einer Orga­ni­sa­ti­on hin­ter­fra­gen, etwa mit den fol­gen­den Fra­gen: Ist der Zweck noch zeit­ge­mäß? Oder: Wel­che Ant­wor­ten lie­fert der Zweck auf die gegen­wär­ti­gen (Markt-)Erfordernisse und Bedingungen?

In sol­chen Fäl­len muss man ab und an die Fra­ge stel­len, ob das Gan­ze noch funk­tio­niert (rei­ne Zweck­be­trach­tung) bzw. wie es funk­tio­niert (Mit­tel-Ziel-Rela­ti­on, also Effek­ti­vi­tät oder sogar Effi­zi­enz)… Hin­zu kommt noch die Betrach­tung der Fol­gen der Ver­fol­gung des Zwecks (bspw. Nach­hal­tig­keit) oder gar der Vor­aus­set­zun­gen des Zwecks:

  • Wozu machen wir das?
  • Soll der Zweck noch sein, oder wie_soll der Zweck aus­se­hen? _Wie soll der Zweck umge­setzt werden?

Spä­tes­tens dann ist man bei der ethi­schen Dimen­si­on orga­ni­sa­tio­na­len Han­delns ange­langt, und die Zukunft der Mensch­heit scheint kaum denk­bar ohne eine weit­aus stär­ke­re Refle­xi­on die­ser Dimen­si­on orga­ni­sier­ten Han­delns als bisher.

Für eine genaue­re Betrach­tung der ethi­schen Dimen­si­on orga­ni­sier­ten Han­delns sei noch ein­mal auf den Text zum Drei­klang Zie­le – Wer­te – Hand­lun­gen verwiesen.

Zusammenfassung

In die­sem Text ging es um den Zweck von Orga­ni­sa­tio­nen als “Ord­nungs­prin­zip” für das, was in Orga­ni­sa­tio­nen kon­kret geschieht. Der Orga­ni­sa­ti­ons­zweck bil­det nicht nur eine Ana­ly­se­grund­la­ge für Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren und ‑pro­zes­se, son­dern auch einen Maß­stab für die Hand­lun­gen von Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glie­dern und Füh­rungs­kräf­ten. Es wur­de schließ­lich deut­lich, wo die Gren­zen von in Orga­ni­sa­tio­nen mög­li­chen Hand­lun­gen ver­lau­fen und wann es sich etwa um eine “Pflicht­ver­wei­ge­rung” handelt.

Bei der Betrach­tung einer Orga­ni­sa­ti­on von ihrem Zweck her han­delt es sich um eine recht all­ge­mei­ne Ebe­ne der Orga­ni­sa­ti­ons­ana­ly­se. An ande­rer Stel­le auf die­sem Blog lässt sich nach­le­sen, auf wel­chen kon­kre­te­ren Ebe­nen sich Orga­ni­sa­tio­nen ana­ly­sie­ren las­sen (bspw. Struk­tur, Pro­zess, Kul­tur) und wel­che Fra­gen dies­be­züg­lich hilf­reich sind.

Fallbeispiel

Abschlie­ßend soll hier noch anhand eines Fall­bei­spiels geschil­dert wer­den, wie sich das hier dar­ge­stell­te Modell des Orga­ni­sa­ti­ons­zwecks in der Pra­xis anwen­den lässt. Auf ein wei­te­res prak­ti­sches Bei­spiel der Anwen­dung im Kon­text von Feu­er­weh­ren wur­de wei­ter oben bereits ver­wie­sen. Doch nun zum abschlie­ßen­den Beispiel:

