Wie geht es mit unseren Organisationen weiter? „Safe space“ als Abwehrmechanismus

Wenn mei­ne Beob­ach­tun­gen nicht falsch sind, dann steigt nicht nur die Zahl der Men­schen, die ihren Ver­bleib bei einem Arbeit­ge­ber hin­ter­fra­gen, son­dern auch die Inten­si­tät der Hin­ter­fra­gung. Man fragt sich viel­leicht, ob die eige­nen Erwar­tun­gen erfüllt wer­den, ob der Arbeit­ge­ber der „rich­ti­ge“ ist, ob die Wer­te des Arbeit­ge­bers zu den eige­nen Wer­ten pas­sen o.ä.

Das hat einer­seits mit dem Auf­wuchs der Mög­lich­kei­ten durch eine Ver­än­de­rung der Demo­gra­phie zu tun: Ich kann mir zuneh­mend aus­su­chen, wo ich arbei­te. Heu­er müs­sen Arbeit­ge­ber viel mehr für ihre Mit­ar­bei­ter tun als frü­her. Das kann man ange­sichts der Zei­ten, an die sich vie­le Men­schen gera­de im Osten Deutsch­lands noch gut erin­nern kön­nen, für eine gute Nach­richt hal­ten, wäre da eben nicht das demo­gra­phi­sche Pro­blem, d.h. für abhän­gig Beschäf­tig­te ist es zunächst eine gute Nach­richt, für die Welt unse­rer Orga­ni­sa­tio­nen ins­ge­samt bedeu­tet es zuneh­mend eine exis­ten­ti­el­le Her­aus­for­de­rung. Wenn weni­ger Men­schen nach­rü­cken, erhal­ten die­se Men­schen auto­ma­tisch mehr Mög­lich­kei­ten und damit eine grö­ße­re Wahl­frei­heit und mehr „Macht“. Bereits 2013 habe ich von der Per­so­nal­lei­te­rin eines Unter­neh­mens mit einer vier­stel­li­gen Mit­ar­bei­ter­zahl die fol­gen­de Fra­ge gestellt bekom­men: „Wie bekom­men wir unse­re Macht zurück?“ — „Einst­wei­len wahr­schein­lich nicht“, lau­te­te mei­ne Antwort.

Seit­her ist viel pas­siert. Vie­le Arbeit­ge­ber haben ihre Haus­auf­ga­ben gemacht. Die Situa­ti­on für Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter ist an vie­len Stel­len signi­fi­kant bes­ser geworden.

Aber man hat auch eini­ges dem Zeit­geist hin­ter­her­ge­wor­fen, was man spä­tes­tens dar­an sieht, dass man­che heu­ti­ge Stel­len­an­zei­gen so klin­gen, als wür­de man sich unter­wür­figst um die geschätz­te Auf­merk­sam­keit von Super­stars bewerben.

Natür­lich über­trei­be ich. Zuspit­zung dient hier nur der Verdeutlichung.

Ande­rer­seits hat die­se Ent­wick­lung auch mit einer (dra­ma­ti­schen) Zunah­me der Indi­vi­dua­li­sie­rung zu tun. Durch die indi­vi­dua­li­sier­te Erzie­hung auf Augen­hö­he ler­nen Men­schen, dass es selbst­ver­ständ­lich ist, sich zu ent­schei­den, ob man etwas will oder nicht.

Soweit, so gut. Mit der Indi­vi­dua­li­sie­rung ein­her ging aber auch noch ein ande­rer Trend, näm­lich die Hin­ter­fra­gung ansons­ten ganz selbst­ver­ständ­li­cher Din­ge — und zwar nicht etwa nur zur Ver­tei­di­gung gegen­über Feh­lern oder unge­rech­ter Behand­lung, son­dern auch ganz schlicht zur Maxi­mie­rung (kurz­fris­ti­ger) indi­vi­du­el­ler Vorteile.

Ein Bei­spiel: Ein Stu­dent erhält für sei­ne Leis­tung in einer Klau­sur die Note 3. Er macht von sei­nem Recht auf Klau­sur­ein­sicht Gebrauch, prüft die Ergeb­nis­se, redet mit dem Dozen­ten. Man kommt gemein­sam zu dem Schluss, dass es bei der Note bleibt. Man been­det das Gespräch, und als der Stu­dent bereits den Raum ver­lässt, fragt der Dozent: „Darf ich fra­gen, war­um Sie das jetzt gemacht haben, also war­um Sie Klau­sur­ein­sicht woll­ten?“ Die Ant­wort: „Am Gym­na­si­um hat das immer geklappt.“

Das kann man natür­lich als Ein­zel­fall betrach­ten. Die soeben geschil­der­te Situa­ti­on hat Ende der Nuller Jah­re an einer Uni­ver­si­tät statt­ge­fun­den; seit­her habe ich ähn­li­che Situa­tio­nen öfter erlebt. Das bleibt zunächst den­noch mei­ne ganz indi­vi­du­el­le Erfahrung.

