Wenn meine Beobachtungen nicht falsch sind, dann steigt nicht nur die Zahl der Menschen, die ihren Verbleib bei einem Arbeitgeber hinterfragen, sondern auch die Intensität der Hinterfragung. Man fragt sich vielleicht, ob die eigenen Erwartungen erfüllt werden, ob der Arbeitgeber der „richtige“ ist, ob die Werte des Arbeitgebers zu den eigenen Werten passen o.ä.
Das hat einerseits mit dem Aufwuchs der Möglichkeiten durch eine Veränderung der Demographie zu tun: Ich kann mir zunehmend aussuchen, wo ich arbeite. Heuer müssen Arbeitgeber viel mehr für ihre Mitarbeiter tun als früher. Das kann man angesichts der Zeiten, an die sich viele Menschen gerade im Osten Deutschlands noch gut erinnern können, für eine gute Nachricht halten, wäre da eben nicht das demographische Problem, d.h. für abhängig Beschäftigte ist es zunächst eine gute Nachricht, für die Welt unserer Organisationen insgesamt bedeutet es zunehmend eine existentielle Herausforderung. Wenn weniger Menschen nachrücken, erhalten diese Menschen automatisch mehr Möglichkeiten und damit eine größere Wahlfreiheit und mehr „Macht“. Bereits 2013 habe ich von der Personalleiterin eines Unternehmens mit einer vierstelligen Mitarbeiterzahl die folgende Frage gestellt bekommen: „Wie bekommen wir unsere Macht zurück?“ — „Einstweilen wahrscheinlich nicht“, lautete meine Antwort.
Seither ist viel passiert. Viele Arbeitgeber haben ihre Hausaufgaben gemacht. Die Situation für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist an vielen Stellen signifikant besser geworden.
Aber man hat auch einiges dem Zeitgeist hinterhergeworfen, was man spätestens daran sieht, dass manche heutige Stellenanzeigen so klingen, als würde man sich unterwürfigst um die geschätzte Aufmerksamkeit von Superstars bewerben.
Natürlich übertreibe ich. Zuspitzung dient hier nur der Verdeutlichung.
Andererseits hat diese Entwicklung auch mit einer (dramatischen) Zunahme der Individualisierung zu tun. Durch die individualisierte Erziehung auf Augenhöhe lernen Menschen, dass es selbstverständlich ist, sich zu entscheiden, ob man etwas will oder nicht.
Soweit, so gut. Mit der Individualisierung einher ging aber auch noch ein anderer Trend, nämlich die Hinterfragung ansonsten ganz selbstverständlicher Dinge — und zwar nicht etwa nur zur Verteidigung gegenüber Fehlern oder ungerechter Behandlung, sondern auch ganz schlicht zur Maximierung (kurzfristiger) individueller Vorteile.
Ein Beispiel: Ein Student erhält für seine Leistung in einer Klausur die Note 3. Er macht von seinem Recht auf Klausureinsicht Gebrauch, prüft die Ergebnisse, redet mit dem Dozenten. Man kommt gemeinsam zu dem Schluss, dass es bei der Note bleibt. Man beendet das Gespräch, und als der Student bereits den Raum verlässt, fragt der Dozent: „Darf ich fragen, warum Sie das jetzt gemacht haben, also warum Sie Klausureinsicht wollten?“ Die Antwort: „Am Gymnasium hat das immer geklappt.“
Das kann man natürlich als Einzelfall betrachten. Die soeben geschilderte Situation hat Ende der Nuller Jahre an einer Universität stattgefunden; seither habe ich ähnliche Situationen öfter erlebt. Das bleibt zunächst dennoch meine ganz individuelle Erfahrung.
