Es handelt sich hier auf den ersten Blick um eine sehr spezielle Frage — gestellt in meiner Organisationspsychologie-Vorlesung im Masterstudiengang Kommunikationspsychologie an der Dresden International University, die ich heuer nach 39(!) Semestern, während der ich an der DIU Lehraufträge hatte, zum letzten Mal halte.
Als ich die Zahl 39 realisierte, kam ich zu dem Schluss, dass man manchmal Dinge beenden sollte, auch wenn sie einem viel Spaß machen. Nach dem Motto: Man sollte gehen, wenn es am schönsten ist. 😉
Die in der Überschrift gestellte Frage bezieht sich auf die Kommunikationsstörungen, die auftreten können, wenn sich Angehörige unterschiedlicher Disziplinen begegnen. Ursachen können bspw. sein:
- Unterschiedliche „Berufssprachen“ und daraus resultierende Missverständnisse
- Verschiedene „professionelle Grundannahmen“, die innerhalb der jeweiligen Professionen ggf. selbstverständlich sind, aber eben zu einer unterschiedlichen Bewertung der Lage führen oder unterschiedliche Prioritätensetzungen o.ä. zur Folge haben
- Gegenseitige Geringschätzung, weil man ggf. die andere Disziplin für „weniger kompetent“ o.ä. hält
Die naheliegende organisationspsychologische „Deutungsfolie“ für das Verständnis des Problems ist die Organisationskultur. Bereits mit einer Ausbildung oder einem Studium nehmen Menschen einen gewissen „Bestand“ an Wissen, Prozeduren, Sprachgebräuchen, Denkweisen usw. an, die in der jeweiligen Profession „selbstverständlich“ sind. Ausbildung und Einarbeitung sind, organisationspsychologisch oder ‑soziologisch betrachtet, Prozesse der „aneignenden Gewöhnung“. Mit der Zeit festigen sich die Wissensbestände, bestimmte Fertigkeiten bilden sich heraus — und es kommt implizit auch zur Übernahme bestimmter Regeln und Normvorstellungen und schließlich auch bestimmter „Grundannahmen“ über das Wesen des Menschen, den Umgang mit Zeit und so weiter. Manche Dinge werden selbstverständlich, andere Dinge werden als unpassend oder gar unmöglich angesehen. So wird man zum Beispiel in einer Feuerwehr viel eher und verbindlicher lernen, sehr pünktlich zu sein, als man das bspw. als Sozialpädagoge oder Psychologe tut. Pünktlichkeit ist in bestimmten Berufsgruppen wichtiger als in anderen Berufsgruppen. Dementsprechend werden Angehörige bestimmter Berufsgruppen Pünktlichkeit für viel selbstverständlicher halten als Angehörige anderer Berufsgruppen. Das mag ein eher banales Beispiel sein, aber so ist es dann eben auch mit dem Menschenbild: In bestimmten Berufsgruppen bildet sich zum Beispiel viel eher die Ansicht heraus, dass man „funktionieren“ müsse, während allein die Vorstellung, „funktionieren“ zu müssen, in anderen Berufsgruppen mindestens als Einschränkung der individuellen Freiheit oder gar als „autoritäre Zumutung“ oder „Schlimmeres“ angesehen wird. Solcherlei Unterschiede müssen nicht immer ein Drama sein, fakt ist aber, dass sie sich auswirken, eben weil man bestimmte Dinge für selbstverständlich hält, einen bestimmten, innerhalb der Berufsgruppe vielleicht „normalen“ oder mindestens „möglichen“ Sprachgebrauch erlernt hat, der in anderen Berufsgruppen eben nicht selbstverständlich ist und die Angehörigen einer anderen Berufsgruppe bisweilen irritieren kann.
