Wie man die frühere Heimat später in Erinnerungen einschließt

Mein frü­he­rer Kol­le­ge Zel­j­ko Cum­bo hat auf Face­book einen Text geteilt, den ich sehr inter­es­sant fand – nicht, weil er mich an mei­ne “alten Zei­ten” in Bos­ni­en erin­nert, son­dern weil er das Gefühl gut beschreibt, das vie­le “Ex-Jugo­sla­wen” damals hat­ten und zum Teil auch heu­te noch haben. Und weil der Text am Ende sehr viel mit dem The­ma “Flücht­lin­ge” zu tun hat, das heu­er so kon­tro­vers dis­ku­tiert wird. Ich fand den Text so gut, dass ich ihn über­setzt habe:

Ich lebe seit 1993 in Kana­da, fast ein Vier­tel­jahr­hun­dert. Wir sind am Anfang des Krie­ges her­ge­kom­men, als wir gese­hen haben, dass es für uns kei­ne Rück­kehr nach Sara­je­wo gab, und dass es auch nir­gend­wo anders in unse­rer frü­he­ren Hei­mat mehr einen Platz für uns gab. Vom ers­ten Moment an fühl­ten wir uns in Kana­da zuhau­se. Wir haben die­ses Land lie­ben gelernt, ein Land, in dem Ord­nung herrscht und Arbeit, Tole­ranz, Sau­ber­keit und Lie­bens­wür­dig­keit wich­tig sind. Uns ist wohl bewusst, dass die Lie­bens­wür­dig­keit der Kana­di­er nicht immer ehr­lich ist, aber uns ist das auch nicht wich­tig: die Leu­te sind höf­lich, sie haben uns in ihrem Land will­kom­men gehei­ßen und uns die Mög­lich­keit gebo­ten, in den Beru­fen zu arbei­ten, die wir erlernt hat­ten; sie ermög­lich­ten uns, ein nor­ma­les Leben zu leben und uns nicht wie Aus­län­der zu füh­len; sie akzep­tier­ten unse­ren Akzent in der eng­li­schen Spra­che, so stark er auch gewe­sen sein mag.

Was könn­ten wir uns mehr wünschen?

Es gibt hier Men­schen aus der gan­zen Welt. Man sagt, Toron­to sei die mul­ti­kul­tu­rells­te Stadt der Welt. Wenn man hier­her kommt, ver­steht man erst, wie klein man ist, dass man nur ein Mensch ist unter den Mil­lio­nen, die hier­her kom­men, um ihren Platz unter der Son­ne zu fin­den. Wie schafft man es dann, dass einen jemand bemerkt und einem die Chan­ce gibt zu zei­gen, was man kann? Wie soll man sich von der Mas­se abhe­ben, deren größ­ter Teil zumal hoch­ge­bil­de­te Men­schen sind? Unter allen ande­ren Kom­po­nen­ten des anfäng­li­chen Kul­tur­schocks (es liegt nicht ein ein­zi­ger Papier­fet­zen auf der Stra­ße, man darf nie­man­den berüh­ren, wenn man in einer Schlan­ge steht oder mit dem Bus fährt, Ver­kehrs­re­geln wer­den strikt ein­ge­hal­ten, kein Hupen, wenn man wäh­rend der Fahrt die Geduld ver­liert) war es die Erkennt­nis der eige­nen Grö­ße und Bedeu­tung, oder bes­ser gesagt, der eige­nen Klein­heit und Bedeu­tungs­lo­sig­keit, die am schwers­ten anzu­neh­men war.