Neh­men wir an, es han­delt sich um einen Pro­duk­ti­ons­stand­ort mit ca. 400 Mit­ar­bei­tern irgend­wo in Sach­sen. Die Kon­zern­mut­ter ist weit weg, sodass fast alle wesent­li­chen Betriebs­tei­le ein­schließ­lich einer klei­nen Ent­wick­lungs­ab­tei­lung vor Ort vor­han­den sind. Man blickt auf eine län­ge­re Tra­di­ti­on zurück, und für vie­le Mit­ar­bei­ter ist es nicht die ers­te Kon­zern­mut­ter, sodass man sich als rela­tiv unab­hän­gig ver­steht und auch gewohnt ist, wesent­li­che Ent­schei­dun­gen vor Ort zu tref­fen. Seit einer Wei­le gibt es Pro­ble­me in einem Pro­duk­ti­ons­be­reich. Es hat damit ange­fan­gen, dass ins­be­son­de­re die Tag- und die Nacht­schicht zu “ver­schie­de­nen Wel­ten” wur­den. Füh­rungs­kräf­te waren vor allem tags­über anwe­send, Din­ge, die in der Spät­schicht oder nachts schief lie­fen, wur­den nicht mehr ange­spro­chen bzw. ein­fach “wei­ter­lau­fen gelas­sen”. Es zog lang­sam, aber sicher ein gewis­ser Schlen­dri­an ein, und man rede­te vor allem über­ein­an­der, weni­ger mit­ein­an­der, und wenn man ver­such­te, mit­ein­an­der zu reden, kam es häu­fi­ger zu Schuld­zu­wei­sun­gen, als dass man ver­such­te, nach Ursa­chen für die Pro­ble­me zu suchen und sich zu eini­gen. Hin­zu kamen eine Rei­he schnel­ler Wech­sel auf Füh­rungs­ebe­ne. Die Teams der ver­schie­de­nen Schich­ten spal­te­ten sich in Unter­grup­pen. Natür­lich blie­ben die Pro­ble­me nicht nur unter den Betei­lig­ten, son­dern erreich­ten auch die Führun­s­ebe­nen, aller­dings wur­den die Pro­ble­me erst im Zusam­men­hang mit grö­ße­ren Schä­den durch Aus­schuss bzw. Pro­duk­ti­ons­aus­fäl­le auf Füh­rungs­ebe­ne ernst genom­men. Es gab, wie über­all, ver­schie­de­ne, beson­ders gut funk­tio­nie­ren­de infor­mel­le Kanä­le im Unter­neh­men. So hat­te der Werks­lei­ter noch aus “alten Zei­ten”, als das Werk noch viel klei­ner war, gute Ver­bin­dun­gen zu eini­gen Pro­duk­ti­ons­mit­ar­bei­tern. Die­se hol­te er in sein Büro und befrag­te sie, was denn eigent­lich los sei. Die Per­so­nal­lei­te­rin des Stand­or­tes hat­te wie­der­um einen direk­ten Draht zu einer Füh­rungs­kraft, die vor noch nicht all­zu lan­ger Zeit ein­ge­stellt wor­den war in der Hoff­nung, dass sie das Pro­blem lösen könn­te. Hin­zu kam, dass der Betriebs­rats­vor­sit­zen­de in dem besag­ten Bereich arbei­te­te, sei­ner­seits eben­falls eine per­sön­li­che Ver­si­on der Din­ge hat­te und sich wie­der­um gut mit dem für Tech­no­lo­gie zustän­di­gen lei­ten­den Inge­nieur des Wer­kes ver­stand. Und so wei­ter. Es ist nicht ziel­füh­rend, hier das gesam­te Netz infor­mel­ler Bezie­hun­gen nach­zu­zeich­nen. Wich­tig ist nur zu wis­sen, dass die infor­mel­len Bezie­hun­gen im Unter­neh­men bedeut­sa­mer sind als die for­ma­len, also dass sich das Ver­hal­ten der Mit­glie­der einer Orga­ni­sa­ti­on meis­tens stär­ker nach den infor­mell wirk­sa­men Ver­hält­nis­sen rich­tet als nach den for­ma­len. Es gab also eine gan­ze Rei­he ver­schie­de­ner Sicht­wei­sen auf das Pro­blem, die auf infor­mel­len Kanä­len geteilt wur­den. Natür­lich gab es auch Ver­su­che, das Pro­blem zu klä­ren. Die­se Ver­su­che führ­ten aber immer wie­der zu Mus­tern aus Kri­tik und Recht­fer­ti­gung bzw. zu Schuld­zu­wei­sun­gen. Die Kom­mu­ni­ka­ti­on wur­de immer defen­si­ver und nahm recht bald die Gestalt von so genann­ten “defen­si­ven Rou­ti­nen” an. Die Betei­lig­ten ver­such­ten zwar (vor­wie­gend aus Grün­den des Selbst­schut­zes, die aber eben oft unbe­wusst blei­ben), die Pro­ble­me zu lösen, ver­strick­ten sich aber in Schuld­zu­wei­sun­gen und Recht­fer­ti­gun­gen. Damit taten sie unbe­wusst etwas, das alles ande­re als hilf­reich ist für das Funk­tio­nie­ren einer Orga­ni­sa­ti­on: sie stell­ten ihre per­sön­li­chen Belan­ge immer mehr über den Zweck der Orga­ni­sa­ti­on. Sie beton­ten zwar immer wie­der, an einer sach­li­chen Lösung der Pro­ble­me inter­es­siert zu sein, bewirk­ten mit ihren Hand­lun­gen aber genau das Gegenteil.