Legion sind zum Beispiel Missverständnisse zwischen Ingenieuren auf der einen und Betriebswirten oder Managern auf der anderen Seite. So könnte man sich beispielsweise folgenden Dialog vorstellen:
Ingenieur: „Aus technischer Sicht kann nicht ausgeschlossen werden, dass es noch ein Restrisiko gibt. Es scheint daher angeraten, den Marktgang zu verzögern, bis alles restlos geklärt ist und wir uns sicher sein können.“
Manager: „Jetzt setzen Sie mal Ihren Ingenieurshut ab und setzen Sie sich mal den Hut eines Entscheiders auf. Wie viele Runden wollen wir denn noch drehen? Eine Verschiebung kommt gar nicht infrage. Sie haben damals dem Launch-Datum zugestimmt, und jetzt halten Sie sich bitte daran. Sie haben doch Ihre Testroutinen durchgeführt.“
Ingenieur: „Ja, aber wir können nicht ausschließen, dass…“
Manager (unterbricht sein Gegenüber): „Jetzt lassen Sie das mal schön sein und überlegen sich das nochmal ganz genau. Wenn Sie sich sicher sind, dass da was dran ist, dann bitte. Aber wenn Sie hier nur den Überkorrekten spielen, weil sie etwas nicht ausschließen können, dann überlegen Sie sich das gut, ob Sie den Produktlaunch anhalten, dann stehen Sie dafür gerade.“
Das ist nur ein fiktives Beispiel. Solche Missverständnisse kommen zwischen Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Disziplinen vor, sie kommen aber auch zwischen unterschiedlichen Sparten innerhalb einer Disziplin vor — manchmal sogar verbunden mit einer gewissen „habituellen Geringschätzung“ — das heißt einer der Disziplin quasi innewohnenden und damit irgendwie unbewusst oder „halb bewusst“ übernommenen Sichtweise auf andere Teildisziplinen. Kennen Sie so etwas? Wenn sich die „einen“ Juristen oder Offiziere oder Ärzte oder Professoren oder Ingenieure oder Techniker oder Orchestermusiker oder Rettungsdienstmitarbeiter oder, oder für „anders“ — nur ein Schelm, der annimmt, dass mit „anders“ eigentlich „besser“ gemeint ist 😉 — halten als „andere“ Angehörige ihrer Zunft?
Die letzten Betrachtungen könnten uns zu der Frage führen, ob eine Betrachtung und Analyse anhand von Organisationskultur-Modellen wirklich ausreicht, oder ob es sich beim „sozialen Vergleich“ nicht vielmehr auch um eine anthropologische Konstante handelt, wenn der soziale Vergleich eben auch innerhalb von Disziplinen, zwischen Einheiten gleicher Art (die eine Feuerwehr ist „besser“ als eine andere usw.) und sogar innerhalb von Teams mit insgesamt ähnlich qualifizierten und erfahrenen Fachkräften vorkommt.
Solches geschieht öfter, als man vielleicht auf den ersten Blick denken mag: Man führt zwar scheinbar sachliche, quasi-disziplinäre Gründe oder Sichtweisen an, aber es geht gar nicht so sehr um die sachlich darstellbaren Unterschiede, sondern darum, den eigenen Status-quo abzugrenzen oder aufzuwerten, indem man sich mit anderen vergleicht.
Die Kommunikation in Organisationen ist oft genug eben nicht offen und transparent, sondern vor allem „selbstschutzgetrieben“. Das liegt daran, dass wir uns in der Regel vor der Einsicht schützen wollen, eventuell falsch zu liegen. Der „fundamentale Attributionsfehler“ mag hier als ein erster, exemplarischer Beleg ausreichen — wenn etwas gelungen ist, schreibe ich mir das in der Regel selbst zu; wenn etwas misslungen ist, sind in der Regel andere Personen oder Umstände schuld — zumindest aus meiner eigenen Sicht bzw. aus der Sicht der jeweils handelnden/sprechenden Person. Verständigung ist also unwahrscheinlicher als gegenseitige Schuldzuweisung — es sei denn, ich hätte gelernt auszuhalten, dass ich auch falsch liegen könnte, was allerdings ein anstrengender Lernprozess ist, der von mir verlangt, Unsicherheit ertragen zu können, und Unsicherheit zu ertragen, ist sehr unangenehm. Offenheit ist deshalb unwahrscheinlicher als strategische/verdeckte Kommunikation — auch und besonders unter Führungskräften. Wir haben das an anderer Stelle auf diesem Blog ausführlicher dargestellt, weshalb wir die Erörterung dieses Themas bei den eben gemachten kurzen Bemerkungen belassen.