Spä­tes­tens die fol­gen­de Beob­ach­tung soll­te jedoch auf eine prin­zi­pi­el­le Ver­än­de­rung hin­wei­sen: Eine Absol­ven­tin im Fach Psy­cho­lo­gie hat einen Abschluss­no­ten­durch­schnitt von 1,5. Das klingt doch erst­mal ganz gut, oder? Heu­er gibt es aber zwei Vari­an­ten der Abschluss­no­te, ein­mal die Durch­schnitts­no­te und zum ande­ren die so genann­te „euro­päi­sche Note“. Die letz­te­re ori­en­tiert sich an der Ver­tei­lung der Noten auf einem an der sta­tis­ti­schen Nor­mal­ver­tei­lung ori­en­tier­ten Spek­trum. Wer eine A‑Note hat, gehört zu den bes­ten 10 Pro­zent des betref­fen­den Jahr­gangs. Die nächs­ten 25 Pro­zent erhal­ten eine B‑Note; wie­der­um die nächs­ten 30 Pro­zent eine C‑Note; die vor­letz­ten 25 Pro­zent eine D‑Note und die letz­ten 10 Pro­zent der Ver­tei­lung eine E‑Note. Nun hat die Absol­ven­tin zwar eine 1,5. Die­se 1,5 ist aber eine D‑Note, was so viel bedeu­tet wie: Min­des­tens 65 Pro­zent der Absol­ven­tin­nen und Absol­ven­ten des betref­fen­den Jahr­gangs haben eine bes­se­re Abschluss­no­te als 1,5. Der Durch­schnitt sagt also im Fach Psy­cho­lo­gie kaum mehr etwas aus. Und das ist mitt­ler­wei­le in vie­len Fächern der Fall, auch an Elite-Universitäten.

Die Nor­men in einer Gesell­schaft ändern sich mit der Zeit. Wenn man jung ist, eig­net man sich anhand der in der jewei­li­gen Zeit gel­ten­den Nor­men die „Grund­li­ni­en“ des eige­nen Den­kens an. Und mit dem Jung­sein geht oft ein­her, dass man die gel­ten­den Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten hin­ter­fragt. Eine Eigen­schaft frei­heit­li­cher Gesell­schaf­ten ist es, dass man das auch straf­frei darf. Wenn genug Leu­te zusam­men­kom­men, die die gel­ten­den Regeln hin­ter­fra­gen und die ande­re Regeln für „rich­ti­ger“ (= zustim­mungs­fä­hi­ger) hal­ten, kommt es lang­sam zu einer Ver­än­de­rung der Normen.

Ein wei­te­res Bei­spiel: Als ich Mit­te der Neun­zi­ger Jah­re für eini­ge Zeit in einem Asyl­heim in Ost­sach­sen arbei­te­te, lag die Aner­ken­nungs­quo­te bei Asyl­an­trä­gen im ein­stel­li­gen Pro­zent­be­reich. Ich kann­te eine Rei­he von Men­schen, deren Schick­sa­le eine ande­re Behand­lung erfor­dert hät­ten, als sie tat­säch­lich erfuh­ren. Ich rede u.a. von Fol­ter­op­fern, deren Schil­de­run­gen glaub­haft waren und für die Gut­ach­ten von auf Fol­ter­ver­let­zun­gen spe­zia­li­sier­ten Ärz­ten ver­an­lasst wur­den. Die­se Men­schen muss­ten nach einer ers­ten Ableh­nung jah­re­lan­ge Ver­wal­tungs­ge­richts­ver­fah­ren anstren­gen, um die Aner­ken­nung als Flücht­lin­ge zu erhal­ten. Wäh­rend­des­sen muss­ten sie drei, fünf, manch­mal sie­ben Jah­re im Asyl­heim vor sich hin exis­tie­ren. Wenn das vie­le Men­schen betrifft, wie ich sei­ner­zeit durch­aus den Ein­druck hat­te, könn­te man auf die Idee kom­men, dass eine dif­fe­ren­zier­te­re, tie­fer­ge­hend prü­fen­de, dem ein­zel­nen Fall ange­mes­se­ne­re und vor allem schnel­le­re Aner­ken­nungs­pra­xis durch­aus hilf­reich wäre. Ich habe dann noch meh­re­re Jah­re in die­sem Kon­text gear­bei­tet, davon drei Jah­re in Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na (huma­ni­tä­re Hil­fe, Frie­dens­ar­beit, Wie­der­auf­bau, Flücht­lings­rück­füh­rung) und eini­ge Zeit als Super­vi­sor für Füh­rungs­kräf­te von Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen sowie für Migra­ti­ons­be­ra­tungs­stel­len. In all die­sen Tätig­kei­ten habe ich unter ande­rem gelernt, dass es immer ein Bin­nen­spek­trum gibt:

  • Nicht alle kom­men, weil sie wirk­lich vor etwas geflo­hen sind. Das trifft sicher auf vie­le zu, aber nie auf alle; die vie­len sind immer nur ein bestimm­ter Pro­zent­satz (ers­te Gruppe).
  • Ein wei­te­rer Teil kommt, weil man kei­ne ande­re Mög­lich­keit sieht, hier ein­zu­wan­dern (zwei­te Grup­pe). Man will zwar arbei­ten, aber es gibt bis­her kaum zügi­ge (= an die Bud­gets und die Mög­lich­kei­ten der sich für die­se Opti­on inter­es­sie­ren­den Leu­te ange­pass­te) Regu­la­ri­en. Das woll­te man zwar mitt­ler­wei­le ändern, aber spä­tes­tens die Kri­te­ri­en und Umstän­de der Aner­ken­nung aus­län­di­scher Abschlüs­se und Erfah­run­gen sind nach wie vor so büro­kra­tisch, dass defi­ni­tiv nicht her­aus­kommt, was bewirkt wer­den soll­te — die Ver­fah­ren dau­ern in der Regel viel zu lan­ge. Zudem ist Deutsch­land für die­je­ni­gen Zuwan­de­rer, die es drin­gend bräuch­te, im Ver­gleich zu ande­ren füh­ren­den Wirt­schafts­na­tio­nen zu unat­trak­tiv — also nicht nur zu lang­sam und zu büro­kra­tisch, son­dern selbst vom Lohn­ge­fü­ge her zu unat­trak­tiv. Aber anstatt an die­ser Stel­le anzu­set­zen, ver­lie­ren wir uns lie­ber in end­lo­sen Grund­satz­dis­kus­sio­nen (bspw. „Geflüch­te­te“ vs. „Flücht­lin­ge“), was den Betrof­fe­nen so ziem­lich gar nicht hilft. Mei­ne, viel­leicht zu spit­ze, Annah­me: Nie­mand weiß so recht, wie Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung wirk­lich funk­tio­niert — nur, dass es müh­se­lig wird und kei­nen Ruhm bringt, das ahnt man wenigs­tens. Wie man jedoch eine pola­ri­sie­ren­de Debat­te vom Zaun bricht, das weiß man ganz sicher — und das bringt kurz­fris­tig wenigs­tens Aufmerksamkeit.
  • Drit­tens kom­men man­che, weil sie es kön­nen: Man hat genug Geld, um einen Teil des Nach­wuch­ses los­zu­schi­cken und ein (ver­meint­lich) bes­se­res Schick­sal suchen zu lassen.
  • Und vier­tens gibt es eine Rei­he von Leu­ten, deren Grün­de hier ein­zu­rei­sen man lie­ber nicht ken­nen möch­te — oder bes­ser gleich der Poli­zei ver­ra­ten soll­te, weil nichts Gutes zu erwar­ten steht.

Natür­lich „darf“ man so nicht mehr spre­chen, natür­lich wird allein die Erwäh­nung von ande­ren als guten Migra­ti­ons­ab­sich­ten von man­chen bereits als „ras­sis­tisch“ ent­larvt, und natür­lich darf man heu­te nicht mehr unge­bremst von Flücht­lings­rück­füh­rung spre­chen, ohne gleich in die Nähe von Leu­ten gerückt zu wer­den, die viel­leicht gern „Remi­gra­ti­on“ sagen.

Aber in die­sem Zusam­men­hang nor­ma­ti­ve Vor­stel­lun­gen und „Denk­ge­bo­te“ anzu­wen­den, gleicht m.E. dem Ver­hal­ten klei­ner Kin­der, die, wenn sie sich die Augen zuhal­ten, damit die Rea­li­tät aus­zu­blen­den versuchen.

Wie auch immer man dar­über den­ken mag: In den zwan­zig Jah­ren von 1995 bis 2015 ist etwas pas­siert — wir sind von einem nach mei­nem Dafür­hal­ten zu restrik­ti­ven Aner­ken­nungs­re­gime zu der — wie­der­um nach mei­nem Dafür­hal­ten — viel zu nai­ven „Will­kom­mens­kul­tur“ gekom­men. Gar nicht zu reden von ganz prak­ti­schen Fra­gen wie: Wie hoch kann der Anteil von Kin­dern, die noch kein Deutsch kön­nen, in einer Kin­der­gar­ten­grup­pe oder Schul­klas­se sein, damit ein Erler­nen der deut­schen Spra­che gut mög­lich ist? Allein sol­che Fra­gen zu stel­len, wird ver­mut­lich in man­chen Hoch­schul­bü­ros und in man­chen poli­ti­schen Krei­sen wie gesagt als „nicht inklu­siv“, „ras­sis­tisch“ usw. angesehen.

Idea­lis­mus wächst pro­por­tio­nal zum Abstand von der Rea­li­tät, hat ein geschätz­ter Kol­le­ge ein­mal gesagt. Man kann die Augen ver­schlie­ßen und idea­lis­tisch blei­ben — aber dem Pro­blem begeg­net man damit nicht, im Gegen­teil: Man trägt zu einer Ver­schär­fung des Pro­blems bei, bis die Sache „umkippt“.

Aber selbst wenn man dann die Kon­se­quen­zen des Umkip­pens sieht (schei­tern­de Inte­gra­ti­on zum Bei­spiel oder ein Erstar­ken der Rech­ten), erkennt man dar­in — eine sta­bi­le nor­ma­ti­ve Vor­stel­lung vor­aus­ge­setzt — ja wie­der­um nur eine Bestä­ti­gung des eige­nen Welt­bil­des, näm­lich dass die ande­ren „gest­rig“ oder „rechts“ oder gar „radi­kal“ sei­en. Frei­lich gibt es Rech­te oder auch Radi­ka­le, aber dass es sich bei einem Teil der Zuschrei­bun­gen um Fol­gen von Wech­sel­wir­kun­gen han­deln könn­te, dar­auf kommt man nicht.

Der Grund, war­um das hier so aus­führ­lich geschil­dert wird, ist folgender:

Im Zustand des Man­gels einer bestimm­ten Sache führt ein gewis­ses „Mehr“ die­ser Sache durch­aus zu „bes­se­ren“ Ver­hält­nis­sen. Wird — wie bspw. in ten­den­ti­ell tota­li­tä­ren Gesell­schaf­ten üblich — die Indi­vi­dua­li­sie­rung unter­drückt oder gar aktiv bekämpft, ist mehr indi­vi­du­el­le Frei­heit immer auch bes­ser. Oder neh­men wir die Ent­wick­lung in Deutsch­land vor zwei bis drei Jahr­zehn­ten: Ist das Aner­ken­nungs­sys­tem für Flücht­lin­ge zu restrik­tiv, ist eine Erwei­te­rung oder Fle­xi­bi­li­sie­rung der Aner­ken­nungs­me­cha­nis­men für die betrof­fe­nen Men­schen besser.

Wird aber die idea­lis­ti­sche Vor­stel­lung zum hand­lungs­lei­ten­den Maß­stab, kommt es irgend­wann zu Ver­wer­fun­gen bzw. wer­den die Maß­stä­be unrea­lis­tisch: In Zei­ten der Benach­tei­li­gung von Min­der­hei­ten ist mehr Tole­ranz hilf­reich. Aber wenn es nach Jah­ren des Wachs­tums der Tole­ranz zur Eta­blie­rung neu­er, eine gewis­se Belie­big­keit abso­lut set­zen­der Nor­men kommt, ist dies ggf. nicht mehr nur „bes­ser“.

Die Besei­ti­gung von Dis­kri­mi­nie­run­gen durch Leit­vor­stel­lun­gen wie Inklu­si­on und Diver­si­tät ist — in Zei­ten von Ein­schrän­kun­gen, Into­le­ranz usw. — sicher hilf­reich. Aber die Über­be­to­nung die­ser Leit­vor­stel­lun­gen kann zu einer neu­en Aus­schließ­lich­keit — und damit auch zu neu­er Dis­kri­mi­nie­rung — führen.

Natür­lich gibt es die „alte“ Dis­kri­mi­nie­rung noch, was den Prot­ago­nis­tIn­nen der neu­en Wer­te Legi­ti­mi­tät ver­leiht — aber die besag­ten Prot­ago­nis­tIn­nen mer­ken nicht, dass sie ihrer­seits dabei sind, neue Ver­wer­fun­gen schaf­fen. Stra­te­gien zur Abschaf­fung dis­kri­mi­nie­ren­der Nor­men wer­den spä­tes­tens dann selbst dis­kri­mi­nie­rend, wenn sie ver­ste­tigt wer­den, gleich­zei­tig aber der eigent­li­che Grund für ihre Schaf­fung bereits sel­te­ner wird.

Gegen älte­re Denk- oder Seinsverbote gerich­tet, wer­den die neu­en Nor­men selbst zunächst lang­sam zum Denk- oder Seinsgebot. Wenn der neu­en Norm dann nicht schnell genug gefolgt wird — die aktu­el­le Regie­rung zum Bei­spiel ist ja durch­aus idea­lis­tisch unter­wegs, hat aber nur vier Jah­re Zeit — kommt es zur Beleh­rung. Und wenn die Beleh­run­gen nur oft und laut genug vor­ge­tra­gen wer­den, sind die Men­schen irgend­wann genervt. Und dann ent­steht Reak­tanz.

Im Grun­de gleicht die Ent­wick­lung einer Para­bel: Zunächst ist „mehr von“ immer auch bes­ser (also bspw. mehr Frei­heit im Ange­sicht der Unfrei­heit): Wenn sich dann aber die Umstän­de tat­säch­lich lang­sam ändern, dann ver­rin­gern sich die posi­ti­ven Effek­te von „mehr von“ mit der Zeit, und die damit ver­bun­de­nen Leit­vor­stel­lun­gen wer­den immer mehr zur Norm, bis die Sache umkippt und „mehr von“ nicht mehr auto­ma­tisch auch „bes­ser“ heißt, son­dern sich der Effekt lang­sam ins Gegen­teil ver­kehrt, „mehr von“ also bei­spiels­wei­se Wider­stand gegen Über­zeu­gungs­druck aus­löst oder die Frei­heit irgend­wann tat­säch­lich einschränkt.

Die bis­he­ri­ge Argu­men­ta­ti­on baut vor allem auf poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen und Bei­spie­len auf. Aber sie hat auch vor der Welt unse­rer Orga­ni­sa­tio­nen nicht Halt gemacht. Auch hier spie­len poli­tisch kor­rek­te Vor­stel­lun­gen oder Leit­wer­te wie Inklu­si­on und Diver­si­tät eine zuneh­men­de Rol­le. So lan­ge es um die Frei­heit von Dis­kri­mi­nie­rung oder die Her­stel­lung von Chan­cen­gleich­heit geht, ist das sinn­voll. Fra­gen wie die fol­gen­den bei­den Bei­spie­le sind ja nach wie vor an vie­len Stel­len aktuell:

Bei­spiel­fra­ge 1: Bekom­men Migran­ten tat­säch­lich glei­che Chan­cen — und viel­leicht sogar die not­wen­di­ge Unter­stüt­zung, wenn es um die Reduk­ti­on von Nach­tei­len wie Sprach­bar­rie­ren o.ä. geht?

Bei­spiel­fra­ge 2: Ist es tat­säch­lich mög­lich, in den ggf. män­ner­do­mi­nier­ten Füh­rungs­krei­sen mit­tel­stän­di­scher Unter­neh­men über mög­li­cher­wei­se exis­tie­ren­de „glä­ser­ne Decken“ in Bezug auf die Kar­rie­re­chan­cen von Kol­le­gin­nen zu spre­chen? Natür­lich müs­sen sol­che glä­ser­nen Decken nicht exis­tie­ren, aber was ist mit den Fäl­len, in denen es sie wirk­lich gibt? Wie wird dann prak­tisch damit umge­gan­gen? Oder tut man ent­spre­chen­de Wort­mel­dun­gen ein­fach mit der Behaup­tung ab, hier habe man damit kein Pro­blem, und die Kol­le­gin sol­le doch bit­te ein­mal nicht so emo­tio­nal wer­den, man kön­ne doch ganz sach­lich über alles reden.

Natür­lich haben wir in unse­ren Orga­ni­sa­tio­nen an vie­len Stel­len noch Pro­ble­me mit sol­chen und wei­te­ren The­men. Aber Orga­ni­sa­tio­nen bestehen weit­ge­hend aus Struk­tu­ren und Rou­ti­nen und ver­än­dern sich nur lang­sam. Sich mit einem (meta­pho­ri­schen) Mega­phon durch die Welt der Orga­ni­sa­tio­nen zu bewe­gen und laut­stark tief­grei­fen­de Ver­än­de­run­gen zu for­dern, bringt nicht viel. Ver­än­de­run­gen fin­den sowohl im Modus „von oben nach unten“ als auch im Modus „von unten nach oben“ statt. Ver­än­de­run­gen bestehen immer aus einer Hin­ter­fra­gung der bis­her geleb­ten Pra­xis und ent­spre­chen­den bewuss­ten Über­le­gun­gen, was ggf. geän­dert wer­den soll­te. Das wird dann aus­pro­biert und im Erfolgs­fall über­nom­men oder (i.d.R. von oben) imple­men­tiert — im Erfolgs­fall wird die Imple­men­tie­rung bei­be­hal­ten; im Miss­erfolgs­fall schlei­chen sich die alten Gewohn­hei­ten ein­fach durch die Hin­ter­tür wie­der herein.

Wenn es nur der Umgang mit Ver­än­de­run­gen wäre, könn­ten wir uns treff­lich strei­ten, ob man eher top-down oder doch — mit etwas Geduld — lie­ber auf lang­sa­me Ver­än­de­run­gen (und damit auf eine Mischung aus top-down und bot­tom-up) set­zen soll­te. Aber es steht zu befürch­ten, dass das „Pro­blem“ tie­fer liegt, dass sich unse­re Orga­ni­sa­tio­nen in ihrem Wesen gar nicht so sehr ändern, wie es man­chen viel­leicht gefal­len wür­de, son­dern dass sich nur der modus ope­ran­di der defen­si­ven Antei­le des Funk­tio­nie­rens von Orga­ni­sa­tio­nen ver­schiebt oder in sei­ner Gestalt wan­delt, heu­te anders als frü­her aus­sieht, aber in sei­nem Wesen und sei­ner Wir­kung kei­nes­wegs anders ist als in der „alten Welt“, die heu­er so vie­le kri­tisch betrachten.

In Kurz­form: Auch die „neu­en Zei­ten“ haben ihre defen­si­ven Rou­ti­nen — wie sei­ner­zeit die „alten Zei­ten“. Es wird kei­nes­wegs weni­ger defen­siv, obwohl die neu­en Mecha­nis­men auf den ers­ten Blick so aus­se­hen. Es ändert sich nicht das Wesen, son­dern nur der modus ope­ran­di. Es wird qua­si gute Absicht pro­kla­miert, aber es kommt trotz­dem nichts Neu­es dabei heraus.

In frü­he­ren Zei­ten pro­kla­mier­te man in der Regel, ganz sach­lich blei­ben zu wol­len — nur um end­los zu dis­ku­tie­ren und nicht zu Lösun­gen zu kom­men. Heu­te pro­kla­miert man Inklu­si­on und „alle sol­len gehört wer­den“, und meist kann man sich auch bes­ser als frü­her zu Wort mel­den, aber oft genug ver­tagt sich der Aus­tausch (sehr höf­lich, sehr wert­schät­zend, ggf. sogar „gewalt­frei“) eben­falls ins Unendliche.

Nicht, dass das hier Beschrie­be­ne etwas Neu­es wäre. Die zu die­sem The­ma bahn­bre­chen­den For­schun­gen stam­men von dem Orga­ni­sa­ti­ons­wis­sen­schaft­ler Chris Argy­ris, der in Deutsch­land zwar bekannt ist (v.a. zum The­ma „ler­nen­de Orga­ni­sa­tio­nen“), aber des­sen Theo­rien und For­schungs­er­geb­nis­se zum The­ma „defen­si­ve Rou­ti­nen“ in Rela­ti­on zu ihrer grund­le­gen­den Bedeu­tung im deutsch­spra­chi­gen Raum nur wenig Beach­tung fan­den — mit Aus­nah­me der Publi­ka­tio­nen des schwei­ze­ri­schen Kol­le­gen Ger­hard Fat­zer. Zur Zeit von Argy­ris’ For­schung kam der „alte“, eska­la­ti­ons­ori­en­tier­te Abwehr­me­cha­nis­mus noch viel häu­fi­ger vor als der ande­re, irgend­wie „gleich­be­rech­tig­ter“ und „eska­la­ti­ons­är­mer“ daher­kom­men­de Abwehrmechanismus.

Die Sache ist nicht ganz ein­fach zu ver­ste­hen, wes­halb dem Leser und der Lese­rin hier noch eini­ges zuge­mu­tet wird. Aber so viel „Rekla­me“ für die Rele­vanz des hier Dar­ge­stell­ten sei erlaubt: Für das Ver­ständ­nis vie­ler aktu­el­ler Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­me in Orga­ni­sa­tio­nen (und teil­wei­se auch in der Gesell­schaft) soll­ten die fol­gen­den Dar­stel­lun­gen eine min­des­tens inter­es­san­te, viel­leicht sogar hilf­rei­che „Denk­fo­lie“ liefern.

Stel­len wir uns zunächst eine klas­si­sche Füh­rungs­kräf­te­run­de in einem Indus­trie­be­trieb vor, viel­leicht im Jahr 2010. Man hat gera­de eine Kri­se hin­ter sich; die Geschäfts­füh­rer sind alle neu; das Unter­neh­men ist so groß, dass man der Mei­nung war, drei GFs zu brau­chen. Alle GFs sind aus­ge­wie­se­ne Bran­chen­ken­ner und haben lang­jäh­ri­ge Füh­rungs­er­fah­rung. Zwei Mit­glie­der der Geschäfts­lei­tung haben vor­her als Abtei­lungs­lei­ter in sehr gro­ßen Unter­neh­men (Platz­hir­sche der Bran­che) gear­bei­tet, einer war zuletzt allei­ni­ger GF bei einem mit­tel­stän­di­schen Unter­neh­men. Geball­te Kom­pe­tenz, soll­te man ver­mu­ten. Aber die Ergeb­nis­se der Dis­kus­sio­nen der drei Kol­le­gen sehen gar nicht so sehr nach Kom­pe­tenz aus — die Kom­mu­ni­ka­ti­on ist eher stra­te­gisch als authen­tisch, man dis­ku­tiert sich oft fest und ver­tagt Ent­schei­dun­gen, die eigent­lich not­wen­dig wären. Man holt sich exter­ne Hil­fe — und ist sich nach kur­zer Zeit einig, dass die Mode­ra­ti­on der GL-Sit­zun­gen nichts taugt. Und wie­der dis­ku­tiert man. Alle Betei­lig­ten beto­nen, in der Sache zum Ziel kom­men zu wol­len, aber der „eigent­li­che“ Dis­kus­si­ons­me­cha­nis­mus lässt eher dar­auf schlie­ßen, dass man gewin­nen will und die jeweils ande­ren bei­den ver­lie­ren sollen.

Hier sind wir ganz klar bei Argy­ris’ Theo­rien über den defen­si­ven Cha­rak­ter der Kom­mu­ni­ka­ti­on in Orga­ni­sa­tio­nen: Alle Betei­lig­ten sagen von sich, ein sach­li­ches Inter­es­se zu haben und sach­lich blei­ben zu wol­len. Unter­schwel­lig (unbe­wusst) ver­fol­gen die Betei­lig­ten aber eine ande­re Stra­te­gie: Ich will gewin­nen, die ande­ren sol­len ver­lie­ren; ich weiß es bes­ser und will mich durch­set­zen, es kommt nur dar­auf an, die ande­ren zu über­zeu­gen. War­um sind die ande­ren so blöd und sehen nicht ein, dass mei­ne Ver­si­on der Din­ge die bes­se­re ist?

Der „Trei­ber“ für sol­che Hand­lungs­mus­ter ist Selbst­schutz — weil ich ja viel­leicht Kri­tik zulas­sen und erken­nen müss­te, dass ich teil­wei­se rich­tig und teil­wei­se aber auch falsch lie­ge, wäh­le ich eine von zwei Mög­lich­kei­ten: Ich recht­fer­ti­ge mich oder ich äuße­re selbst Kri­tik an den ande­ren Posi­tio­nen. Die Fol­ge: Jeder bleibt auf sei­ner Posi­ti­on, und es eska­liert. Weil man nicht zum Ziel (eine zustim­mungs­fä­hi­ge Ver­si­on der Din­ge, auf deren Grund­la­ge man gemein­sa­me Ent­schei­dun­gen tref­fen könn­te) kommt, wird die Dis­kus­si­on ver­tagt — und spä­ter mit ähn­li­chen Argu­men­ten und ähn­li­chen Ergeb­nis­sen wiederholt.

Kommt Ihnen die­ses Mus­ter bekannt vor?

Es gibt einen Gegen­ent­wurf zu die­sem Mus­ter, der schein­bar bes­ser aus­sieht und mehr Kom­mu­ni­ka­ti­on ermög­licht, aber am Ende auch nicht zum Ziel führt.

In die­sem zwei­ten Fall sind sich die Betei­lig­ten einig, dass kei­ner gewin­nen und auch kei­ner ver­lie­ren soll, son­dern dass man alle Belan­ge wahr­neh­men und alle Sicht­wei­sen hören soll­te. In die­sem Fall wird der emo­tio­na­le Aspekt der Kom­mu­ni­ka­ti­on betont und der sach­li­che Aspekt gewis­ser­ma­ßen unter­drückt. Es soll allen gut gehen — aller­dings fin­det man sich hier schnell in Mus­tern wie­der, die etwa so klin­gen: „Ich ver­ste­he, was Du sagst, aber ich muss erst ein­mal schau­en, was das mit mir macht, und ob ich da mit­ge­hen kann.“ Spä­ter fin­den sich dann oft genug eine gan­ze Rei­he von Argu­men­ten, war­um man nicht mit­ge­hen kann — was im Grun­de zu ähn­li­chen Ergeb­nis­sen führt, nur eben mehr auf der Grund­la­ge von Befind­lich­kei­ten und weni­ger auf der Basis unter­schied­li­cher Sach­po­si­tio­nen. (Um nicht miss­ver­stan­den zu wer­den: Die Sach­po­si­tio­nen sind sehr wohl unter­schied­lich, aber eben das wird in die­sem Mecha­nis­mus unter­drückt bzw. durch Befind­lich­kei­ten „getarnt“.) Das Ergeb­nis ist das glei­che: Man kommt nicht zum Ziel, weil man sich selbst schützt.

Wenn die­se Cha­rak­te­ri­sie­rung zutrifft, müs­sen wir nun ledig­lich noch das hier dar­ge­stell­te Gesamt­bild zusammenfügen:

Wir leben in einer Zeit ver­stärk­ter Indi­vi­dua­li­sie­rung. Bereits in der Erzie­hung wird oft schon Augen­hö­he her­ge­stellt. Man „herrscht“ nicht mehr, son­dern man erklärt, argu­men­tiert, dis­ku­tiert, über­zeugt, einigt sich. Auch die ent­spre­chen­den Nor­men (bspw. der Ori­en­tie­rungs­rah­men für die Arbeit in Kitas oder die neue­ren gesetz­li­chen Rege­lun­gen zum Kin­der­schutz) haben sich in die­se Rich­tung ent­wi­ckelt — kind­li­ches Ler­nen pas­sie­re selbst­ge­steu­ert usw.

Hin­zu kommt der demo­gra­phi­sche Fak­tor: Weni­ger Leu­te mit mehr Gele­gen­hei­ten pro Per­son ver­fü­gen über immer weit­rei­chen­de­re Wahl­frei­heit, bis hin­ein zur Legi­ti­mie­rung des häu­fi­ge­ren Wech­sels der Iden­ti­tät; frü­he­re Vor­stel­lun­gen haben Iden­ti­tät durch Her­kunft fest­ge­schrie­ben, spä­ter wur­den gesell­schaft­li­che Schich­ten durch­läs­si­ger; heu­te gilt: Sei, was Du sein willst, und ände­re Dich, wenn Du Dich ändern willst; der indi­vi­du­el­le Wil­le wird — oft getarnt als „Bedürf­nis“ — mehr oder min­der „abso­lut“ gesetzt.

Man­che Orga­ni­sa­tio­nen bewer­ben sich heu­er bei poten­ti­el­len Mit­ar­bei­te­rin­nen oder Mit­ar­bei­tern anstatt umge­kehrt. Einem Indi­vi­du­um fällt es heu­te leich­ter als frü­her, sich „neben“ sei­nen Arbeit­ge­ber und die Umstän­de der Arbeit zu stel­len und sich zu fra­gen, wie gut oder weni­ger gut das zusam­men­passt — und ggf. ent­spre­chen­de Ent­schei­dun­gen über Ver­bleib oder Wech­sel zu tref­fen. Mit die­ser Ent­wick­lung ein­her­ge­hend lässt sich ein gewis­ser Wer­te­wan­del beob­ach­ten — hin zu Inklu­si­on, Diver­si­tät, Kli­ma­neu­tra­li­tät usw.

Fasst man die genann­ten Fak­to­ren — Indi­vi­dua­li­sie­rung, Demo­gra­phie und Wer­te­wan­del — zusam­men, dann wird deut­lich, dass heu­te in Orga­ni­sa­tio­nen nach­rü­cken­de Men­schen ande­re Norm­vor­stel­lun­gen und Erwar­tun­gen mit­brin­gen, und dass sie die „alten“ Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­wohn­hei­ten (deut­lich wer­den, kon­fron­tie­ren usw.) eher ableh­nen und „Augen­hö­he“, „als Indi­vi­du­um gese­hen und respek­tiert wer­den“ usw. bevor­zu­gen. Doch das Pro­blem des Selbst­schut­zes ist immer noch da. Die orga­ni­sa­to­ri­sche Ant­wort auf die­ses Pro­blem scheint zunächst „psy­cho­lo­gi­sche Sicher­heit“ zu sein. Das erscheint auf den ers­ten Blick auch plau­si­bel. Trau­en sich Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter tat­säch­lich zu sagen, was sie den­ken? Oder haben sie Angst?

In der alten Welt war die­se Angst weit ver­brei­tet. In der neu­en Welt hat die­se Angst hof­fent­lich abge­nom­men. Es arbei­tet sich ohne Angst ja tat­säch­lich bes­ser, und nie­mand soll auf Arbeit Angst haben müs­sen. Lesen Sie die­sen Arti­kel auf die­ser Web­site zur Rele­vanz psy­cho­lo­gi­scher Sicher­heit in Orga­ni­sa­tio­nen. Zumal Orga­ni­sa­tio­nen, in denen psy­cho­lo­gi­sche Sicher­heit selbst­ver­ständ­lich ist (= zur Kul­tur gehört) tat­säch­lich mess­bar effi­zi­en­ter arbeiten.

Aber das bedeu­tet noch lan­ge nicht, dass die Men­schen, die mehr psy­cho­lo­gi­sche Sicher­heit, mehr Augen­hö­he, mehr Inklu­si­on, mehr Diver­si­tät usw. erwar­ten, auch bereits bes­ser kom­mu­ni­zie­ren kön­nen. Ihre Norm­vor­stel­lun­gen klin­gen zwar nach bes­se­rer Kom­mu­ni­ka­ti­on, aber das bedeu­tet nicht, dass der Selbst­schutz — und damit die defen­si­ve Kom­mu­ni­ka­ti­on — aus­ge­schal­tet ist. Im Gegen­teil: Der Selbst­schutz kommt nur in einem neu­en Gewand daher. Im Extrem­fall pran­gert man das Feh­len von „safe spaces“ an — und legi­ti­miert damit die Ver­wei­ge­rung, sich zu invol­vie­ren, also sich „echt“ an Dis­kus­sio­nen zu beteiligen.

Die prak­ti­sche Lösung ist in bei­den Fäl­len (dem „alten“, eska­la­ti­ons­ori­en­tier­ten wie dem neu­en, irgend­wie „betei­li­gungs­ori­en­tier­te­ren“, aber an Befind­lich­kei­ten schei­tern­den Mecha­nis­mus) die glei­che: Alles, was hilft, neue Infor­ma­tio­nen in den Aus­tausch zu brin­gen und den Aus­tausch so zu gestal­ten, dass nicht der Schutz der jewei­li­gen indi­vi­du­el­len Posi­tio­nen im Vor­der­grund steht, son­dern es um „ech­ten“ Aus­tausch, also tat­säch­lich gemein­sa­me Ent­schei­dun­gen geht, ist hilfreich.

Am Ende geht es in Orga­ni­sa­tio­nen dar­um, dass die Hand­lun­gen der betei­lig­ten Per­so­nen mög­lichst auf den jewei­li­gen Zweck der Orga­ni­sa­ti­on ein­zah­len. Der Mensch ist aber so gestrickt, dass sich der Hand­lungs­im­puls sowohl auf das Zusam­men­wir­ken als auch auf den Schutz des eige­nen sozia­len Sta­tus’ rich­tet. Wenn es um die Siche­rung des eige­nen Sta­tus’ geht, geben Men­schen in Orga­ni­sa­tio­nen zwar vor, dass es um den gemein­sa­men Zweck geht (dafür bekommt man ja Geld), tat­säch­lich aber beschäf­ti­gen sich Men­schen eher (min­des­tens aber: auch) mit der Siche­rung der eige­nen Posi­ti­on bzw. des eige­nen sozia­len Status.

Das ist der Grund, war­um Hand­lun­gen oft stra­te­gisch sind, obwohl man etwas ande­res vor­gibt (die Sach­lich­keit beto­nen und Emo­tio­nen unter­drü­cken in der „alten“ Ver­si­on vs. das Leit­mo­tiv beto­nen, dass nie­mand ver­lie­ren soll, jede und jeder wich­tig ist, man sich aber eben nicht über die Emo­tio­nen der ande­ren „hin­weg­set­zen“ soll usw.).

Der häu­fi­ger wer­den­de Pro­to­typ sol­cher stra­te­gi­scher Hand­lun­gen ist die Mel­dung, dass man sich nicht sicher genug füh­le, sich auch wirk­lich offen zu äußern. Zumin­dest beob­ach­te ich, dass sol­che Hand­lun­gen häu­fi­ger wer­den und oft genug benutzt wer­den, die eige­nen Belan­ge und Sicht­wei­sen zu tar­nen und zu sichern — obwohl man etwas ande­res vorgibt.

Wenn an dem Gefühl, dass die Kom­mu­ni­ka­ti­on nicht „sicher“ sei, etwas dran ist, dann soll­te es auch mög­lich sein, das zu „bear­bei­ten“. Aber wenn das Argu­ment, dass ein „space“ nicht „safe“ genug sei, stra­te­gisch benutzt wird, blo­ckiert es tat­säch­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on, Kon­flikt­aus­tra­gung, tat­säch­lich gemein­sa­me Ent­schei­dun­gen usw. Ver­bin­det sich die­ses „stra­te­gi­sche“ Argu­ment noch mit einer rela­tiv stren­gen nor­ma­ti­ven Hal­tung, dann wird es in der Pra­xis schnell „inter­es­sant“, weil dann oft genug die „Dro­hung“ ange­führt wird, dass man die Kom­mu­ni­ka­ti­on abbre­chen müs­se, weil ja bestimm­te, heu­te „selbst­ver­ständ­li­che“ Nor­men nicht ein­ge­hal­ten würden.

Eine behut­sa­me, fra­gen­de Mode­ra­ti­ons- oder Gesprächs­tech­nik führt hier häu­fig nicht zu neu­en Infor­ma­tio­nen oder zu einer Ver­än­de­rung der Hal­tung, weil die ent­spre­chen­den Hal­tun­gen in vie­len Fäl­len „nor­ma­tiv auf­ge­la­den“ sind und zu ent­spre­chend restrik­ti­ven Hand­lun­gen füh­ren. Kon­fron­ta­tio­nen füh­ren eben­falls nicht zu mehr Aus­tausch, weil sie gern als „Beweis“ für die Nicht­ach­tung der Sicher­heits­be­dürf­nis­se oder ande­re indi­vi­du­el­le oder ideo­lo­gisch begründ­ba­re Belan­ge „dekon­stru­iert“ wer­den. Im Fal­le mei­ner Per­son kann auch gern der viel geschol­te­ne „alte wei­ße Mann“ ange­führt wer­den. Das Ergeb­nis lau­tet in jedem Fall: Die kom­mu­ni­ka­ti­ve Kat­ze beißt sich min­des­tens in den Schwanz — oder beißt sich den Schwanz gleich ganz ab.

Wenn also eben­so lan­ge wie stra­te­gisch eine Dis­kus­si­on dar­über geführt wird, ob man über­haupt dis­ku­tie­ren kön­ne, ob der „space“ „safe“ genug sei usw., wird die Dis­kus­si­on effek­tiv ver­hin­dert, weil man noch nicht ein­mal dazu kommt, sich über­haupt zu eini­gen, dass man mit­ein­an­der reden möch­te, geschwei­ge denn, dass man die The­men sam­melt, über die man reden wol­len wür­de oder über die zu reden not­wen­dig wäre („Ich las­se mir von nie­man­dem sagen, wor­über ich reden soll, wenn ich mich nicht sicher füh­le.“) — und ganz zu schwei­gen davon, dass man über­haupt ein­mal ins kon­kre­te Reden kommt.

Wenn da etwas dran ist, ist die Fra­ge zu stel­len, wie es mit unse­ren Orga­ni­sa­tio­nen wei­ter­geht, wenn immer mehr Ange­hö­ri­ge einer Orga­ni­sa­ti­on die eige­nen indi­vi­du­el­len (Selbstschutz-)Belange über das Funk­tio­nie­ren der Orga­ni­sa­ti­on stel­len, indem sie das Nicht­vor­han­den­sein einer „psy­cho­lo­gisch siche­ren“ Gesprächs­grund­la­ge als stra­te­gi­sches Argu­ment benutzen.

Wie gesagt: Wenn etwas dran ist, muss man sich auch drum küm­mern. Aber wenn das Argu­ment stra­te­gisch benutzt wird und die Ver­har­rung auf der eige­nen Posi­ti­on mit all­zu zeit­geis­ti­gen Ideo­lo­gien legi­ti­miert und ver­stärkt wird, ist guter Rat teu­er und langwierig.

Jörg Hei­dig

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt als Dozent tätig und hatte viele Jahre Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.