Der folgende Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch Prozesspsychologie (Heidig & Kleinert 2011):
Am Anfang ist der Mensch, was er bekommt (Winterhoff 2008). Am Anfang sind also nur Bedürfnisse, und der Mensch verfügt zunächst über keinerlei „Gewahr-Sein“ seiner selbst oder gar anderer Personen im Sinne dessen, was als Bewusstsein bezeichnet wird. Wenn dies zutrifft, dann wird deutlich, warum die ersten – vollständig vorsprachlichen und deshalb rational überhaupt nicht zugänglichen – Erfahrungen so prägend sind. Wenn der Mensch sein Bedürfnis ist, dann sind sein ganzes Sein und seine gesamten Erfahrungen zunächst von der Befriedigung seiner Bedürfnisse abhängig. Bei Nichtbefriedigung hingegen entstehen Ängste von existentiellem Ausmaß. Es kann wohl als eine der Urformen von Angst angesehen werden, wenn ein Säugling Hunger hat und nichts bekommt. Dies ist eine Erfahrung, gegen die Kinder noch keine Schutzmechanismen haben. Diesen ursprünglichen Zustand hat Melanie Klein den paranoid-schizoiden Modus genannt. Diese Bezeichnung ist hier nicht mit den gleichnamigen Störungsbegriffen zu verwechseln. Vielmehr meint Klein damit die Verletzbarkeit der seelischen Entwicklung durch zu wenige positive bzw. zu viele negative Erfahrungen. Alle Erfahrung in dieser Phase ist vorsprachlich, und das Kind verfügt noch über keinerlei Konzept davon, dass die Mutter eine andere Person ist. Das Kind ist „allein auf der Welt“, das heißt, das Bedürfnis des Kindes bzw. dessen Befriedigung oder Nicht-Befriedigung entspricht der Welt des Kindes. Das Kind ist also psychisch in gewisser Weise auf sich alleine gestellt, ist sich dessen allerdings nicht gewahr, denn es hat noch keine kognitive Instanz, die all dies regeln könnte. Das Kind erfährt die Welt auf einem Spektrum zwischen der Befriedigung von Bedürfnissen und existentiellen Bedrohungen. Durch den Kontakt mit der als bedrohlich erlebten Welt treten erste psychische Differenzierungen auf. Indem die Psyche versucht, mit den Bedrohungen umzugehen bzw. sie zu kontrollieren, entwickelt sich aus einem Teil des Es eine zweite Instanz. Das Ich tritt fortan als Mittler zwischen den Bedürfnissen des Kindes und der Umwelt auf. Die Herausbildung des Ichs bildet auch die Voraussetzung für die Konzeptualisierung des Selbst und des Anderen, also die Erfahrung, dass die Mutter eine andere Person ist als das Kind selbst, und dass sie die Bedürfnisse des Kindes manchmal befriedigt und manchmal nicht.
Wenn (a) sich die Instanz des Ichs langsam vom Es differenziert und das Kind die Grundlagen des Verständnisses verschiedener Personen entwickelt, und wenn (b) während der ersten Phase (paranoid-schizoider Grundmodus) genügend positive Erfahrungen gesammelt wurden, dann besteht die Chance für einen weiteren wichtigen Entwicklungsschritt. Dieser Schritt besteht darin, die Ambivalenz der Erfahrungen mit der Mutter zu bewältigen. Mal ist die Mutter anwesend und damit die Quelle von Nähe und Bedürfnisbefriedigung. Mal ist sie abwesend und dadurch furchteinflößende Auslöserin existentieller Bedrohungen. Beide Erfahrungen müssen in ein und derselben Person verortet werden. Wenn diese Herausforderung gelingt, ist der Grundstein für das gelegt, was als Frustrationstoleranz bezeichnet wird – eine der zentralen Funktionen des Ichs als der psychischen Instanz, die zwischen den menschlichen Bedürfnissen und der Außenwelt vermittelt. Melanie Klein hat diese Entwicklungsstufe den depressiven Modus genannt und damit die Fähigkeit zur Integration äußerst ambivalenter Erfahrungen (sowohl positiver als auch negativer Erlebnisse) in dasselbe Konzept (die Person der Mutter) bezeichnet. Das Adjektiv „depressiv“ hat hier wiederum nichts mit dem gleichnamigen Störungsbild zu tun.
Das psychische Geschehen während des ersten und zum Teil auch des zweiten Lebensjahres verläuft vollständig vorsprachlich. Geschehen in dieser Zeit psychische Verletzungen, so wie-gen diese besonders schwer, denn sie betreffen die psychische Entwicklung in ihrer grundlegenden Phase und sind später mit sprachlichen Mitteln kaum bearbeitbar.