Nachdem wir Modelle zum Verständnis des Problems diskutiert haben, soll nun dargestellt werden, was uns auf eine mögliche Beantwortung der oben gestellten Frage hinweisen kann.
Wir leben in einer Zeit, in der berufliche/organisationsbezogene Themen komplexer werden. Ein Beispiel: Die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Handeln in Unternehmen und Behörden werden komplexer, weil sich die „Regelungsdichte“ immer weiter erhöht. Wenn Sie bspw. Landwirt sind, vergeht nur kurze Zeit, bis die EU oder der Bund eine neue, eigentlich: weitere, Regelung erlässt. Wir sagen „neue“, aber eigentlich sind es „weitere“ Regelungen, denn es ist selten, dass eine neuere Regelung eine ältere ersetzt, geschweige denn irgendeinen Zusammenhang oder irgendeine Prozedur vereinfacht. Entbürokratisierung ist viel unwahrscheinlicher als weitere Bürokratisierung — mit der Folge, dass aktuell in Deutschland geschätzt knapp ein Viertel der geleisteten Arbeit für Verwaltung und Bürokratie draufgeht, und das nicht etwa allein in der Landwirtschaft, sondern im Durchschnitt.
Zur wachsenden Komplexität kommt die Beschleunigung: Unsere Kommunikations- und Informationstechnologie ermöglicht schnelle Anpassungen und Änderungen — was zu einer allgemeinen „Beschleunigungserwartung“ beiträgt — ganz zu schweigen von der Geschwindigkeitssteigerung durch kürzere Produktzyklen und infolge der Globalisierung immer schnellere Märkte.
Wie soll man da noch mitkommen, wenn sowohl die Komplexität als auch die Geschwindigkeitserwartung steigen? Die Antwort der Neunziger Jahre: Lebenslanges Lernen. Die heutige Antwort: Renne gefälligst mit und versuche, weit genug vorn zu bleiben. Viele von uns entscheiden sich, bei diesem Rennen mitzumachen. Haben wir eine andere Wahl?
Wenn das bisher Gesagte nicht falsch ist, sei hier in Anlehnung an Edgar Schein (siehe im verlinkten PDF-Dokument ab S. 18 den Artikel von M. Pichler über Edgar Scheins Buch Humble Inquiry) Martin Pichlers „Deklination“ dessen dargestellt, was das praktisch bedeutet:
- Wenn das Geschehen in Organisationen komplexer und schneller wird, steigt die Dichte der Koordinations- und Schnittstellenerfordernisse, womit wir abhängiger von gelingender Kommunikation werden.
- Basis gelingender Kommunikation sind tragfähige (Arbeits-)Beziehungen.
- Die Grundlage von Beziehungen ist Vertrauen, und wenn schon nicht VERtrauen, dann im professionellen/beruflichen Kontext mindestens ein gewisses ZUtrauen, die Kompetenz des Gegenübers betreffend.
- Vertrauen ist abhängig von der Frage, ob sich Menschen öffnen. Ob sich Menschen öffnen, ist eine Frage des (ehrlichen) Interesses, das ihnen entgegengebracht wird.
- Spitz formuliert: Gegen echtes Interesse kann man sich nur schwer wehren. Interesse ist dabei eher eine Frage der Haltung als der Technik. Auf der technischen Ebene signalisieren Fragen entsprechendes Interesse; auf der Haltungsebene geht es darum, ob ich die Fragen stelle, weil ich mich für mein Gegenüber interessiere oder weil ich „nur“ etwas erreichen will. Im Grunde geht es darum, dass ich Fragen stelle, deren Antwort ich noch nicht kenne.