Indem ich zwar (bewusst) an einer Lösung inter­es­siert bin, aber (weni­ger bewusst) an “mei­ner” Ver­si­on der Din­ge fest­hal­te, wird irgend­wann die eige­ne emo­tio­na­le Invol­viert­heit in die Kon­flikt­dy­na­mik für mei­ne Hand­lun­gen bedeut­sa­mer als die Impli­ka­tio­nen, die sich aus dem Unter­neh­mens­zweck “eigent­lich” für mei­ne Rol­le erge­ben. Ich bin dann so gefan­gen in der Dyna­mik, dass ich zwar den­ke, das im Sin­ne des Orga­ni­sa­ti­ons­zwecks Rich­ti­ge zu tun, gleich­zei­tig aber nicht mer­ke, dass ich mit zuneh­men­der Emo­tio­na­li­tät des Gesche­hens die Orga­ni­sa­ti­ons­zie­le immer mehr mit mei­nen asso­zi­ie­re bzw. verwechsle.

Die “Lösung” die­ses Pro­blems liegt in einer Art Ent­set­zung von der eige­nen (emo­tio­nal gefärb­ten) Sicht­wei­se – oder eben der Sicht­wei­se, die ich von ande­ren über­nom­men habe, ggf. sogar, ohne mir die ande­ren vor­han­de­nen Sicht­wei­sen in aus­rei­chen­der Wei­se ange­hört und die­se reflek­tiert zu haben. Es geht dar­um, sich von der eige­nen Sicht­wei­se zu distan­zie­ren, die Per­spek­ti­ve des Zwecks der Orga­ni­sa­ti­on und der damit ver­bun­de­nen Zie­le ein­zu­neh­men, und sich dann zu fra­gen, was für die Orga­ni­sa­ti­on rich­tig wäre, wel­che Impli­ka­tio­nen sich dar­aus für die ein­zel­nen betei­lig­ten Rol­len erge­ben und wel­che (auf die­ser Grund­la­ge meist: neu­en) Ideen es gibt, sich der Lösung des Pro­blems auf ande­re Wei­se als bis­her zu nähern.

Man kann und darf sol­che Abs­trak­ti­ons­leis­tun­gen sicher nicht von jeder Mit­ar­bei­te­rin und jedem Mit­ar­bei­ter erwar­ten. Aber spä­tes­tens bei ent­schei­den­den Füh­rungs­rol­len kann und soll­te man sol­che Abs­trak­tio­nen und Dif­fe­ren­zie­run­gen durch­aus erwar­ten kön­nen. “Durch­aus” des­halb, weil es all­zu mensch­lich ist, Emo­tio­nen zu zei­gen, sich in Kon­flik­te zu ver­stri­cken, eine mehr oder weni­ger gut begrün­de­te eige­ne Ver­si­on der Din­ge zu haben. Es han­delt sich ja wie gesagt auch um “weni­ger bewuss­te” kom­mu­ni­ka­ti­ve Vor­gän­ge, sodass vie­les im Ansatz ver­zeih­lich ist. Im Ansatz ja, aber nicht im Ergeb­nis. Hier liegt der Unter­schied zwi­schen den Ebe­nen von Orga­ni­sa­ti­ons­an­ge­hö­ri­gen ohne und Füh­rungs­kräf­ten mit viel Entscheidungsgewalt.

An die­ser Stel­le setzt oft unse­re Bera­tung an: 

  • Was ist der Zweck der Organisation? 
  • Her­un­ter­ge­bro­chen auf die jewei­li­ge Situa­ti­on: Was wäre für das Unter­neh­men in die­ser Situa­ti­on das Beste? 
  • Wel­che Implikationen/Erwartungen erge­ben sich aus den Ant­wor­ten auf die vor­ge­nann­ten Fra­gen für die Rol­len der Betei­lig­ten in die­ser Situation? 
  • Was müss­ten die Betei­lig­ten dem­nach kon­kret tun?

In der Regel ist eine The­ma­ti­sie­rung die­ser Fra­gen – ggf. in Ver­bin­dung mit der Ana­ly­se bis­he­ri­ger Hand­lungs­mus­ter oder Situa­ti­ons­ver­läu­fe und ggf. auch in Ver­bin­dung mit wohl­tem­pe­rier­ten Kon­fron­ta­tio­nen – für das Ver­ständ­nis der Pro­ble­me und für die Her­stel­lung der Vor­aus­set­zun­gen zur Erar­bei­tung von Lösun­gen hilf­reich. Oft bedeu­tet das Ver­ständ­nis der Pro­blem­hin­ter­grün­de noch nicht, dass die Betei­lig­ten die Pro­ble­me sofort selbst lösen kön­nen, in sol­chen Fäl­len ist eine Zeit lang mode­rie­ren­de Beglei­tung in Ver­bin­dung mit ggf. neu­er­li­chen Ana­ly­sen und Kon­fron­ta­tio­nen notwendig.

Viel­leicht ist die eben beschrie­be­ne Bera­tungs­me­tho­de genau das, was Chris Argy­ris in einem sei­ner wesent­li­chen Tex­te über defen­si­ve Rou­ti­nen mein­te, als er sag­te, man müs­se den von defen­si­ven Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mus­tern Betrof­fe­nen regel­recht “bei­brin­gen”, anders zu kom­mu­ni­zie­ren. Chris Argy­ris’ Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rien sind nach mei­nem Dafür­hal­ten für das Ver­ständ­nis kom­mu­ni­ka­ti­ver Pro­ble­me und vor allem für die Gestal­tung tat­säch­lich funk­tio­nie­ren­der bzw. hilf­rei­cher Inter­ven­tio­nen hilf­rei­cher als die in Deutsch­land popu­lä­ren Lehr­bü­cher von Frie­de­mann Schulz von Thun, mit des­sen Model­len man Kom­mu­ni­ka­ti­on zwar beschrei­ben und ggf. auch erklä­ren kann, man aber am Ende den­noch oft nicht weiß, wie man wirk­sam inter­ve­nie­ren kann – außer ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­se­mi­nar auf der Basis genau die­ser Model­le durch­zu­füh­ren, was lei­der sehr oft gemacht wird, aber kaum etwas bewirkt.