Spätestens die folgende Beobachtung sollte jedoch auf eine prinzipielle Veränderung hinweisen: Eine Absolventin im Fach Psychologie hat einen Abschlussnotendurchschnitt von 1,5. Das klingt doch erstmal ganz gut, oder? Heuer gibt es aber zwei Varianten der Abschlussnote, einmal die Durchschnittsnote und zum anderen die so genannte „europäische Note“. Die letztere orientiert sich an der Verteilung der Noten auf einem an der statistischen Normalverteilung orientierten Spektrum. Wer eine A‑Note hat, gehört zu den besten 10 Prozent des betreffenden Jahrgangs. Die nächsten 25 Prozent erhalten eine B‑Note; wiederum die nächsten 30 Prozent eine C‑Note; die vorletzten 25 Prozent eine D‑Note und die letzten 10 Prozent der Verteilung eine E‑Note. Nun hat die Absolventin zwar eine 1,5. Diese 1,5 ist aber eine D‑Note, was so viel bedeutet wie: Mindestens 65 Prozent der Absolventinnen und Absolventen des betreffenden Jahrgangs haben eine bessere Abschlussnote als 1,5. Der Durchschnitt sagt also im Fach Psychologie kaum mehr etwas aus. Und das ist mittlerweile in vielen Fächern der Fall, auch an Elite-Universitäten.
Die Normen in einer Gesellschaft ändern sich mit der Zeit. Wenn man jung ist, eignet man sich anhand der in der jeweiligen Zeit geltenden Normen die „Grundlinien“ des eigenen Denkens an. Und mit dem Jungsein geht oft einher, dass man die geltenden Selbstverständlichkeiten hinterfragt. Eine Eigenschaft freiheitlicher Gesellschaften ist es, dass man das auch straffrei darf. Wenn genug Leute zusammenkommen, die die geltenden Regeln hinterfragen und die andere Regeln für „richtiger“ (= zustimmungsfähiger) halten, kommt es langsam zu einer Veränderung der Normen.
Ein weiteres Beispiel: Als ich Mitte der Neunziger Jahre für einige Zeit in einem Asylheim in Ostsachsen arbeitete, lag die Anerkennungsquote bei Asylanträgen im einstelligen Prozentbereich. Ich kannte eine Reihe von Menschen, deren Schicksale eine andere Behandlung erfordert hätten, als sie tatsächlich erfuhren. Ich rede u.a. von Folteropfern, deren Schilderungen glaubhaft waren und für die Gutachten von auf Folterverletzungen spezialisierten Ärzten veranlasst wurden. Diese Menschen mussten nach einer ersten Ablehnung jahrelange Verwaltungsgerichtsverfahren anstrengen, um die Anerkennung als Flüchtlinge zu erhalten. Währenddessen mussten sie drei, fünf, manchmal sieben Jahre im Asylheim vor sich hin existieren. Wenn das viele Menschen betrifft, wie ich seinerzeit durchaus den Eindruck hatte, könnte man auf die Idee kommen, dass eine differenziertere, tiefergehend prüfende, dem einzelnen Fall angemessenere und vor allem schnellere Anerkennungspraxis durchaus hilfreich wäre. Ich habe dann noch mehrere Jahre in diesem Kontext gearbeitet, davon drei Jahre in Bosnien-Herzegowina (humanitäre Hilfe, Friedensarbeit, Wiederaufbau, Flüchtlingsrückführung) und einige Zeit als Supervisor für Führungskräfte von Erstaufnahmeeinrichtungen sowie für Migrationsberatungsstellen. In all diesen Tätigkeiten habe ich unter anderem gelernt, dass es immer ein Binnenspektrum gibt:
- Nicht alle kommen, weil sie wirklich vor etwas geflohen sind. Das trifft sicher auf viele zu, aber nie auf alle; die vielen sind immer nur ein bestimmter Prozentsatz (erste Gruppe).
- Ein weiterer Teil kommt, weil man keine andere Möglichkeit sieht, hier einzuwandern (zweite Gruppe). Man will zwar arbeiten, aber es gibt bisher kaum zügige (= an die Budgets und die Möglichkeiten der sich für diese Option interessierenden Leute angepasste) Regularien. Das wollte man zwar mittlerweile ändern, aber spätestens die Kriterien und Umstände der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Erfahrungen sind nach wie vor so bürokratisch, dass definitiv nicht herauskommt, was bewirkt werden sollte — die Verfahren dauern in der Regel viel zu lange. Zudem ist Deutschland für diejenigen Zuwanderer, die es dringend bräuchte, im Vergleich zu anderen führenden Wirtschaftsnationen zu unattraktiv — also nicht nur zu langsam und zu bürokratisch, sondern selbst vom Lohngefüge her zu unattraktiv. Aber anstatt an dieser Stelle anzusetzen, verlieren wir uns lieber in endlosen Grundsatzdiskussionen (bspw. „Geflüchtete“ vs. „Flüchtlinge“), was den Betroffenen so ziemlich gar nicht hilft. Meine, vielleicht zu spitze, Annahme: Niemand weiß so recht, wie Entbürokratisierung wirklich funktioniert — nur, dass es mühselig wird und keinen Ruhm bringt, das ahnt man wenigstens. Wie man jedoch eine polarisierende Debatte vom Zaun bricht, das weiß man ganz sicher — und das bringt kurzfristig wenigstens Aufmerksamkeit.