In diesem Sinne kann es im Falle des Versuchs einer „Vermittlung“ zwischen skeptisch oder gar feindlich eingestellten Angehörigen verschiedener Disziplinen hilfreich sein, wenn die vermittelnde Instanz „keine Ahnung“ hat — oder wenn man die Intervention zu zweit macht — eine Person ist fachlich kompetent und die andere Person moderiert. Damit ist eine Person inhaltlich-fachlich respektabel oder mindestens akzeptabel, und die andere Person kümmert sich um den Prozess, ohne unter dem Druck zu stehen, sowohl moderieren als auch fachlich kompetent sein zu sollen.
Freilich bedarf es der Erfahrung in der Kunst des Fragenstellens. Das ist vielleicht der komplizierteste Teil der Technik, die eine hilfreiche Intervention erfordert. Hier bringen die folgenden Regeln Licht ins Dunkel:
- Eine gute Auftragsklärung ist, „systemisch“ gesprochen, bereits die „halbe Intervention“: Je klarer ist, was bewirkt werden soll, desto konkreter die Fragerichtung.
- Um Vertrauen aufzubauen, helfen vor allem Interessensfragen. Interessensfragen fangen mit W an: Was, wer, wann, wozu, wie…?
- Die einzige W‑Frage, mit der sparsam umzugehen ist, lautet: Warum…? (Wieso…? Weshalb…?) Die Frage nach dem Grund bewirkt allzu oft eine gewisse Rechtfertigung und wird, zu früh gestellt und deshalb noch ohne hinreichende Vertrauensgrundlage, als konfrontative Hinterfragung wahrgenommen. Man kann solche Fragen stellen — aber erst, wenn ein Mindestmaß an Vertrauen entstanden ist.
- Mit „direkt konfrontativen“ Fragen ist sparsam umzugehen — Konfrontationen sind im Prinzip „Tests eigener Vermutungen“. Der Prototyp: „Sie haben das doch bestimmt deshalb und deshalb getan, oder?“ Zu früh gestellt, bewirken solche Fragen einen gewissen Rückzug oder den Abbruch der Kommunikation. Konfrontative Fragen sind momentan besonders unter Journalisten populär, bewirken aber eben keine „vertiefende Erörterung“ eines Themas, sondern häufig nur entweder Rechtfertigung oder Gegenangriff oder irgendeine andere Form der Positionierung.
Aus Positionierungen kann man vor allem Schlagzeilen machen; für Lösungen hingegen braucht man Einsicht, Selbstreflexion, Zurücktreten von allzu drastischen Forderungen usw.
Und wie erreicht man das? Wahrscheinlich eher durch Fragen wie: „Was von dem, was Ihr Gegenüber gesagt hat, können Sie nachvollziehen?“ anstatt durch Fragen wie: „Sie haben gerade gehört, wie Ihr Gegenüber die Sache sieht. Aus Ihrer Sicht: Wie bekommen wir jetzt die Kuh vom Eis?“
Lösungsorientierte Fragen zu stellen, bedeutet, von der Zukunft her zu fragen, anstatt durch rhetorische Zuspitzungen die Situation noch anzuheizen.
Wie soll man nun aber feststellen, was in dem komplexen Geschehen einer Diskussion, zumal einer zwischen „konflikthaften“ oder gar „strittigen“ Seiten, „richtig“ ist? Also: Welche Methode würde sich lohnen?
Bevor man sich die Frage stellt, welche Methode geeignet ist, sollte man sich die Frage stellen, ob es sich überhaupt lohnt zu intervenieren. Zu dieser Frage haben wir an anderer Stelle auf diesem Blog eine Reihe klarer Orientierungen dargestellt, die vergleichsweise einfach anwendbar sein sollten.