Aus den bisherigen Darstellungen wird deutlich, wie wichtig ausreichend positive Erfahrungen eines Kindes während der ersten Lebensjahre sind. Allerdings – und dies wird oft weniger betont – ist die Erfahrung der eigenen Grenzen ebenfalls von elementarer Bedeutung für die Entwicklung. Die Welt des Kindes entspricht, wie wir gesehen haben, am Anfang mehr oder minder seinen Bedürfnissen – das Kind ist, was es bekommt. In dieser Zeit werden die ersten Grundlagen für eine psychische Differenzierung gelegt, die in die Herausbildung des Ichs als zweite psychische Instanz neben dem Es mündet. Ein anderer psychoanalytischer Begriff für die Selbstbezogenheit insbesondere des ersten Lebensjahres ist der des primären Narzissmus‘. Der primäre Narzissmus bezeichnet die zwangsläufige Auf-sich-selbst-Geworfenheit des Kindes in den frühen Entwicklungsstadien – das Kind ist gleichsam seine Welt, weil es noch über keine psychischen Differenzierungen verfügt, die zwischen sich und anderen bzw. der äußeren Welt unterscheiden könnten. Wenn nun ausreichend positive Erfahrungen möglich sind, verläuft die Entwicklung ohne Beeinträchtigungen, möchte man meinen. Doch dem ist nicht immer so, wie Michael Winterhoff (2008) eindrucksvoll darstellt. Über die positiven Grunderfahrungen hinaus sind auch Grenzerfahrungen für eine gelingende psychische Entwicklung notwendig. Werden diese Grenzerfahrungen im Sinne allgemein gültiger Regeln bzw. dessen, was ein Kind nicht darf, nicht gemacht, verbleibt das Kind im Zustand des primären Narzissmus. Dies äußert sich, indem andere Menschen nicht als eigenständige Wesen, sondern als Teil der eigenen Welt betrachtet werden. Ursache dafür ist der fehlende Entwicklungsschritt, über die Integration von ambivalenten Erfahrungen – zunächst mit der Mutter und dann mit anderen Menschen – Frustrationstoleranz zu erlernen. Werden dem Kind keine Grenzen gesetzt, kann es keine oder zu wenige der besagten ambivalenten Erfahrungen machen, und die Integration der Ambivalenz in ein Konzept („Die Mutter ist manchmal da, dann ist alles gut. Aber manchmal ist sie auch nicht da, das ist zwar nicht gut, aber es ist trotzdem dieselbe Person, die mich liebt und die ich liebe.“) kann nicht erreicht werden. Nach Winterhoff (2008) kann solche eine fehlgehende Entwicklung in die Unfähigkeit, andere Menschen als selbstständige, gleichberechtigte Wesen zu behandeln, münden. Andere Personen werden dann behandelt, als seien sie Teil der eigenen Welt. Eine Tendenz zur Unfähigkeit sich unterzuordnen und ein gering ausgeprägtes Durchhaltevermögen aufgrund fehlender Frustrationstoleranz sind dann entsprechende Folgen.
Das Beispiel des Verbleibens im primären Narzissmus verweist auf einen weiteren wichtigen psychischen Entwicklungsschritt. Der zunehmende Kontakt mit der Umwelt führt immer wieder zu Konflikten zwischen den Impulsen des Es und dem, was die Umwelt erlaubt. Die Erfahrungen mit diesen Konflikten führen mit der Zeit (etwa zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr) zu einer weiteren Differenzierung des psychischen Apparats. Das Über-Ich geht als die Instanz der Regeln und Verbote, der Moral und der gesellschaftlichen Normen aus dem Ich hervor. Nach der Vorstellung Freuds übt das Über-Ich dauernd Druck auf das Ich aus, um das Es unter Kontrolle zu halten.
Das Es löst nach der psychoanalytischen Vorstellung mehr oder minder dauernd Konflikte aus, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zunächst richten sich die Impulse auf die Umwelt, und das Ich hat als Anpassungsinstanz die Aufgabe, zwischen den Impulsen des Es und der – ggf. bedrohlichen – Umwelt zu „vermitteln“. Dabei bringt das Ich zunächst eine weitere psychische Instanz hervor, die dem Ich bei der Anpassungsleistung mit Regeln und Normen behilflich ist: Im Über-Ich werden die normierenden Einflüsse von Eltern, Erziehern und Gesellschaft wirksam. Dem Ich obliegt nun die immense Aufgabe, die Bedrohungen der Umwelt, die Impulse des Es und den Druck des Über-Ichs zu integrieren. Zum Umgang mit diesen in ihrem Ausmaß angstauslösenden Impulsen bzw. zur Reduktion des durch die Gegensätzlichkeit der Anforderungen entstehenden Drucks entwickelt das Ich Abwehrmechanismen, die verhindern, dass das ganze ambivalente Ausmaß der Impulse bewusst wird. Abwehrmechanismen sind demnach im positiven Sinne als Anpassungen an die Realität zu verstehen. So macht ein Kind bspw. mehrfach die Erfahrung der Ablehnung und wird daraufhin schrittweise Mechanismen entwickeln, sich fortan anders zu verhalten. Der wohl bekannteste Abwehrmechanismus ist die Verdrängung – „was zu große Angst auslöst, findet fortan nicht mehr statt“, zumindest nicht bewusst. Das bezieht sich sowohl auf furchterregende Faktoren der Realität, indem angstauslösende Elemente gleichsam aus dem bewussten Abbild der Wirklichkeit entfernt und ins Unbewusste verdrängt werden, als auch auf diejenigen Impulse des Es, die zu starken Konflikten führen – etwa indem das Ich lernt, den Impuls zu verdrängen, die Mutter zu hassen, um wieder Zuneigung zu erfahren.