- Drittens kommen manche, weil sie es können: Man hat genug Geld, um einen Teil des Nachwuchses loszuschicken und ein (vermeintlich) besseres Schicksal suchen zu lassen.
- Und viertens gibt es eine Reihe von Leuten, deren Gründe hier einzureisen man lieber nicht kennen möchte — oder besser gleich der Polizei verraten sollte, weil nichts Gutes zu erwarten steht.
Natürlich „darf“ man so nicht mehr sprechen, natürlich wird allein die Erwähnung von anderen als guten Migrationsabsichten von manchen bereits als „rassistisch“ entlarvt, und natürlich darf man heute nicht mehr ungebremst von Flüchtlingsrückführung sprechen, ohne gleich in die Nähe von Leuten gerückt zu werden, die vielleicht gern „Remigration“ sagen.
Aber in diesem Zusammenhang normative Vorstellungen und „Denkgebote“ anzuwenden, gleicht m.E. dem Verhalten kleiner Kinder, die, wenn sie sich die Augen zuhalten, damit die Realität auszublenden versuchen.
Wie auch immer man darüber denken mag: In den zwanzig Jahren von 1995 bis 2015 ist etwas passiert — wir sind von einem nach meinem Dafürhalten zu restriktiven Anerkennungsregime zu der — wiederum nach meinem Dafürhalten — viel zu naiven „Willkommenskultur“ gekommen. Gar nicht zu reden von ganz praktischen Fragen wie: Wie hoch kann der Anteil von Kindern, die noch kein Deutsch können, in einer Kindergartengruppe oder Schulklasse sein, damit ein Erlernen der deutschen Sprache gut möglich ist? Allein solche Fragen zu stellen, wird vermutlich in manchen Hochschulbüros und in manchen politischen Kreisen wie gesagt als „nicht inklusiv“, „rassistisch“ usw. angesehen.
Idealismus wächst proportional zum Abstand von der Realität, hat ein geschätzter Kollege einmal gesagt. Man kann die Augen verschließen und idealistisch bleiben — aber dem Problem begegnet man damit nicht, im Gegenteil: Man trägt zu einer Verschärfung des Problems bei, bis die Sache „umkippt“.
Aber selbst wenn man dann die Konsequenzen des Umkippens sieht (scheiternde Integration zum Beispiel oder ein Erstarken der Rechten), erkennt man darin — eine stabile normative Vorstellung vorausgesetzt — ja wiederum nur eine Bestätigung des eigenen Weltbildes, nämlich dass die anderen „gestrig“ oder „rechts“ oder gar „radikal“ seien. Freilich gibt es Rechte oder auch Radikale, aber dass es sich bei einem Teil der Zuschreibungen um Folgen von Wechselwirkungen handeln könnte, darauf kommt man nicht.
Der Grund, warum das hier so ausführlich geschildert wird, ist folgender:
Im Zustand des Mangels einer bestimmten Sache führt ein gewisses „Mehr“ dieser Sache durchaus zu „besseren“ Verhältnissen. Wird — wie bspw. in tendentiell totalitären Gesellschaften üblich — die Individualisierung unterdrückt oder gar aktiv bekämpft, ist mehr individuelle Freiheit immer auch besser. Oder nehmen wir die Entwicklung in Deutschland vor zwei bis drei Jahrzehnten: Ist das Anerkennungssystem für Flüchtlinge zu restriktiv, ist eine Erweiterung oder Flexibilisierung der Anerkennungsmechanismen für die betroffenen Menschen besser.
Wird aber die idealistische Vorstellung zum handlungsleitenden Maßstab, kommt es irgendwann zu Verwerfungen bzw. werden die Maßstäbe unrealistisch: In Zeiten der Benachteiligung von Minderheiten ist mehr Toleranz hilfreich. Aber wenn es nach Jahren des Wachstums der Toleranz zur Etablierung neuer, eine gewisse Beliebigkeit absolut setzender Normen kommt, ist dies ggf. nicht mehr nur „besser“.
Die Beseitigung von Diskriminierungen durch Leitvorstellungen wie Inklusion und Diversität ist — in Zeiten von Einschränkungen, Intoleranz usw. — sicher hilfreich. Aber die Überbetonung dieser Leitvorstellungen kann zu einer neuen Ausschließlichkeit — und damit auch zu neuer Diskriminierung — führen.
Natürlich gibt es die „alte“ Diskriminierung noch, was den ProtagonistInnen der neuen Werte Legitimität verleiht — aber die besagten ProtagonistInnen merken nicht, dass sie ihrerseits dabei sind, neue Verwerfungen schaffen. Strategien zur Abschaffung diskriminierender Normen werden spätestens dann selbst diskriminierend, wenn sie verstetigt werden, gleichzeitig aber der eigentliche Grund für ihre Schaffung bereits seltener wird.
Gegen ältere Denk- oder Seinsverbote gerichtet, werden die neuen Normen selbst zunächst langsam zum Denk- oder Seinsgebot. Wenn der neuen Norm dann nicht schnell genug gefolgt wird — die aktuelle Regierung zum Beispiel ist ja durchaus idealistisch unterwegs, hat aber nur vier Jahre Zeit — kommt es zur Belehrung. Und wenn die Belehrungen nur oft und laut genug vorgetragen werden, sind die Menschen irgendwann genervt. Und dann entsteht Reaktanz.
Im Grunde gleicht die Entwicklung einer Parabel: Zunächst ist „mehr von“ immer auch besser (also bspw. mehr Freiheit im Angesicht der Unfreiheit): Wenn sich dann aber die Umstände tatsächlich langsam ändern, dann verringern sich die positiven Effekte von „mehr von“ mit der Zeit, und die damit verbundenen Leitvorstellungen werden immer mehr zur Norm, bis die Sache umkippt und „mehr von“ nicht mehr automatisch auch „besser“ heißt, sondern sich der Effekt langsam ins Gegenteil verkehrt, „mehr von“ also beispielsweise Widerstand gegen Überzeugungsdruck auslöst oder die Freiheit irgendwann tatsächlich einschränkt.
Die bisherige Argumentation baut vor allem auf politischen Entwicklungen und Beispielen auf. Aber sie hat auch vor der Welt unserer Organisationen nicht Halt gemacht. Auch hier spielen politisch korrekte Vorstellungen oder Leitwerte wie Inklusion und Diversität eine zunehmende Rolle. So lange es um die Freiheit von Diskriminierung oder die Herstellung von Chancengleichheit geht, ist das sinnvoll. Fragen wie die folgenden beiden Beispiele sind ja nach wie vor an vielen Stellen aktuell:
Beispielfrage 1: Bekommen Migranten tatsächlich gleiche Chancen — und vielleicht sogar die notwendige Unterstützung, wenn es um die Reduktion von Nachteilen wie Sprachbarrieren o.ä. geht?
Beispielfrage 2: Ist es tatsächlich möglich, in den ggf. männerdominierten Führungskreisen mittelständischer Unternehmen über möglicherweise existierende „gläserne Decken“ in Bezug auf die Karrierechancen von Kolleginnen zu sprechen? Natürlich müssen solche gläsernen Decken nicht existieren, aber was ist mit den Fällen, in denen es sie wirklich gibt? Wie wird dann praktisch damit umgegangen? Oder tut man entsprechende Wortmeldungen einfach mit der Behauptung ab, hier habe man damit kein Problem, und die Kollegin solle doch bitte einmal nicht so emotional werden, man könne doch ganz sachlich über alles reden.
Natürlich haben wir in unseren Organisationen an vielen Stellen noch Probleme mit solchen und weiteren Themen. Aber Organisationen bestehen weitgehend aus Strukturen und Routinen und verändern sich nur langsam. Sich mit einem (metaphorischen) Megaphon durch die Welt der Organisationen zu bewegen und lautstark tiefgreifende Veränderungen zu fordern, bringt nicht viel. Veränderungen finden sowohl im Modus „von oben nach unten“ als auch im Modus „von unten nach oben“ statt. Veränderungen bestehen immer aus einer Hinterfragung der bisher gelebten Praxis und entsprechenden bewussten Überlegungen, was ggf. geändert werden sollte. Das wird dann ausprobiert und im Erfolgsfall übernommen oder (i.d.R. von oben) implementiert — im Erfolgsfall wird die Implementierung beibehalten; im Misserfolgsfall schleichen sich die alten Gewohnheiten einfach durch die Hintertür wieder herein.
Wenn es nur der Umgang mit Veränderungen wäre, könnten wir uns trefflich streiten, ob man eher top-down oder doch — mit etwas Geduld — lieber auf langsame Veränderungen (und damit auf eine Mischung aus top-down und bottom-up) setzen sollte. Aber es steht zu befürchten, dass das „Problem“ tiefer liegt, dass sich unsere Organisationen in ihrem Wesen gar nicht so sehr ändern, wie es manchen vielleicht gefallen würde, sondern dass sich nur der modus operandi der defensiven Anteile des Funktionierens von Organisationen verschiebt oder in seiner Gestalt wandelt, heute anders als früher aussieht, aber in seinem Wesen und seiner Wirkung keineswegs anders ist als in der „alten Welt“, die heuer so viele kritisch betrachten.
In Kurzform: Auch die „neuen Zeiten“ haben ihre defensiven Routinen — wie seinerzeit die „alten Zeiten“. Es wird keineswegs weniger defensiv, obwohl die neuen Mechanismen auf den ersten Blick so aussehen. Es ändert sich nicht das Wesen, sondern nur der modus operandi. Es wird quasi gute Absicht proklamiert, aber es kommt trotzdem nichts Neues dabei heraus.
In früheren Zeiten proklamierte man in der Regel, ganz sachlich bleiben zu wollen — nur um endlos zu diskutieren und nicht zu Lösungen zu kommen. Heute proklamiert man Inklusion und „alle sollen gehört werden“, und meist kann man sich auch besser als früher zu Wort melden, aber oft genug vertagt sich der Austausch (sehr höflich, sehr wertschätzend, ggf. sogar „gewaltfrei“) ebenfalls ins Unendliche.
Nicht, dass das hier Beschriebene etwas Neues wäre. Die zu diesem Thema bahnbrechenden Forschungen stammen von dem Organisationswissenschaftler Chris Argyris, der in Deutschland zwar bekannt ist (v.a. zum Thema „lernende Organisationen“), aber dessen Theorien und Forschungsergebnisse zum Thema „defensive Routinen“ in Relation zu ihrer grundlegenden Bedeutung im deutschsprachigen Raum nur wenig Beachtung fanden — mit Ausnahme der Publikationen des schweizerischen Kollegen Gerhard Fatzer. Zur Zeit von Argyris’ Forschung kam der „alte“, eskalationsorientierte Abwehrmechanismus noch viel häufiger vor als der andere, irgendwie „gleichberechtigter“ und „eskalationsärmer“ daherkommende Abwehrmechanismus.
Die Sache ist nicht ganz einfach zu verstehen, weshalb dem Leser und der Leserin hier noch einiges zugemutet wird. Aber so viel „Reklame“ für die Relevanz des hier Dargestellten sei erlaubt: Für das Verständnis vieler aktueller Kommunikationsprobleme in Organisationen (und teilweise auch in der Gesellschaft) sollten die folgenden Darstellungen eine mindestens interessante, vielleicht sogar hilfreiche „Denkfolie“ liefern.
Stellen wir uns zunächst eine klassische Führungskräfterunde in einem Industriebetrieb vor, vielleicht im Jahr 2010. Man hat gerade eine Krise hinter sich; die Geschäftsführer sind alle neu; das Unternehmen ist so groß, dass man der Meinung war, drei GFs zu brauchen. Alle GFs sind ausgewiesene Branchenkenner und haben langjährige Führungserfahrung. Zwei Mitglieder der Geschäftsleitung haben vorher als Abteilungsleiter in sehr großen Unternehmen (Platzhirsche der Branche) gearbeitet, einer war zuletzt alleiniger GF bei einem mittelständischen Unternehmen. Geballte Kompetenz, sollte man vermuten. Aber die Ergebnisse der Diskussionen der drei Kollegen sehen gar nicht so sehr nach Kompetenz aus — die Kommunikation ist eher strategisch als authentisch, man diskutiert sich oft fest und vertagt Entscheidungen, die eigentlich notwendig wären. Man holt sich externe Hilfe — und ist sich nach kurzer Zeit einig, dass die Moderation der GL-Sitzungen nichts taugt. Und wieder diskutiert man. Alle Beteiligten betonen, in der Sache zum Ziel kommen zu wollen, aber der „eigentliche“ Diskussionsmechanismus lässt eher darauf schließen, dass man gewinnen will und die jeweils anderen beiden verlieren sollen.
Hier sind wir ganz klar bei Argyris’ Theorien über den defensiven Charakter der Kommunikation in Organisationen: Alle Beteiligten sagen von sich, ein sachliches Interesse zu haben und sachlich bleiben zu wollen. Unterschwellig (unbewusst) verfolgen die Beteiligten aber eine andere Strategie: Ich will gewinnen, die anderen sollen verlieren; ich weiß es besser und will mich durchsetzen, es kommt nur darauf an, die anderen zu überzeugen. Warum sind die anderen so blöd und sehen nicht ein, dass meine Version der Dinge die bessere ist?
Der „Treiber“ für solche Handlungsmuster ist Selbstschutz — weil ich ja vielleicht Kritik zulassen und erkennen müsste, dass ich teilweise richtig und teilweise aber auch falsch liege, wähle ich eine von zwei Möglichkeiten: Ich rechtfertige mich oder ich äußere selbst Kritik an den anderen Positionen. Die Folge: Jeder bleibt auf seiner Position, und es eskaliert. Weil man nicht zum Ziel (eine zustimmungsfähige Version der Dinge, auf deren Grundlage man gemeinsame Entscheidungen treffen könnte) kommt, wird die Diskussion vertagt — und später mit ähnlichen Argumenten und ähnlichen Ergebnissen wiederholt.
Kommt Ihnen dieses Muster bekannt vor?
Es gibt einen Gegenentwurf zu diesem Muster, der scheinbar besser aussieht und mehr Kommunikation ermöglicht, aber am Ende auch nicht zum Ziel führt.
In diesem zweiten Fall sind sich die Beteiligten einig, dass keiner gewinnen und auch keiner verlieren soll, sondern dass man alle Belange wahrnehmen und alle Sichtweisen hören sollte. In diesem Fall wird der emotionale Aspekt der Kommunikation betont und der sachliche Aspekt gewissermaßen unterdrückt. Es soll allen gut gehen — allerdings findet man sich hier schnell in Mustern wieder, die etwa so klingen: „Ich verstehe, was Du sagst, aber ich muss erst einmal schauen, was das mit mir macht, und ob ich da mitgehen kann.“ Später finden sich dann oft genug eine ganze Reihe von Argumenten, warum man nicht mitgehen kann — was im Grunde zu ähnlichen Ergebnissen führt, nur eben mehr auf der Grundlage von Befindlichkeiten und weniger auf der Basis unterschiedlicher Sachpositionen. (Um nicht missverstanden zu werden: Die Sachpositionen sind sehr wohl unterschiedlich, aber eben das wird in diesem Mechanismus unterdrückt bzw. durch Befindlichkeiten „getarnt“.) Das Ergebnis ist das gleiche: Man kommt nicht zum Ziel, weil man sich selbst schützt.
Wenn diese Charakterisierung zutrifft, müssen wir nun lediglich noch das hier dargestellte Gesamtbild zusammenfügen:
Wir leben in einer Zeit verstärkter Individualisierung. Bereits in der Erziehung wird oft schon Augenhöhe hergestellt. Man „herrscht“ nicht mehr, sondern man erklärt, argumentiert, diskutiert, überzeugt, einigt sich. Auch die entsprechenden Normen (bspw. der Orientierungsrahmen für die Arbeit in Kitas oder die neueren gesetzlichen Regelungen zum Kinderschutz) haben sich in diese Richtung entwickelt — kindliches Lernen passiere selbstgesteuert usw.
Hinzu kommt der demographische Faktor: Weniger Leute mit mehr Gelegenheiten pro Person verfügen über immer weitreichendere Wahlfreiheit, bis hinein zur Legitimierung des häufigeren Wechsels der Identität; frühere Vorstellungen haben Identität durch Herkunft festgeschrieben, später wurden gesellschaftliche Schichten durchlässiger; heute gilt: Sei, was Du sein willst, und ändere Dich, wenn Du Dich ändern willst; der individuelle Wille wird — oft getarnt als „Bedürfnis“ — mehr oder minder „absolut“ gesetzt.
Manche Organisationen bewerben sich heuer bei potentiellen Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern anstatt umgekehrt. Einem Individuum fällt es heute leichter als früher, sich „neben“ seinen Arbeitgeber und die Umstände der Arbeit zu stellen und sich zu fragen, wie gut oder weniger gut das zusammenpasst — und ggf. entsprechende Entscheidungen über Verbleib oder Wechsel zu treffen. Mit dieser Entwicklung einhergehend lässt sich ein gewisser Wertewandel beobachten — hin zu Inklusion, Diversität, Klimaneutralität usw.
Fasst man die genannten Faktoren — Individualisierung, Demographie und Wertewandel — zusammen, dann wird deutlich, dass heute in Organisationen nachrückende Menschen andere Normvorstellungen und Erwartungen mitbringen, und dass sie die „alten“ Kommunikationsgewohnheiten (deutlich werden, konfrontieren usw.) eher ablehnen und „Augenhöhe“, „als Individuum gesehen und respektiert werden“ usw. bevorzugen. Doch das Problem des Selbstschutzes ist immer noch da. Die organisatorische Antwort auf dieses Problem scheint zunächst „psychologische Sicherheit“ zu sein. Das erscheint auf den ersten Blick auch plausibel. Trauen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tatsächlich zu sagen, was sie denken? Oder haben sie Angst?
In der alten Welt war diese Angst weit verbreitet. In der neuen Welt hat diese Angst hoffentlich abgenommen. Es arbeitet sich ohne Angst ja tatsächlich besser, und niemand soll auf Arbeit Angst haben müssen. Lesen Sie diesen Artikel auf dieser Website zur Relevanz psychologischer Sicherheit in Organisationen. Zumal Organisationen, in denen psychologische Sicherheit selbstverständlich ist (= zur Kultur gehört) tatsächlich messbar effizienter arbeiten.
Aber das bedeutet noch lange nicht, dass die Menschen, die mehr psychologische Sicherheit, mehr Augenhöhe, mehr Inklusion, mehr Diversität usw. erwarten, auch bereits besser kommunizieren können. Ihre Normvorstellungen klingen zwar nach besserer Kommunikation, aber das bedeutet nicht, dass der Selbstschutz — und damit die defensive Kommunikation — ausgeschaltet ist. Im Gegenteil: Der Selbstschutz kommt nur in einem neuen Gewand daher. Im Extremfall prangert man das Fehlen von „safe spaces“ an — und legitimiert damit die Verweigerung, sich zu involvieren, also sich „echt“ an Diskussionen zu beteiligen.
Die praktische Lösung ist in beiden Fällen (dem „alten“, eskalationsorientierten wie dem neuen, irgendwie „beteiligungsorientierteren“, aber an Befindlichkeiten scheiternden Mechanismus) die gleiche: Alles, was hilft, neue Informationen in den Austausch zu bringen und den Austausch so zu gestalten, dass nicht der Schutz der jeweiligen individuellen Positionen im Vordergrund steht, sondern es um „echten“ Austausch, also tatsächlich gemeinsame Entscheidungen geht, ist hilfreich.
Am Ende geht es in Organisationen darum, dass die Handlungen der beteiligten Personen möglichst auf den jeweiligen Zweck der Organisation einzahlen. Der Mensch ist aber so gestrickt, dass sich der Handlungsimpuls sowohl auf das Zusammenwirken als auch auf den Schutz des eigenen sozialen Status’ richtet. Wenn es um die Sicherung des eigenen Status’ geht, geben Menschen in Organisationen zwar vor, dass es um den gemeinsamen Zweck geht (dafür bekommt man ja Geld), tatsächlich aber beschäftigen sich Menschen eher (mindestens aber: auch) mit der Sicherung der eigenen Position bzw. des eigenen sozialen Status.
Das ist der Grund, warum Handlungen oft strategisch sind, obwohl man etwas anderes vorgibt (die Sachlichkeit betonen und Emotionen unterdrücken in der „alten“ Version vs. das Leitmotiv betonen, dass niemand verlieren soll, jede und jeder wichtig ist, man sich aber eben nicht über die Emotionen der anderen „hinwegsetzen“ soll usw.).
Der häufiger werdende Prototyp solcher strategischer Handlungen ist die Meldung, dass man sich nicht sicher genug fühle, sich auch wirklich offen zu äußern. Zumindest beobachte ich, dass solche Handlungen häufiger werden und oft genug benutzt werden, die eigenen Belange und Sichtweisen zu tarnen und zu sichern — obwohl man etwas anderes vorgibt.
Wenn an dem Gefühl, dass die Kommunikation nicht „sicher“ sei, etwas dran ist, dann sollte es auch möglich sein, das zu „bearbeiten“. Aber wenn das Argument, dass ein „space“ nicht „safe“ genug sei, strategisch benutzt wird, blockiert es tatsächliche Kommunikation, Konfliktaustragung, tatsächlich gemeinsame Entscheidungen usw. Verbindet sich dieses „strategische“ Argument noch mit einer relativ strengen normativen Haltung, dann wird es in der Praxis schnell „interessant“, weil dann oft genug die „Drohung“ angeführt wird, dass man die Kommunikation abbrechen müsse, weil ja bestimmte, heute „selbstverständliche“ Normen nicht eingehalten würden.
Eine behutsame, fragende Moderations- oder Gesprächstechnik führt hier häufig nicht zu neuen Informationen oder zu einer Veränderung der Haltung, weil die entsprechenden Haltungen in vielen Fällen „normativ aufgeladen“ sind und zu entsprechend restriktiven Handlungen führen. Konfrontationen führen ebenfalls nicht zu mehr Austausch, weil sie gern als „Beweis“ für die Nichtachtung der Sicherheitsbedürfnisse oder andere individuelle oder ideologisch begründbare Belange „dekonstruiert“ werden. Im Falle meiner Person kann auch gern der viel gescholtene „alte weiße Mann“ angeführt werden. Das Ergebnis lautet in jedem Fall: Die kommunikative Katze beißt sich mindestens in den Schwanz — oder beißt sich den Schwanz gleich ganz ab.
Wenn also ebenso lange wie strategisch eine Diskussion darüber geführt wird, ob man überhaupt diskutieren könne, ob der „space“ „safe“ genug sei usw., wird die Diskussion effektiv verhindert, weil man noch nicht einmal dazu kommt, sich überhaupt zu einigen, dass man miteinander reden möchte, geschweige denn, dass man die Themen sammelt, über die man reden wollen würde oder über die zu reden notwendig wäre („Ich lasse mir von niemandem sagen, worüber ich reden soll, wenn ich mich nicht sicher fühle.“) — und ganz zu schweigen davon, dass man überhaupt einmal ins konkrete Reden kommt.
Wenn da etwas dran ist, ist die Frage zu stellen, wie es mit unseren Organisationen weitergeht, wenn immer mehr Angehörige einer Organisation die eigenen individuellen (Selbstschutz-)Belange über das Funktionieren der Organisation stellen, indem sie das Nichtvorhandensein einer „psychologisch sicheren“ Gesprächsgrundlage als strategisches Argument benutzen.
Wie gesagt: Wenn etwas dran ist, muss man sich auch drum kümmern. Aber wenn das Argument strategisch benutzt wird und die Verharrung auf der eigenen Position mit allzu zeitgeistigen Ideologien legitimiert und verstärkt wird, ist guter Rat teuer und langwierig.