Unabhängig davon, was man macht bzw. welche Fragen man stellt, sollte das Wirkungsziel klar sein: Man will hilfreich sein beim Abbau von Kommunikationsproblemen, man will die Bereitschaft zur Zusammenarbeit fördern, man will den Zusammenhalt stärken; allgemeiner ausgedrückt: In Zeiten, da die Individualisierung zunimmt und das auch bedeutet, dass das früher selbstverständlich Gemeinsame eben immer mehr hinterfragt wird, ist es umso notwendiger, auf das Gemeinsame zu schauen und das Gemeinsame zu stärken.
Natürlich kann man die Beteiligten nach einem Vermittlungsversuch fragen, ob sie nun eine Lösung sehen. Aber mit dieser Frage macht man sich quasi von den Sichtweisen der Betroffenen abhängig — und diese Einlassungen können aus verschiedenen Gründen sehr unterschiedlich oder gar kritisch sein, denn die sind immer abhängig oder mindestens gefärbt von den jeweils eigenen Interessen oder Zielen usw.
Es gibt ein objektives Kriterium, nämlich die Frage, ob das, was geschieht, auf den Zweck der jeweiligen Organisation einzahlt. Jede Organisation hat einen Zweck: Die Gemeindeverwaltung soll das Dasein der Gemeinde kontinuierlich und gesetzeskonform sicherstellen. Die Feuerwehr soll im Bedarfsfall zum Einsatz kommen und retten, löschen, bergen und schützen. Ein Verein soll seinem Zweck entsprechen usw. Aus dem Daseinsgrund einer Organisation ergibt sich ein Maßstab, anhand dessen man bestimmen kann, ob eine konkrete Handlung, die innerhalb einer Organisation stattfindet, auf den Zweck der Organisation einzahlt oder nicht, bzw. bis zu welchem Grad sie das tut und ab welchem Grad sie das ggf. nicht mehr tut.
Was es in dem hier besprochenen interdisziplinären Kontext zu erreichen gilt, ergibt sich also nicht etwa aus der Summe der individuellen Sichtweisen und Interessen der Beteiligten, sondern aus dem Zweck der Zusammenkunft. Diesen Zweck der Zusammenkunft kann man vorher klären: Was soll bewirkt werden? Was ist der Zielzustand? Welche Probleme sind zu lösen, um in den „Umstand des gemeinsamen Funktionierens“ zu kommen?
Menschen öffnen sich nur, wenn man ihnen Interesse entgegenbringt. Es geht also zunächst darum, Vertrauen aufzubauen, indem man Interesse zeigt und die richtigen (offenen, interessensgeleiteten, vorurteilsarmen) Fragen stellt. Die Haltung ist dabei wichtiger als die Technik. Es kommt darauf an, dass ich neutral bin und offenes Interesse zeige, das tatsächlich ehrlich und ernst gemeint ist.
So wichtig der Vertrauensaufbau aber auch ist — es handelt sich dabei nur um eine erste Phase. Eigentlich soll ja etwas bewirkt werden — die Bemühungen haben ja ein Ziel. Beispielsweise soll zwischen zwei noch nicht hinreichend kooperierenden Parteien vermittelt werden. Einerseits brauche ich also Interesse, um überhaupt die Voraussetzung zu schaffen, hilfreich sein zu können. Ich muss als Helfer und als Mensch überhaupt erst einmal eine gewisse Akzeptanz und ein gewisses Zutrauen erreichen. Andererseits soll aber eben auch etwas bewirkt werden, dass es bisher noch nicht oder noch nicht in ausreichendem Maße gibt, nämlich interdisziplinäre Zusammenarbeit.
So angenehm ich einen ersten Kontakt überhaupt gestalten kann — und so ehrlich und offen mein Interesse sein mag — irgendwann kommt es doch einmal zu der Gretchenfrage des eigentlichen Ansinnens der Gespräche, des Termins usw. Irgendwann kommt es zu dem, was man Intervention nennt. Eine Intervention bedeutet, ein laufendes Beziehungsnetzwerk zu betreten, um hilfreich zu sein. Auf die oben dargestellte Ausgangsfrage angewendet bedeutet es, dass man die Bedingungen eines interdisziplinären Erstkontakts so setzt, dass etwas Konstruktives dabei herauskommt, also die Angehörigen unterschiedlicher Disziplinen vielleicht miteinander arbeiten wollen, obwohl es „Gräben“, „Missverständnisse“ usw. gibt.