Im hier beschrie­be­nen Fall for­der­te der Werks­lei­ter die Betei­lig­ten immer wie­der auf, sich zusam­men­zu­rei­ßen, frü­her sei es doch auch gegan­gen, da müs­se eben mal einer eine kla­re Ansa­ge machen, und dann lie­fe das schon. Aber genau das funk­tio­nier­te eben nicht. Viel­mehr fühl­te sich eine Sei­te (eine Grup­pe der län­ger zum Unter­neh­men gehö­ren­den Mit­ar­bei­ter) bestärkt, wäh­rend die ande­re Sei­te (vor allem eine jün­ge­re Füh­rungs­kraft, die bestimm­te Umgangs­wei­sen mit Feh­lern hin­ter­frag­te) nicht genug Rück­halt bekam. Rich­tig wäre gewe­sen, die Trä­ger älte­rer Gewohn­hei­ten auf­zu­for­dern, ihre Rou­ti­nen durch die jün­ge­re Füh­rungs­kraft hin­ter­fra­gen zu las­sen und gemein­sam an der Lösung der Pro­ble­me zu arbei­ten, also bspw. neue Wege der Feh­ler­ana­ly­se, der trans­pa­ren­ten Infor­ma­ti­ons­wei­ter­ga­be usw. aus­zu­pro­bie­ren. Die Lösung schei­ter­te nicht etwa an man­geln­der Kom­pe­tenz, son­dern an Vor­ur­tei­len, also am man­geln­den Zutrauen.

Waren die “wohl­tem­pe­riert grau­sa­me” Kon­fron­ta­tio­nen ein­mal gesetzt, lief es fort­an deut­lich bes­ser. Es ging ledig­lich nur dar­um, die “gefühl­te Bedeu­tung” der eige­nen Betrof­fen­heit und Sicht­wei­se soweit zu redu­zie­ren, dass der Zweck der Orga­ni­sa­ti­on wie­der in den Fokus gerückt wer­den konn­te, was letzt­lich für jede und jeden Betei­lig­ten eine “inne­re” Auf­ga­be ist, die er oder sie nur selbst aus­füh­ren kann.

Der Wort­laut der Inter­ven­ti­on war etwa die­ser, wobei Ver­sio­nen davon sowohl in Ein­zel­ge­sprä­chen als auch in Team- und Füh­rungs­ter­mi­nen zur Spra­che kamen: “Ihre Auf­ga­be ist es nicht, sich zu strei­ten und dann zu kei­ner Ent­schei­dung zu kom­men; ihre Auf­ga­be ist es, gemein­sam Ent­schei­dun­gen zu tref­fen und so lan­ge ver­schie­de­ne Optio­nen zu pro­bie­ren und aus­zu­wer­ten, bis Sie einen Weg gefun­den haben, wie es bes­ser funk­tio­niert. Genau das ist ja ihr Job. Die­ses Unter­neh­men ist dar­auf ange­wie­sen, dass die Schnitt­stel­le zwi­schen Ihren Berei­chen funk­tio­niert. Ansons­ten stel­len Sie ja Ihre per­sön­li­chen Belan­ge über die des Unter­neh­mens, und das ist, wenn man davon aus­geht, wozu die­ses Unter­neh­men exis­tiert, so nicht vor­ge­se­hen. Las­sen Sie uns also jetzt gemein­sam über­le­gen, wie jen­seits per­sön­li­cher Kri­ti­ken, an denen jeweils auch etwas dran ist, die Schnitt­stel­le zwi­schen Ihren Berei­chen aus­se­hen müss­te, damit am Ende der Pro­zess­ket­te mehr von dem her­aus­kommt, was eigent­lich her­aus­kom­men soll. Es geht nicht dar­um, wer wel­che Schuld trägt oder wie viel, son­dern es geht dar­um, dass am Ende mög­lichst viel von dem her­aus­kommt, was her­aus­kom­men soll. Dem haben Sie sich per­sön­lich unter­zu­ord­nen. Natür­lich sol­len Sie sagen, was schief läuft, dar­um geht es ja, aber danach sol­len Sie auch gemein­sam dar­an arbei­ten, wie es bes­ser lau­fen kann. Dazu hat jede und jeder von Ihnen Ideen. Die Fra­ge ist, wie die­se Ideen zu rea­lis­ti­schen Vor­schlä­gen und Ver­su­chen zusam­men­ge­fügt wer­den kön­nen, die man umset­zen oder aus­pro­bie­ren und deren Ergeb­nis­se man aus­wer­ten kann.”

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt als Dozent tätig und hatte viele Jahre Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.