Aber mit der Zeit, wenn man ein wenig Selbst­ver­trau­en gewinnt und sieht, wie viel man tat­säch­lich weiß und wie viel man kann, fin­det man zur Nor­ma­li­tät und zum eige­nen Iden­ti­täts­be­wusst­sein zurück. Man arbei­tet hier­zu­lan­de viel und lan­ge, das Leben ist stres­sig und voll­ge­stopft, die Jah­re ver­ge­hen in dem Ren­nen dar­um, dass man ankommt und etwas erreicht, und dann merkt man auf ein­mal, dass man 50 und ein paar Jah­re alt ist und die bes­ten Jah­re hin­ter einem lie­gen. Wo sind die Jah­re hin? Irgend­wie feh­len sie mir… Ich betrach­te mich selbst immer noch als einen jun­gen Men­schen, sowohl wenn ich allein bin als auch in Gesell­schaft – ich kann nicht glau­ben, dass jemand in mir eine Frau im mitt­le­ren Alter oder gar eine älte­re Per­son erblickt. Die fol­gen­den Din­ge haben mei­nen Mann und mich in den letz­ten zwan­zig Jah­ren über die Maßen beschäf­tigt: Arbeit fin­den, auf Arbeit Fort­schrit­te machen, sich in das hie­si­ge kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem ein­fü­gen – und das mit unse­rer emo­tio­na­len sla­wi­schen und im Grun­de sozia­lis­ti­schen See­le, ein Haus kau­fen, ein­rich­ten und abzah­len, Autos, Rei­sen, ein Kind auf best­mög­li­che Wei­se erzie­hen, dem Kind ermög­li­chen, gute Schu­len zu besu­chen und sich mit Din­gen zu beschäf­ti­gen, die es liebt, die Eltern aus Sara­je­wo her­ho­len, sich um sie bis zum heu­ti­gen Tag sor­gen, mit ihnen all ihre Schwie­rig­kei­ten bewäl­ti­gen – mit der Spra­che, dem Ver­lust all des­sen, was sie einst besa­ßen, mit der neu­en Kul­tur, dem Geld, mit Krank­hei­ten, mit Bekann­ten, mit dem Tod… Das ist eine gro­ße Ver­ant­wor­tung für zwei jun­ge (und nun nicht mehr so jun­ge) Men­schen, von daher ist es kein Wun­der, dass 20 Jah­re ver­gan­gen sind wie nichts.

Auch wenn wir nach wie vor den­ken, dass der Umzug nach Kana­da unter den dama­li­gen Umstän­den das bes­te war, was wir tun konn­ten, und auch wenn wir sehr glück­lich und stolz auf das Leben sind, das wir hier auf­ge­baut haben, erin­nern wir uns oft an ande­re, weit zurück­lie­gen­de Zei­ten. Unse­re schöns­ten Jah­re ver­brach­ten wir im Sara­je­wo der Vor­kriegs­zeit, als wir am frü­hen Mor­gen hei­ße Hörn­chen aus der Bäcke­rei auf der Bas­car­si­ja und Bre­zeln aus dem Kiosk neben dem Ers­ten Gym­na­si­um geges­sen haben, als wir uns abends getrof­fen haben, als wir mit der Seil­bahn auf die Ber­ge vor der Stadt gefah­ren sind und uns von dort oben an der Schön­heit unse­rer Stadt erfreut haben, als wir an Win­ter­ta­gen den Geruch von hei­ßen Maro­nen ein­so­gen, bis uns der Sara­je­woer Smog in Nase und Augen kniff. Inter­es­sant ist, wel­che die­ser Details die stärks­ten Erin­ne­run­gen an die Ver­gan­gen­heit, die frü­he­re Hei­mat wach­ru­fen und bis­wei­len einen klei­nen Trä­nen­aus­bruch ver­ur­sa­chen, bevor man sich wie­der im Griff hat. Das sind nie Bücher, Fil­me oder Fotos, das ist immer ein ver­trau­ter Geruch (hei­ße Maro­nen oder Win­ter­smog) oder der Klang eines Songs, den man lan­ge nicht gehört hat. Unser Leben in Sara­je­wo kommt mir heu­te vor wie ein wun­der­vol­ler, sorg­lo­ser Traum, eige­fan­gen in schö­nen Pas­tell­tö­ne und ange­neh­men Gerü­chen, abge­run­det durch ein war­mes Gefühl der Sicher­heit und Zufrie­den­heit. Trotz­dem wir nicht viel hat­ten, war es irgend­wie gut und genug. Heu­te lesen wir Zei­tun­gen und Por­ta­le und ver­fol­gen, was dort geschieht. Es gefällt uns nicht, was wir sehen und hören. Das sind jetzt ande­re, uns frem­de Län­der mit Men­ta­li­tä­ten und Stan­dards, die wir nicht ver­ste­hen. Des­halb haben wir uns ent­schlos­sen, dass wir unser Sara­je­wo so in Erin­ne­rung behal­ten, wie es einst war – aus der Erin­ne­rung kann man es uns nicht weg­neh­men – und dass wir Jugo­sla­wi­en in der See­le tra­gen, auch wenn wir uns voll und ganz bewusst sind, dass es die­ses Land schon lan­ge nicht mehr gibt.

Ves­na

Toron­to, Kanada

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Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.