Wie macht man das?
Es gilt zunächst, die Situation des „Ankommens“ für die Angehörigen unterschiedlicher Disziplinen so angenehm wie möglich zu machen. Hierzu ist es hilfreich zu wissen, welche Umstände, Faktoren und Handlungen dazu geeignet erscheinen, Menschen zu verbinden.
Anthropologisch gesprochen müssten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst auf das richten, was Menschen verbindet, was Menschen leicht fällt, miteinander zu teilen, oder was miteinander zu teilen unter Menschen mehr oder minder selbstverständlich ist: Wir können uns miteinander freuen. Wir können miteinander traurig sein. Wir können miteinander essen. Wir können miteinander feiern. Und vielleicht noch einiges mehr.
Wenn ich also ein Meeting anberaume oder gestalten soll, bei dem Angehörige unterschiedlicher Disziplinen anwesend sein werden, kann ich bspw.
das Meeting für 10:00 Uhr anberaumen, aber erst 10:30 Uhr wirklich beginnen — und eine „Ankommensituation“ schaffen, in der sich die Ankommenden wohl fühlen können. Es gibt Kaffee und Tee, vielleicht weitere Getränke oder Häppchen, es stehen da runde Stehtische; man geht erst später in den Arbeitsraum, in dem ein großes U aus Tischen mit Stühlen angeordnet ist. Kurzum: Ich schaffe einen Raum, der sehr frei und angenehm ist — und gleichzeitig so gestaltet ist, dass die Anwesenden einander Interesse entgegenbringen können, zunächst auf der informellen Ebene.
Essen ist die wahrscheinlich wirksamste hierarchienivellierende oder Disziplingrenzen überbrückende Maßnahme der Welt: Beim Essen sind alle Menschen gleich. Wenn sie dann noch auf einer Ebene stehen oder sitzen, kommt wahrscheinlich auch ein Gespräch in Gang — zumindest viel wahrscheinlicher, als es das wäre, wenn wir sofort in jenem U aus Tischen und Stühlen mit der Veranstaltung beginnen würden. Gelegenheit für informelle Kommunikation bedeutet schlicht: Zeit und Raum für das, was man „Smalltalk“ nennt — ohne aber jenen „Zwang zum Smalltalk“ zu bewirken, vor dem viele zurückschrecken. Wer nicht reden will, soll nicht reden. Aber eine Situation, in der ich ruhig ankommen und mir die Sache erst einmal anschauen kann, und in der ich vielleicht einen Kaffee trinke und mich mit einem freundlichen Wort oder einer freundlichen Frage an einen Tisch stelle, ist allemal angenehmer, als wenn ich sofort am Tisch sitze und die Veranstaltung mit „Vernetzungsinteresse“ beginnt.
Tatsächliches Kennenlernen funktioniert weniger durch eine „irgendwie offizielle“ Vorstellungsrunde, sondern durch tatsächliches Erzählen. Kann man die Beteiligten also bspw. auf einen Spaziergang schicken — und zwar zu zweit mit dem Auftrag, sich gegenseitig Interessensfragen zu stellen. Natürlich kann bei bspw. 12 Anwesenden nicht jede mit jeder anderen Person spazieren gehen, aber man lässt bspw. drei solcher Runden drehen auf der Basis dreier freier Wahlen, mit wem man sich gern austauschen möchte… Jeweils 15 Minuten… Das kostet Zeit, sorgt aber eben für gegenseitiges Interesse und indirekt für eine wesentlich geringere Eskalationswahrscheinlichkeit in allen Schritten, die danach kommen — eben weil man sich gegenseitig Interesse gezeigt und ggf. ein Mindestmaß an Vertrauen oder wenigstens Zutrauen in die Kompetenz des Gegenübers aufgebaut hat.
