Die Leitfrage dieses Textes lautet nicht: Kann man mit Vorurteilen umgehen? Die Frage lautet vielmehr: Wie kann man mit Vorurteilen umgehen?
Wie ist Kommunikation möglich, wenn sie – zumindest auf den ersten Blick – nicht möglich scheint? Ich möchte behaupten, dass Kommunikation in vielen Fällen auch gar nicht möglich sein soll, denn die Voreinstellungen der Beteiligten sind meistens derart, dass zwar vorgetragen wird, dass man ja gern kommunizieren würde, dies aber aus Gründen, die meistens an der jeweils anderen Seite festgemacht werden, nicht könnte. Wenn aber Kommunikation schon durch die Voreinstellung verhindert wird, wird die Frage nach einer geeigneten Art und Weise der Kommunikation sinnlos.
Genau das ist nach meiner Beobachtung die selbsterfüllende Prophezeiung, die jeden Tag hundertfach stattfindet: da diskutieren Menschen mit völlig unterschiedlichen – und oft von vornherein gegenläufigen oder gar feindseligen – Voreinstellungen miteinander. Es offenbart sich, dass nicht nur ihre Meinungen, sondern auch ihre Sichtweisen auf die Welt insgesamt völlig unvereinbar sind. Mag anfänglich noch Dialogbereitschaft signalisiert worden sein, führen die Diskussionen dann zur Polarisierung – und damit indirekt zur Bestätigung der jeweiligen, in der Regel bereits vorher vorhandenen Überzeugung, dass man mit der jeweils anderen Seite nicht reden könne.
Wie soll da Dialog möglich sein?
Wirklicher Dialog erfordert zunächst, dass man andere Meinungen erträgt, dass man die jeweils andere Seite nicht vor-verurteilt. Doch genau das geschieht. Anhänger des rechten Spektrums mögen in Willkommenskultur-Vertretern „linksgrün versiffte Aktivisten“ sehen, während Angehörige des linken Spektrums vielerorts „Alltagsrassismus“ oder gar „Nazis“ wittern.
Nun werden manche Leser meinen: wie soll das gehen? Man kann mit „denen“ doch unmöglich sprechen. Hier bin ich anderer Meinung: man kann wohl. Und ich gehe sogar noch weiter: wir müssen sogar. Nicht, um Rassisten zu bekehren. Vorurteile gehen nicht durch Belehrung weg. Wirkliche Rassisten wird man womöglich auch nicht durch Dialog ändern. Und Straftäter gehören hinter Schloss und Riegel. Allerdings meine ich, dass dies für Vertreter aller politischen Extreme gelten sollte.
Lassen Sie mich diese Sichtweise ein wenig genauer erläutern: stellen Sie sich bitte einmal unsere Verfassung als einen Boden vor, auf dem man stehen kann. Die meisten Einwohner Deutschlands stehen auf diesem Boden der Verfassung. Wenn einer jedoch Polizisten verletzen will, mit dem LKW in eine Ansammlung von Menschen fährt oder ein Flüchtlingswohnheim anzündet, dann steht er ganz und gar nicht auf dem Boden der Verfassung. Wir haben einen Grad der Zivilisation erreicht, auf dem wir – im Sinne der Mehrheit der Gesellschaft – solche Menschen nicht einfach töten, sondern nach Möglichkeit verhaften und quasi per Gerichtsverfahren auf den Boden der Verfassung zurückzerren. Das ist ein wichtiger Unterschied: wir verlassen nicht den Boden der Verfassung, sondern wir halten uns auch bei der Verfolgung schwerster Straftaten an die verfassungsmäßigen Vorgaben.
Nun sind die wenigsten Menschen bereit, ihre radikalen Sichtweisen in solche Taten umzusetzen. Zwischen dem Boden der Verfassung und jenen, die so weit draußen stehen, dass sie solche Taten begehen, ist es ein weiter Weg. Und dieser Weg führt durch das unwegsame Gelände der Radikalisierung. Die ersten Meter stellen quasi den Rand des Bodens der Verfassung dar. Die Wege sind hier noch gut ausgetreten, das ist die Welt der Demonstranten, die einen Galgen zur Demonstration mitbringen, mit Trillerpfeifen den Tag der Einheit vermiesen, oder die in Hamburg gegen den G20-Gipfel „demonstrieren“ und anderen Menschen gezielt Angst einjagen. Die Letzteren verlassen den Boden der Verfassung vollends, wenn sie sich, quasi an sich selbst aufgeputscht, daran machen, im Namen der Kapitalismuskritik Autos und Geschäfte zu demolieren und Polizisten anzugreifen. Solche Handlungen begehen noch vergleichsweise viele Menschen. Deutlich weniger an Zahl sind jene, die sich trauen, Anschläge auf Infrastruktur zu verüben. Das mag noch ohne explizite Tötungsabsicht geschehen. Von hier aus ist es dann aber nicht mehr weit zu gezielten Angriffen auf Polizisten und Zivilisten mit der Absicht, mindestens schwer zu verletzen, wenn nicht gar zu töten. Dann sprechen wir von Terror.
Ich möchte das Gelände zwischen dem Boden der Verfassung und dem Gebiet des tatsächlichen Terrors als „Grauzone“ bezeichnen. In dieser Grauzone gibt es viele Menschen. Die Frage ist nun: wie kommen diese Menschen zurück auf den Boden der Verfassung?
Wir können diese Aufgabe nicht der Polizei und den Gerichten überlassen. Wir leben in einer Demokratie, und Demokratie bedeutet nicht nur Meinungsfreiheit, sondern auch die „Hoffnung auf Dialog“.
Paradox ist, dass heuer viel von „Zivilgesellschaft“ gesprochen wird, aber anstatt Zivilgesellschaft wirklich zu leben, wird der Begriff oft dazu verwendet, mindestens Verwunderung über jene zu produzieren, die sich der sich an den Begriff implizit anschließenden „Multikulti-Annahme“ widersetzen. Oft wird von Vorurteilen gesprochen – mit der Konsequenz, dass mit dem Vorwurf des Vorurteils selbst eine Vor-Verurteilung geschieht. Wenn ein Lehrer in einer Klasse das Thema Migration bespricht und abweichende – ggf. auch tendenziell rassistische – Aussagen mit dem Vorwurf des Vorurteils abtut, ist nichts gewonnen.
Die meisten Trainings, die zum Thema Toleranz und Demokratisierung, gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit durchgeführt werden, haben nach meinem Dafürhalten keine Wirkung. Warum nicht? Weil die besagten Trainings vor allem belehren und damit vor allem diejenigen zufriedenstellen, die sie durchführen oder finanzieren. Belehrungen helfen nichts.
Stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie seien Rassist. Kein richtiger, kein Aktivist oder so, aber eben jemand, der Menschen anderer Rassen nicht leiden kann. Können Sie sich das überhaupt vorstellen? Nein? Ganz und gar nicht? Und Sie wüssten auch nicht, warum Sie so etwas tun sollten? Und überhaupt, wer heute noch rassistisch sei, dem fehle es an Bildung und an Empathie sowieso!
Sehen Sie, Sie können es ja auch.
Wie jetzt?
Naja, Sie können das mit den Vorurteilen auch.
Belehrung ändert an Vorurteilen leider gar nichts. Vorurteile haben blitzgescheite Menschen ebenso wie dumme. Die Blitzgescheiten können ihre Vorurteile nur besser verkleiden – oder sie tun das, was Psychoanalytiker Sublimierung nennen: wenn es sozial unerwünscht ist, einen bestimmten Trieb auszuleben, wird nicht etwa der Trieb eingedämmt, sondern der betreffende Mensch sucht sich einen Bereich, in dem er seinen Trieb halbwegs ungezwungen ausleben kann. Klassisches Beispiel: wer etwa alles zwanghaft unter Kontrolle haben muss, damit aber im normalen Leben unangenehm auffallen würde, sucht sich einen Beruf, in dem er seinem Kontrollzwang freien Lauf lassen kann. Und so kommt es, dass die Intoleranz nicht verschwindet, sondern sich neue Themen sucht. Zugespitzt könnte man behaupten, dass die Blockwarte der Neuzeit u. a. jene sind, die immer und überall Diskriminierungen, falsche Erziehungsstile, nicht-inklusive Sprachverwendungen etc. registrieren und anprangern. Immerhin in der ZEIT war kürzlich von einer queer-feministischen Gender-Stasi die Rede.
Um nicht falsch verstanden zu werden, sei hier angemerkt, dass es mir nicht um den Umgang mit radikalen Straftätern und schon gar nicht um die Verharmlosung von Straftaten geht. Wofür ich plädiere, ist mehr Offenheit und Dialogbereitschaft unter Diskussionspartnern. Wir müssen in der Lage sein und bleiben, unser Zusammenleben zu organisieren. Vor-Verurteilungen helfen da wenig. Wenn die einen meinen, dass Deutschland außer der gemeinsamen Sprache keine näher definierbare Kultur besitze, dann erscheint das ebenso wenig hilfreich wie die Einlassung, dass man überhaupt keine Migranten mehr hereinlassen solle. Während die einen sagen, dass der Kapitalismus tiefe Furchen der Ungerechtigkeit hinterlassen habe und sich – nicht zuletzt genau deshalb – die Welt im Umbruch befinde und man mit den neuen (migrantischen) Realitäten leben müsse, meinen die anderen, dass wir uns gerade jetzt auf eine Leitkultur besinnen und als Westen zusammenrücken sollten, um Migration und andere – oft als Gefahren verstandene – Themen besser in den Griff zu kriegen. Die entsprechenden Diskussionen werden derzeit in der Regel so geführt, dass am Ende polarisiertere Meinungen herrschen als vorher. Dabei wäre das Gegenteil notwendig, wenn wir langfristig handlungsfähig bleiben wollen – von der kommunalen bis hinauf zur europäischen Ebene.
Nehmen wir einmal das Beispiel der Flüchtlingsthematik: in Diskussionen beobachte ich vor allem zwei Gruppen. Die erste Gruppe sind die Vertreter der Willkommenskultur. Auf der anderen Seite stehen die Gegner. Die Sichtweisen beider Seiten kranken meines Erachtens daran, dass sie die Realität nicht vollständig anerkennen bzw. jeweils einen signifikanten Teil der Realität ausblenden. Während die Vertreter der Willkommenskultur vor allem auf die positiven Seiten der Migration schauen und bspw. die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten weitgehend ablehnen, ignorieren sie das „migrantische Binnenspektrum“ und verorten verfehlte Integration insbesondere beim (unterstellten) Rassismus der deutschen Mehrheit, bei der Schwierigkeit, sich durch den deutschen Behördendschungel zu finden etc. Zum besagten „migrantischen Binnenspektrum“ gehören aber nicht nur Flüchtlinge, die vorübergehend Schutz vor Krieg suchen oder sich hier integrieren möchten. Es sind – auch – wenig wünschenswerte Motivationen vorhanden – von der geplanten Ausnutzung des deutschen Sozialsystems über Partisanen, die zur Organisation der Diaspora-Finanzierung ihrer Verbände hergeschickt werden, über die gezielte Organisation von kriminellen Aktivitäten bis hin zu perspektivlosen Menschen, die, mit einer Duldung ausgestattet, ebenso angetrunken wie aggressiv in Innenstädten marodieren. Terroristen bleiben die absolute Ausnahme, aber auch diese sind darunter. Das ist Teil der Realität – ein Teil nur, aber eben ein Teil, der existiert, und mit dem man sich befassen muss. Die andere Seite ist in der Regel „generell dagegen“, und zwar gleichfalls unter Ausblendung eines Teils der Realität. Diese besagt, dass sich die Welt tatsächlich wandelt, und dass man sich dazu verhalten muss. Egal, wer gewählt wird – das Thema Migration wird in den nächsten Jahrzehnten aktuell bleiben. Eine komplette Abschottung ist wahrscheinlich unmöglich – die Steuerung der Migration und ein vernünftiges Einwanderungsgesetz hingegen nicht.
Was wäre, wenn beide Seiten den ausgeblendeten Teil der Realität jeweils anerkennen und anschließend nach Gemeinsamkeiten suchen würden?
Nun zum Praktischen: Vorurteile gehören zum Menschen wie Augen, Nase oder Hände. Sie sind so selbstverständlich, dass man sie nicht hinterfragen kann. Und wenn jemand von sich annimmt, dass sie oder er keine Vorurteile habe, dann trägt diese Annahme selbst die Gestalt eines Vorurteils. Der Grund für Vorurteile liegt in den Eigenheiten unseres Denkens. Wenn wir etwas wahrnehmen, kategorisieren wir es. Dieser Vorgang wird auf Grundlage dessen vorgenommen, was wir bereits wissen. Wird etwas wahrgenommen, für das man bereits eine Kategorie besitzt, werden die vorab erlernten Eigenschaften der betreffenden Kategorie auf das Wahrnehmungsobjekt angewandt. Wichtig ist eine Unterscheidung: Kategorisierung basiert auf Wissen. Erfahrung kann als Kriterium hinzukommen, muss aber nicht. Wissen ist also notwendig und hinreichend, Erfahrung ist allenfalls ein Zusatzkriterium. Aber ein entscheidendes, denn gerade das Wissen über Menschen anderer Sprache, Hautfarbe etc. ist oft implizit übertragen worden und basiert eben nicht auf Erfahrung. Dass Afrikaner anders riechen, Afghanen sich nicht waschen, Polen stehlen usw. sind Annahmen, die viele Menschen teilen, ohne sich dieses „Wissen“ jemals bewusst angeeignet zu haben. Vorurteile können bewusst sein, etwa wenn jemand sagt: „Polen klauen.“ oder weniger bewusst, etwa wenn die Lehrerin ihrer Klasse vor dem Besuch der polnischen Partnerschule sagt: „Lasst die Brotbüchsen lieber hier.“ Während die bewussten Vorurteile durch Erfahrung mit Menschen aus anderen Kulturen gemildert werden oder sogar ganz verschwinden, zeigen sich die weniger bewussten Vorurteile viel hartnäckiger und sind sogar bei Menschen zu finden, die bereits lange in Mischehen leben.
Wie aber kann man nun mit Vorurteilen umgehen – und das insbesondere angesichts des Umstands, dass zumindest die unbewussten Vorurteile kaum je verschwinden? Die einfachste Antwort lautet: indem ein Mensch direkte Erfahrungen mit Individuen aus einer anderen Kultur macht, lernt er Dinge, die dem Vorurteil entgegenwirken. Dem bereits vorhandenen Wissen werden also gleichsam gegenläufige Informationen entgegengestellt. Der andere Mensch ist dann nicht mehr „ein Afghane“ oder „der Syrer“, sondern er bekommt einen Namen und ein Gesicht. Er ist dann Hadjatullah, der aus Herat stammt, einen Vater und eine Mutter hat und drei Brüder und so weiter.
Nun werden wenig oder nicht dialogbereite Menschen nicht zwingend auf Migranten zugehen und sich nach ihrer Herkunft, ihrer Geschichte usw. erkundigen. Solche Begegnungen sind selten. Wenn sie jedoch organisiert werden, dann ist es weniger hilfreich, lange Reden zu führen, von Integration zu sprechen oder Migranten auf Podien auszufragen. Hilfreicher ist es, bspw. gemeinsam zu essen. Es gibt kaum eine andere auf der ganzen Welt alltägliche Tätigkeit, die mehr dazu geeignet wäre, die Erfahrung einer – zumindest rudimentären – Gleichheit zu erzeugen und die Voraussetzungen für persönliche Kontaktaufnahme, gegenseitiges Interesse und ggf. späteres Vertrauen zu schaffen, als das gemeinsame Essen. Essen schafft die normalerweise vorhandene Machtdistanz unter den Anwesenden für eine Weile aus dem Weg und sorgt für „Augenhöhe“ im wahrsten Sinne des Wortes.
Doch hier geht es weniger um die Frage nach der Begegnung zwischen angestammter Bevölkerung und (temporär) Zugewanderten, sondern eher um den Umgang mit Vorurteilen in Gesprächen unter Menschen, die sich nicht mit Migranten, sondern über Migration, Migranten usw. unterhalten. Man kann das Themenspektrum auch weit über das Thema Migration hinaus erweitern und andere polarisierende Themen einbeziehen, bspw. den G20-Gipfel in Hamburg. Bei derart polarisierenden Themen findet man sich schnell in kontroversen Diskussionen wieder. Hier geht es um die Frage, welche Techniken in polarisierten Gesprächen helfen.
Verstehen Sie die folgenden Darstellungen bitte als Katalog mit einer Reihe von Möglichkeiten. Ob eine bestimmte Technik passt, ist von drei Faktoren abhängig: der handelnden Person, dem Gegenüber (oder: Auditorium) und dem Thema, um das es geht. Ihre Aufgabe ist es, dieses „Dreieck“ in ein funktionierendes Gleichgewicht zu bringen. Ich möchte hier einen kleinen Werkzeugkasten jener Dinge vorstellen, die in polarisierenden Diskussionen helfen können – wohl wissend, dass die Wirksamkeit dieser Werkzeuge auch Grenzen hat, denn wer Diskussionen nur zur Selbstbestätigung führt, will und kann seinen Standpunkt nicht ändern.
Das ist das Problem bei Radikalisierungsprozessen: erst gibt es nur wenige Radikale und viele Gemäßigte, und die Eliten versuchen, die betreffenden Entwicklungen auszusitzen. Dann nimmt der Anteil der Radikalen zu, die Gemäßigten werden leiser. Die Eliten schwenken nun mehr und mehr auf den Kurs der Gemäßigten ein und werfen einen größeren Teil ihrer angestammten Überzeugungen dem Zeitgeist hinterher. Tun sie das zu spät, haben die Radikalen den Spaltungsprozess soweit vorangetrieben, dass die Situation „umkippt“. Dann helfen Diskussionen gar nichts mehr, dann „kracht“ es, die Gemäßigten verstummen, und Mob und (Bürger-)Kriegsteufel toben sich aus. Sind die Kräfte erschöpft und wurde genug gestorben, verlieren die Radikalen den Rückhalt, die Gemäßigten finden ihre Sprache wieder und übernehmen das Ruder. Ich glaube nicht, dass es in Deutschland soweit kommen kann. Aber ich glaube, dass es Zeit ist, den Spaltungstendenzen Einhalt zu gebieten, indem wir anders miteinander sprechen. Die folgenden Techniken können dabei helfen:
Die meines Erachtens hilfreichste Technik besteht darin, das Mitteilen der eigenen Position zu verzögern und erst einmal Fragen zu stellen. Konflikte eskalieren insbesondere dann, wenn sich die Beteiligten ihre jeweiligen Standpunkte abwechselnd und in von Runde zu Runde heftigerer Tonart mitteilen. Wird der eigenen Position hingegen erst einmal weniger Relevanz beigemessen und dem anderen Interesse entgegengebracht, wirkt sich das in der Regel deeskalierend auf die Gesprächsführung aus. Solches Interesse signalisiere ich mit Fragen, auf die ich die Antwort noch nicht kenne: Was meinen Sie genau? Was wollen Sie erreichen? Von welchen Annahmen gehen Sie aus? Wie sind Sie darauf gekommen? Was haben Sie erlebt? Ich bewerte also nicht die Meinung der anderen Seite, sondern ich interessiere mich dafür. Das verhindert eskalierende Diskussion und zeigt eine vorurteilsarme Grundhaltung meinerseits. Würde ich andernfalls die Darstellungen der anderen Seite bewerten, führte dies mit beinahe einhundertprozentiger Sicherheit in die Eskalation. Hier gelangen wir zum Kern vieler Konflikte: wir handeln ja nicht nur rational, sondern wir haben auch Emotionen, und wenn die stark sind, kommt es schnell zu automatisiertem Verhalten. Emotionen sind vor allem dann sehr stark, wenn wir uns in unserem Status verletzt fühlen oder uns im eigentlichen Wortsinn zu nahe getreten wird. Wenn ich also die Aussagen meines Gegenübers von Vornherein als „falsch“ o. ä. bezeichne, muss ich mich nicht wundern, wenn der Ton schärfer wird. Habe ich hingegen vor der Person einen grundlegenden Respekt, der sich darin äußert, dass ich nicht von vornherein bewerte, sondern Interesse zeige, dann trenne ich die Meinung von der Person und nehme eine vorurteilsarme Grundhaltung ein.
Eine zweite wirksame Technik besteht darin, sich selbst andere Fragen zu stellen. Gerät man in einer Diskussion unter Druck (= die Emotionen werden so stark, dass ich nur noch reagiere und nicht mehr agiere), dann stellt man sich in Gedanken Fragen wie: „Warum sind die so blöd?“ oder: „Was mache ich falsch?“ oder: „Wie kann ich die anderen besser überzeugen?“ Solcherlei Gedanken führen in einen Teufelskreis auch (vermeintlich) noch besseren Argumenten und Gegenargumenten und enden in Frustration. Hier hilft es, sich zurückzunehmen, durchzuatmen, einige Sekunden Pause zu machen und sich zu fragen: „Was weiß ich noch nicht?“ oder: „Was wollen die anderen wirklich?“ oder: „Wie kann ich anders denken?“ oder: „Welche Optionen habe ich?“ Sie werden sehen: solche Gedanken führen zu anderen Gesprächsverläufen und zu der Überlegung, dass man sich nicht einigen muss, wohl aber Respekt voreinander haben kann.
Was hilft, sind Gelassenheit, Ruhe und die Fähigkeit, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Man muss eine Diskussion nicht „gewinnen“. Aber man kann Respekt haben und Fragen stellen. Man kann anders denken. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf die andere Seite und führt eher zum Nachdenken als Diskussion oder gar Belehrung. Das Fazit lautet, dass man nur die eigene Einstellung, nicht aber die Einstellung anderer ändern kann.
Vergegenwärtigen wir uns, wie viel Geld für Werbung, PR, Lobbyarbeit, Propaganda usw. ausgegeben wird, um Einstellungen zu ändern. Dabei muss man sagen: Propaganda ist umso wirksamer, je öfter sie gesendet wird und je weniger Ahnung die Empfänger haben. Jetzt können wir überlegen, wo hohe Frequenz und Ahnungslosigkeit zusammentreffen: vor dem Fernseher und in den sozialen Medien. Doch es hilft wenig, diese Dinge auf einer Grundsatzebene zu kritisieren. Was wir wirklich beeinflussen können, ist die Qualität und die Vorurteilsarmut unserer eigenen Gespräche. Eben indem ich mit Vorurteilen umgehe und sie nicht auf Grundlage eigener Vorurteile ablehne.
Nein, nein, wir sind ja die Guten, wir haben keine Vorurteile!
Aber eben die Annahme, auf der „guten Seite“ zu stehen, ist eine Bewertung und damit eine Vor-Verurteilung der anderen Seite.