Die klassische deutsche „Vernetzungsveranstaltung“ beginnt mit einer Begrüßung, und nach der Begrüßung folgt ein Vortrag. Nach einem Vortrag ist es in der Regel nicht ganz einfach, zwischen den Beteiligten Interaktion zu schaffen. Wenn es überhaupt Interaktion gibt, richtet sich diese in der Regel auf die Person, die den Vortrag gehalten hat. Die Hoffnung, dass eine Diskussion entsteht, verpufft oft. Ganz anders verläuft die Sache, wenn man schlicht die Reihenfolge umdreht, also den Austausch vor den Input stellt. Hier muss man natürlich ein paar hilfreiche Fragen im Kopf haben. Beispiel: „Was war in Ihrer Tätigkeit in den letzten Wochen und Monaten interessant? Was hat Sie ggf. überrascht? Wo ist Ihnen vielleicht etwas zum ersten Mal gelungen? Oder wobei ist etwas schief gegangen, und Sie haben ggf. etwas daraus gelernt? Lassen Sie uns an Ihren Erfahrungen teilhaben. Erzählen Sie mal bitte eine Geschichte — und stellen Sie sich dabei gleich noch einmal vor, sodass wir wissen, wer Sie sind und welche Aufgabe Sie in Ihrem Unternehmen haben.“
Wenn sich Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Disziplinen treffen, haben alle Anwesenden in der Regel mehr oder weniger einen gewissen Expertenstatus. Das heißt, man kennt sich aus — und hat ggf. auch eine Meinung. Es kann daher sehr hilfreich sein, die Moderation von der fachlichen Rolle zu trennen, indem jemand „nur“ für den Prozess des Gespräches bzw. der Diskussion verantwortlich ist. Es kann sogar hilfreich sein, wenn diese Person vom betreffenden Fachgebiet kaum oder keine Ahnung hat. Letzteres kann bedeuten, dass man die besseren (= offeneren, neutraleren) Fragen stellen kann. Natürlich braucht eine wenig fachkompetente Person in einem solche Fall eine gewisse Erfahrung in der Gestaltung und Steuerung interdisziplinärer Dialoge. Lesen Sie im Falle weiterführenden Interesses dazu einen Beitrag über Moderationstechniken auf diesem Blog.
Die bisher dargestellten Techniken sind alle „sanft“, gestalten den Rahmen und den Ablauf. Das kann einen positiven Einfluss haben. Es kann aber dennoch zu den oben skizzierten „Fremdheiten“, also zu konflikthaften Diskussionen kommen, die sich aus unterschiedlichen Sprachgebräuchen oder Grundannahmen oder eben aus dem Umstand „habituell erworbener“ gegenseitiger Geringschätzung ergeben. In diesen Fällen reicht es nicht, die Umstände und das Setting möglichst günstig zu gestalten und ein paar geeignete Techniken anzuwenden. Spätestens dann wird es Zeit, auch eine Idee zu haben, wie man intervenieren kann.
Eine Möglichkeit, aus einer eher „offenen“ und „zugewandten“, von tatsächlichem Interesse geleiteten Vorgehensweise in eine etwas direktere, weniger „begleitende“, sondern mehr „steuernde“ oder „intervenierende“ Vorgehensweise überzugehen, liegt in der Kunst, direktere oder „spitzere“ Fragen zu stellen.
Angenommen, man hat aus einer moderierenden Rolle heraus tatsächlich offene Fragen gestellt, Interesse gezeigt usw., und es ist zu einer gewissen Öffnung der Anwesenden gekommen, und angenommen, dann hat sich die Diskussion doch an einer der erwartbaren „Sollbruchstellen“ festgefahren… Was kann man dann tun? Hier helfen drei „spitze“ Fragen — die so nicht am Anfang gestellt werden können, aber nach einer gewissen Öffnung und im Falle einer gewissen Blockade durchaus hilfreich sein können:
- Was geschieht, wenn wir so weitermachen? Was kommt dabei heraus? Schätzen Sie bitte einmal die Konsequenzen ein. Wollen Sie das? Würden Sie das in Kauf nehmen? Entspricht das dem, was herauskommen sollte? Und wenn nicht: Was müsste passieren, damit herauskommen kann, was herauskommen soll? Und was können Sie ggf. dazu beitragen?
- Was würden Sie ggf. an der Stelle Ihres Gegenübers tun? Also, was Sie von Ihrem Gegenüber erwarten, ist Ihnen klar. Aber haben Sie sich einmal in Ihr Gegenüber versetzt? Hat das Gegenüber nicht vielleicht auch legitime Bedenken oder Grenzen? Und was, glauben Sie, wäre jetzt hilfreich? Was soll hier erreicht werden? Und wie könnten Sie in Anbetracht Ihrer Kenntnis Ihrer eigenen Ziele, aber auch der Ziele Ihres Gegenübers, auf das Ziel dessen, was hier bewirkt werden soll, einzahlen? Gibt es vielleicht etwas, das Sie ganz konkret tun können? Wenn Sie den ersten Schritt vom Gegenüber erwarten, haben Sie schonmal drüber nachgedacht, den notwendigen ersten Schritt vielleicht selbst zu tun? Und wenn Sie sich einen ersten Schritt vorstellen könnten, was würden Sie da tun?
- Was wollen Sie eigentlich? Ich meine, was ist Ihr Bild von der Zukunft? Was wäre gut? Wie würde die Welt aussehen, wenn es das Problem, über das wir hier reden, nicht mehr gäbe? Und angenommen, wir wollten das wirklich erreichen — was würden Sie an meiner Stelle tun? Und was könnten Sie selbst machen, um dieses Ziel zu erreichen? Nein, Sie sollen nicht nochmal sagen, was die andere Seite machen soll. Was würden Sie an meiner Stelle tun? Und was könnten Sie vielleicht selbst tun?
Am Ende geht es darum, von unseren Gewohnheiten bzw. gewohnten/erworbenen Sichtweisen wegzukommen: Wir sind gewohnt zu machen. Wir sind gewohnt, uns gegenseitig etwas mitzuteilen. Will man hilfreich sein und etwas bewirken, ist es notwendig, von der Selbstverständlichkeit des Tuns und Mitteilens wegzukommen und hinzukommen zu einer Haltung des Interesses, die sich in offenen Fragen niederschlägt. Dieser Lernprozess ist schwer, eben weil er nicht auf der Ebene irgendwelcher leicht erfassbarer Kommunikationsregeln stattfindet (was man mit ein paar modell-bewehrten Belehrungen „abfackeln“ könnte), sondern auf der Ebene der Selbstreflexion, des Ertragens eigener Unsicherheit und der Infragestellung der eigenen Gewohnheiten stattfindet. Indem man den Prozess hilfreich begleitet, bewirkt man genau diesen Lerneffekt — anstatt zu belehren, wie man zwischen Angehörigen verschiedener Disziplinen kommunizieren müsste. Über gelingende Kommunikation soll man nicht sprechen, gelingende Kommunikation muss man machen, man braucht nur eine Idee, wie man das anstellt.
Ich hoffe, dass Ihnen dieser Text einige Ideen oder Anregungen geliefert hat.
PS: Eine weitere sehr hilfreiche, aber hier nicht erwähnte, sondern an anderer Stelle auf diesem Blog ausführlicher dargestellte Technik zur Generierung von Dialog und Verständnis zwischen Angehörigen verschiedener (berufsbezogener) Kulturen ist die so genannte „Lagerfeuer-Methode“ von Edgar Schein. Lesen Sie dazu bitte diesen Beitrag.
PPS: Das Beitragsbild wurde mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstellt.