Zum Verständnis von Veränderung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen in Organisationen

Beginnt man mit dem Unter­fan­gen, das Gesche­hen in Unter­neh­men und ande­ren For­men von Orga­ni­sa­tio­nen bes­ser ver­ste­hen zu wol­len, stößt man in der Lite­ra­tur bald auf eine schwer zu über­schau­en­de Land­schaft mög­li­cher Erklä­run­gen und Model­le. Auf einer gene­rel­len Ebe­ne fin­det man zunächst zwei „Lini­en“, anhand derer sich die vor­han­de­nen Ansät­ze und Denk­wei­sen klas­si­fi­zie­ren las­sen. Die ers­te die­ser Lini­en ver­läuft zwi­schen zwei Lagern von Orga­ni­sa­ti­ons­wis­sen­schaft­lern – wäh­rend das eine Lager eine mög­lichst weit­ge­hen­de „para­dig­ma­ti­sche Ein­heit“ for­dert, wie das etwa in der zeit­ge­nös­si­schen Psy­cho­lo­gie nach lan­ger Annä­he­rung an natur­wis­sen­schaft­li­che Model­le und Metho­den der Fall ist, argu­men­tiert das ande­re Lager, dass gera­de die Viel­falt der Ansät­ze wich­tig sei. Den Befür­wor­tern eines mög­lichst ein­heit­li­chen Para­dig­mas in den Orga­ni­sa­ti­ons­wis­sen­schaf­ten (vgl. Pfef­fer 1993; Glick et al. 2007) ste­hen Autoren gegen­über, die mei­nen, dass gera­de die Viel­falt der Sicht­wei­sen einem so kom­ple­xen Gegen­stand, wie es Orga­ni­sa­tio­nen sind, ange­mes­sen sei (vgl. Van Maanen 1995; Mor­gan 1997). Die zwei­te die­ser bei­den Lini­en trennt eher betriebs­wirt­schaft­lich ori­en­tier­te Ansät­ze zur Ver­än­de­rung von Orga­ni­sa­tio­nen, die ihr Augen­merk mehr auf das Ver­än­de­rungs­ziel und sei­ne Errei­chung mit den Metho­den des Manage­ments rich­ten, von pro­zess­ori­en­tier­ten Ansät­zen, die mehr die Ver­än­de­rung an sich und die orga­ni­sa­tio­na­len Erfor­der­nis­se für das Gelin­gen von Ver­än­de­rung in den Fokus rücken.

Unter­zieht man die gän­gi­gen Vor­stel­lun­gen von Ver­än­de­run­gen in Orga­ni­sa­tio­nen einer genaue­ren Ana­ly­se, so fällt Fol­gen­des auf: Die meis­ten Model­le gehen davon aus, dass die Zustän­de vor und nach einer Ver­än­de­rung sta­bil sind. Ver­än­de­rung stellt dem­nach eine Aus­nah­me dar, und so die­nen theo­re­ti­sche und prak­ti­sche Betrach­tun­gen übli­cher­wei­se der Suche nach Hand­lungs­stra­te­gien unter den beson­de­ren Umstän­den des Wandels.

Vie­le Autoren ver­wei­sen bei der The­ma­ti­sie­rung von Ver­än­de­run­gen auf Lewins (1947) Drei­schritt „Auf­tau­en – Ver­än­dern – Sta­bi­li­sie­ren“ – eine Vor­stel­lung, die davon aus­geht, dass Struk­tu­ren mit dem Ziel der Ver­än­de­rung zunächst gelo­ckert, dann ver­än­dert und schließ­lich wie­der „ein­ge­fro­ren“ wer­den müs­sen. Für eine aus­führ­li­che­re Dar­stel­lung des Drei­schritts sie­he Krit­so­nis 2004, S. 1f. oder Rech­ti­en 1999, S. 161ff.

Aber ist dem tat­säch­lich so? Ist Ver­än­de­rung nicht eher der Nor­mal­zu­stand, sind Orga­ni­sa­tio­nen nicht – zumin­dest über län­ge­re Zeit­räu­me betrach­tet – im Fluss? Ein Blick in die Wirt­schafts­ge­schich­te zeigt, dass es kei­ne dau­er­haft erfolg­rei­chen Struk­tu­ren gibt. Zwar gibt es immer wie­der Ran­kings erfolg­rei­cher oder gar bes­ter Unter­neh­men, aber die­se best prac­ti­ce ist zumeist nur von kur­zer Dau­er – zumin­dest gehö­ren vie­le der Top-Unter­neh­men eini­ge Jah­re nach dem Zeit­punkt der Mes­sung nicht mehr zur Spit­zen­ka­te­go­rie. Orga­ni­sa­tio­nen erschei­nen so als vor­über­ge­hend erfolg­rei­che Anpas­sun­gen an eine sich ste­tig ver­än­dern­de Umwelt. Betrach­tet man die Vor­gän­ge in Orga­ni­sa­tio­nen als per­ma­nen­ten Ent­wick­lungs­pro­zess, so erschei­nen Orga­ni­sa­tio­nen eher als Ver­su­che, der dau­ern­den Ver­än­de­rung Ein­halt zu gebie­ten und dem Sta­tus Quo Sta­bi­li­tät zu ver­lei­hen. Die­se Sicht­wei­se hat gra­vie­ren­de Kon­se­quen­zen für den Umgang mit Ver­än­de­run­gen: Wäh­rend man nach dem her­kömm­li­chen Ver­ständ­nis „Sta­bi­li­tät als Normalzustand/Wandel als Aus­nah­me“ bewusst auf einen Ziel­zu­stand zusteu­ert und ent­spre­chen­de Schrit­te steu­ert, impli­ziert die Vor­stel­lung „Wan­del als Normalzustand/Stabilität als Aus­nah­me“ eher eine Locke­rung der Zügel des Manage­ments mit dem Ziel, den außer­halb sowie­so statt­fin­den­den Wan­del auch inner­halb des Unter­neh­mens zuzu­las­sen. Anpas­sun­gen und Inno­va­tio­nen gesche­hen dem­nach – kon­se­quent wei­ter­ge­dacht – gleich­sam von selbst, wenn die Rah­men­be­din­gun­gen stim­men. Die Auf­ga­be des Manage­ments ist aus die­ser Per­spek­ti­ve nicht die der geziel­ten Steue­rung, son­dern eher die der Zulas­sung und Gestal­tung von Hand­lungs­spiel­räu­men (vgl. Chia 1999). 

Die bis­he­ri­gen Dar­stel­lun­gen sind zwar eher phi­lo­so­phi­scher Natur, haben aller­dings erheb­li­che prak­ti­sche Kon­se­quen­zen: 

  1. Unter­neh­men las­sen sich ange­sichts immer dyna­mi­sche­rer Markt­be­din­gun­gen nicht mehr allein top down steu­ern. Seit dem zwei­ten Welt­krieg wur­de eine Viel­zahl von Modell­vor­stel­lun­gen zur Ver­än­de­rung von Orga­ni­sa­tio­nen ent­wi­ckelt, die die­sen hier­ar­chie­kri­ti­schen Impuls auf­ge­grif­fen haben. 
  2. Ver­än­de­run­gen sind jedoch mitt­ler­wei­le zur Dau­er­auf­ga­be gewor­den, wes­halb es bei Ver­än­de­run­gen nicht mehr um die Kom­pen­sa­ti­on der nega­ti­ven Fol­gen von Hier­ar­chien geht, son­dern um die Anpas­sung der Steue­rungs­me­cha­nis­men an unter­schied­lichs­te Markt­la­gen und Geschäfts­mo­del­le. Dabei kön­nen unter­schied­li­che Orga­ni­sa­ti­ons­for­men durch­aus neben­ein­an­der ste­hen, selbst inner­halb eines Unter­neh­mens. 
  3. Die­sen kon­zep­tio­nel­len Anfor­de­run­gen wer­den jedoch die gegen­wär­tig popu­lä­ren Modell­vor­stel­lun­gen aus dem Kon­text der Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung kaum gerecht, wor­auf spä­ter noch aus­führ­li­cher ein­zu­ge­hen sein wird. 

Wim­mer (2003, S. V) fasst sei­ne dies­be­züg­li­chen Dar­stel­lun­gen wie folgt zusammen:

Der Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lungs­an­satz wur­zelt „in Reform­be­we­gun­gen, die nach dem 2. Welt­krieg auf eine stär­ke­re Ent­hier­ar­chi­sie­rung von Orga­ni­sa­tio­nen hin­ge­ar­bei­tet haben. Sowohl die theo­re­ti­schen Grund­an­nah­men die­ser Tra­di­ti­on als auch ihr reich­hal­ti­ges Inter­ven­ti­ons­re­per­toire sind bis heu­te von den Wert­hal­tun­gen und dem nor­ma­ti­ven Grund­auf­trag die­ser his­to­ri­schen Wur­zeln geprägt. Die Kern­fra­ge (…) lau­tet des­halb, ob das in die­ser Denk­welt tra­dier­te Ver­ständ­nis von Orga­ni­sa­tio­nen und ihrer Wand­lungs­fä­hig­keit noch mit jenen orga­ni­sa­tio­na­len Ver­hält­nis­sen zusam­men­paßt, wie wir sie am Beginn des 21. Jahr­hun­derts in den unter­schied­li­chen gesell­schaft­li­chen Berei­chen, in der Wirt­schaft, in der öffent­li­chen Ver­wal­tung, in der Poli­tik, im Gesund­heits- und Bil­dungs­we­sen etc. antref­fen. Damit in enger Ver­bin­dung steht die wei­te­re Fra­ge, inwie­fern das klas­si­sche Para­dig­ma der Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung auf­grund sei­ner logi­schen Ver­faßt­heit über­haupt in der Lage ist, sich aus sich her­aus wei­ter­zu­ent­wi­ckeln und die ver­än­der­ten gesell­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen adäquat auf­zu­grei­fen. In der Beant­wor­tung bei­der Fra­gen ist begrün­de­te Skep­sis angebracht.“

Um der Hete­ro­ge­ni­tät von Markt­la­gen, Geschäfts­mo­del­len und inter­nen Aus­gangs­si­tua­tio­nen gerecht zu wer­den, soll­ten Unter­neh­men aus unse­rer Sicht ihre Rou­ti­nen zunächst ohne spe­zi­el­le Vor­an­nah­men (bspw. „Fla­che Hier­ar­chien sind grund­sätz­lich bes­ser.“) oder gar Struk­tur­vor­stel­lun­gen hin­ter­fra­gen. Erst nach einer zu Beginn ergeb­nis­of­fe­nen Ana­ly­se­pha­se beginnt ein Lern- bzw. Ver­bes­se­rungs­pro­zess, des­sen stra­te­gi­sche Ziel­set­zung im Zuge der Ana­ly­se klar gewor­den sein soll­te, des­sen tak­ti­sche Zie­le sich aber erst wäh­rend des Pro­zes­ses erge­ben. Aus die­ser Sicht erscheint die Steu­er­bar­keit von Ver­än­de­rungs­vor­ha­ben begrenzt. Viel­mehr ergibt sich ein Wech­sel zwi­schen stra­te­gi­schen Impul­sen und einem Schritt­mus­ter aus Ver­su­chen und Irrtümern.

Den Hin­ter­grund für unser hier geschil­der­tes Ver­ständ­nis von Ver­än­de­run­gen bil­den die momen­tan statt­fin­den­den tief­grei­fen­den Umwäl­zun­gen sowohl in der Wirt­schaft als auch in der Gesell­schaft. Spä­tes­tens mit Beginn der Neun­zi­ger Jah­re ver­än­der­ten sich die Wett­be­werbs­be­din­gun­gen für vie­le Unter­neh­men der­art umfas­send, dass jahr­zehn­te­lang gewach­se­ne Struk­tu­ren plötz­lich aus­ge­dient hat­ten und hybri­de, sich schnell ändern­de und nicht sel­ten auf Koope­ra­ti­on aus­ge­rich­te­te Model­le an ihre Stel­le tra­ten (vgl. Wim­mer 2003, S. 23). Waren Orga­ni­sa­tio­nen her­kömm­li­cher Prä­gung noch „rand­scharf“ abge­grenzt – sprich: ihre Gren­zen waren klar und die Zuge­hö­rig­keit war durch Ver­trä­ge gere­gelt –, so wur­den die Orga­ni­sa­ti­ons­gren­zen nun durch­läs­si­ger und die Hier­ar­chien fla­cher, tem­po­rä­re Koope­ra­tio­nen nah­men zu, und die Zuge­hö­rig­keit zur Orga­ni­sa­ti­on wur­de nicht mehr abso­lut, son­dern rela­tiv im Abstand zum Kern der Orga­ni­sa­ti­on bestimmt, wes­halb die­se Art der Orga­ni­sa­ti­on mit Jung auch als „kern­prä­gnant“ bezeich­net wer­den kann. 

Jung (2010, S. 43f.; Quel­le: Jung, D. (2010). Gren­zen­ma­nage­ment und Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung. Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung, 29(4), 41–47) erläu­tert den Über­gang von der moder­nen, „rand­schar­fen“ Orga­ni­sa­ti­on zur post­mo­der­nen, „kern­prä­gnan­ten“ Orga­ni­sa­ti­on wie folgt:

„Auf Orga­ni­sa­tio­nen – und ihre Bera­tung – bezo­gen, hat die­se Hypo­the­se bemer­kens­wer­te Kon­se­quen­zen: An die Stel­le des ‚ent­we­der – oder‘ tritt das ‚sowohl – als auch‘, und vie­le Orga­ni­sa­tio­nen oder Orga­ni­sa­ti­ons­ele­men­te sind nicht mehr rand­scharf defi­niert son­dern eher ‚kern­prä­gnant‘. (Das Begriffs­paar ‚rand­scharf – kern­prä­gnant‘ wur­de übri­gens in ande­rem Kon­text von dem Lin­gu­is­ten Georg Stei­ner geprägt). Sol­che Orga­ni­sa­tio­nen defi­nie­ren ihre Iden­ti­tät nicht mehr durch Abgren­zung, son­dern durch einen Kern, zu dem sich die Akteu­re in unter­schied­li­chen Abstän­den posi­tio­nie­ren kön­nen. Zuge­hö­rig­keit zu einer kern­prä­gnan­ten Orga­ni­sa­ti­on ist daher gra­du­ell und nicht abso­lut defi­niert. Es gibt kei­ne fes­te Gren­ze, an der die Orga­ni­sa­ti­on beginnt bzw. endet. Als Bei­spiel wer­den dabei häu­fig so genann­te ‚vir­tu­el­le Unter­neh­men‘ genannt, die kei­ne oder fast kei­ne Fest­an­ge­stell­ten mehr haben. Sie erfin­den sich immer wie­der neu als Koope­ra­ti­on von Fir­men, Selb­stän­di­gen und frei­en Mit­ar­bei­tern, die unter­schied­li­che for­ma­le und infor­mel­le Bezie­hun­gen mit­ein­an­der unter­hal­ten. Schwarm­in­tel­li­genz ersetzt den gro­ßen Fisch.“ 

Ein deut­li­ches Kenn­zei­chen für den gegen­wär­ti­gen Wan­del in Unter­neh­men lässt sich mit Bea & Scheu­rer (2011, S. 425ff.) an der immer bedeu­ten­de­ren Rol­le von Pro­jek­ten erken­nen. Sei Pro­jekt­ar­beit frü­her eher ein Instru­ment der Unter­neh­mens­füh­rung unter ande­ren gewe­sen, so stell­ten Pro­jek­te mitt­ler­wei­le einen ste­tig wach­sen­den Teil des Umsat­zes dar. Dies erklä­re sich ins­be­son­de­re aus dem dezen­tra­len und par­ti­zi­pa­ti­ven Cha­rak­ter von Pro­jek­ten, der es Unter­neh­men ermög­li­che, Ver­än­de­run­gen nicht nur schnel­ler wahr­zu­neh­men, son­dern sich auch schnel­ler anzu­pas­sen, was Pro­jek­te zum „idea­len Nukle­us für eine ler­nen­de Orga­ni­sa­ti­on“ mache und damit zum „Ein­satz in dyna­mi­schen Umfel­dern“ prä­de­sti­nie­re (bei­de Zita­te: Bea & Scheu­rer 2011, S. 426). In Zukunft sei zu erwar­ten, dass Pro­jek­te in eini­gen Geschäfts­fel­dern zum pri­mä­ren Modus des Geschäf­tes wer­den. 

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Abbil­dung: Ent­wick­lung der Rol­le von Pro­jek­ten im Rah­men der Unter­neh­mens­füh­rung (vgl. Bea & Scheu­rer 2011, S. 428), dar­ge­stellt vor dem Hin­ter­grund der mit dem Wan­del von der Hoch- zur Post­mo­der­ne ein­her­ge­hen­den Ent­gren­zung von Orga­ni­sa­tio­nen (vgl. Beck et al. 2004; Jung 2010); Abbil­dung: eige­ne Darstellung

Die in der Abbil­dung visua­li­sier­ten Ent­wick­lun­gen stel­len ein Bei­spiel für die oft pos­tu­lier­te Ver­la­ge­rung der Inno­va­ti­on vom Kern der Orga­ni­sa­ti­on an ihren Rand bzw. in das die Orga­ni­sa­ti­on umge­ben­de Netz­werk statt. Nicht mehr das kon­ti­nu­ier­li­che Unter­neh­mens­ge­sche­hen bil­det den Mit­tel­punkt des Gesche­hens, son­dern Pro­jek­te als gleich­sam kas­ka­die­ren­der Manage­ment­pro­zess zum Umgang mit den jeweils aktu­el­len – und sich gege­be­nen­falls schnell wie­der ändern­den – Gege­ben­hei­ten: Im Rah­men eines pro­jekt­ori­en­tier­ten Unter­neh­mens ver­schmel­zen die orga­ni­sa­tio­na­len Kom­pe­ten­zen des Pro­jekt­ma­nage­ments im Grun­de mit den orga­ni­sa­tio­na­len Kom­pe­ten­zen aus Sicht der Unternehmensführungslehre.

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Abbil­dung: Ver­la­ge­rung der Durch­set­zungs­stär­ke und der Inno­va­ti­ons­im­pul­se von der Orga­ni­sa­ti­ons­lei­tung (OL) an den Rand der Orga­ni­sa­ti­on bzw. in Netz­wer­ke (vgl. Sch­ar­mer 2011, S. 36f.); Abbil­dung: eige­ne Darstellung

Zu dem hier beschrie­be­nen Wan­del von moder­nen, hier­ar­chi­schen, nach außen „rand­scharf“ abge­grenz­ten hin zu eher post­mo­der­nen, netz­werk­ar­ti­gen, nur­mehr „kern­prä­gnan­ten“ Orga­ni­sa­ti­ons­for­men und der Zunah­me an tem­po­rä­ren und hoch fle­xi­blen Arbeits­for­men kommt als drit­ter Trend der zu beob­ach­ten­de Wer­te­wan­del: Das Den­ken über Orga­ni­sa­tio­nen wur­de immer vom jewei­li­gen Zeit­geist bzw. den herr­schen­den Men­schen­bil­dern beein­flusst und wirk­te ande­rer­seits auch auf die­se zurück. Wie im nach­fol­gen­den Abschnitt noch genau­er dar­zu­stel­len sein wird, tru­gen die Men­schen­bil­der wäh­rend der ers­ten bei­den Drit­tel des 20. Jahr­hun­derts einen jeweils stark gene­ra­li­sie­ren­den Cha­rak­ter. Erst im letz­ten Drit­tel des Jahr­hun­derts ver­such­te man, den Gene­ra­li­sie­run­gen zu begeg­nen, indem man indi­vi­du­el­le und grup­pen­be­zo­ge­ne Unter­schie­de ein­be­zog, weil man ver­stan­den hat­te, dass Unter­neh­mens­stra­te­gien, die ledig­lich auf den Annah­men eines Men­schen­bil­des beruh­ten, der kom­ple­xen Unter­neh­mens­pra­xis nicht gerecht wur­den. So erwie­sen sich die Annah­men über den homo oeco­no­mic­us in bestimm­ten Situa­tio­nen als hilf­reich, in ande­ren dage­gen nicht. Ähn­lich ver­hielt es sich mit den Pos­tu­la­ten des Human-Rela­ti­on-Ansat­zes oder ver­schie­de­ner Moti­va­ti­ons­theo­rien. So kann ein Stre­ben nach Selbst­ver­wirk­li­chung kei­nes­falls jedem arbei­ten­den Men­schen glei­cher­ma­ßen unter­stellt wer­den. Das mit Aus­gang des 20. Jahr­hun­derts ent­stan­de­ne Bild des com­plex man lässt sich als Ver­such ver­ste­hen, die bis­he­ri­gen Men­schen­bil­der mit­ein­an­der zu verbinden.

Zen­tra­le Annah­men über die Natur des Men­schen (vgl. Kirch­ler et al. 2008, S. 126):

  1. homo oeco­no­mic­us: Der Mensch will sei­nen Nut­zen maximieren.
  2. social man: Der Mensch hat ein Grund­be­dürf­nis nach sozia­lem Kontakt.
  3. self-actua­li­zing man: Der Mensch strebt nach Selbst­ver­wirk­li­chung und sucht nach intrin­sisch moti­vie­ren­den Tätigkeiten.
  4. com­plex man: Es las­sen sich kei­ne gene­rel­len Aus­sa­gen tref­fen. Bedürf­nis­se und Moti­ve vari­ie­ren von Per­son zu Per­son und sind abhän­gig von der indi­vi­du­el­len Ent­wick­lung und der jewei­li­gen Situa­ti­on. Dar­über hin­aus ändern sich Moti­ve im Lau­fe der Zeit oder auch in Abhän­gig­keit vom jewei­li­gen Arbeits­be­reich. Auch kann ein wenig moti­vier­ter Mensch eine ähn­li­che Leis­tung erbrin­gen wie ein hoch motivierter.

Der oben beschrie­be­ne gene­rel­le Wan­del voll­zieht sich ins­be­son­de­re in den drei Berei­chen (1) Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gie, (2) Demo­gra­phie sowie (3) Arbeits­ab­läu­fe und ist von so umfas­sen­der Natur, dass er auch die aktu­el­len Men­schen­bil­der ver­än­dert. So ist gegen­wär­tig häu­fi­ger vom Wis­sens­ar­bei­ter (vgl. Dru­cker 1999) die Rede. Hatch (1997) kon­zep­tua­li­siert einen post­mo­dern man, für den Krea­ti­vi­tät, Frei­heit und Selbst­ver­ant­wor­tung von beson­de­rer Bedeu­tung sind. Die­se post­mo­der­nen Wer­te lösen die Leit­bil­der der Moder­ne wie Reich­tum oder Auto­ri­tät ab. Arbeit dient dem post­mo­der­nen Wis­sens­ar­bei­ter nicht mehr der Erlan­gung von Sta­tus, Geld und Sicher­heit, son­dern hat eher Funk­tio­nen wie Krea­ti­vi­tät, Sinn und Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung. (Vgl. Kirch­ler et al. 2008, S. 166ff.)

Die bis­he­ri­gen Dar­stel­lun­gen bedeu­ten nicht, dass der Wer­te­wan­del von so tief­grei­fen­der Natur ist, dass er alle Unter­neh­men und Orga­ni­sa­tio­nen erfasst. Der Wer­te­wan­del, die ver­än­der­ten Leit­bil­der und Bedürf­nis­se von Arbeit­neh­mern und Füh­rungs­kräf­ten sowie die dar­aus resul­tie­ren­de Kri­tik an aus­schließ­li­cher Effi­zi­enz­ori­en­tie­rung bil­den zwar einen wich­ti­gen Motor des Wan­dels, der aber nicht alle Unter­neh­men und Bran­chen in glei­cher Wei­se erfas­sen kann und wird. Sch­ar­mer (2011, S. 39) sieht „den Beginn einer tie­fen zivi­li­sa­to­ri­schen Tei­lung“ zwi­schen zwei Arten von Unter­neh­men, deren ers­te „die Ave­nue als Effi­zi­enz­ma­schi­nen“ hin­ab rauscht, ohne dabei nach rechts und links zu sehen, deren zwei­te Art aber „beginnt, von Inspi­ra­ti­on getra­ge­ne Netz­wer­ke auf­zu­bau­en, um eine nach­hal­ti­ge Welt­ord­nung zu schaf­fen, die sich als belast­bar, gut ver­knüpft und quick­le­ben­dig erweist“.

Genau sagt Sch­ar­mer (2011, S. 39):

„In der Ver­gan­gen­heit haben wir zwei unter­schied­li­che Geschäfts­stra­te­gien gese­hen: Auf Pro­dukt­merk­ma­le und auf Kos­ten basie­ren­de. In Zukunft wer­den wir zwei Orga­ni­sa­ti­ons­for­men erle­ben: Die ers­te ist eine Grup­pe schlan­ker, durch­schnitt­li­cher Effi­zi­enz­ma­schi­nen ohne Herz und See­le, denen es nicht gelingt, sich mit den Zie­len ihrer Inves­to­ren, Beschäf­tig­ten, Part­ner, Kun­den, sozia­len Umfel­der und Mana­ger zu iden­ti­fi­zie­ren. Die zwei­te Grup­pe bil­den Orga­ni­sa­tio­nen, die inspi­riert, reflek­tiert und zweck­ori­en­tiert han­deln. Die­ser Zweck kann sich in viel­fäl­ti­ger Form arti­ku­lie­ren. Aber im Kern wird er stets das Wohl­erge­hen der All­ge­mein­heit im Blick haben. Was wir heu­te erle­ben, ist der Beginn einer tie­fen zivi­li­sa­to­ri­schen Tei­lung. Eine Grup­pe der Orga­ni­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen rauscht die Ave­nue als Effi­zi­enz­ma­schi­nen hin­ab (ohne sich ihrer Umfel­der bewusst zu wer­den). Die ande­re Grup­pe beginnt, von Inspi­ra­ti­on getra­ge­ne Netz­wer­ke auf­zu­bau­en, um eine nach­hal­ti­ge Welt­ord­nung zu schaf­fen, die sich als belast­bar, gut ver­knüpft und quick­le­ben­dig erweist. Wir wer­den auf den bei­den Wegen Erfol­ge und Miss­erfol­ge erle­ben und es ist die Ent­schei­dung jeder und jedes Ein­zel­nen, wel­cher Bewe­gung sie oder er ange­hö­ren möchte.“

Ange­nom­men, die­se The­se sei jen­seits ihrer viel­leicht etwas pathe­ti­schen For­mu­lie­rung nicht falsch – und ange­nom­men, struk­tu­rel­le Sta­bi­li­tät sei, wie ein­gangs dar­ge­stellt wur­de, nicht die Regel, son­dern tat­säch­lich die Aus­nah­me, dann besteht ein Spek­trum zwi­schen Effi­zi­enz­ori­en­tie­rung und ent­spre­chen­der Stan­dar­di­sie­rung einer­seits und Wand­lungs- bzw. Netz­werk­ori­en­tie­rung mit Nach­hal­tig­keit als ers­tem stra­te­gi­schen Ziel ande­rer­seits. Eine der aus unse­rer Sicht wich­tigs­ten aktu­el­len Fra­gen der stra­te­gi­schen Unter­neh­mens­ent­wick­lung ist die nach der Ver­or­tung eines Unter­neh­mens auf die­sem Spek­trum. Wir möch­ten dabei nicht so weit gehen wie Otto Sch­ar­mer und von einer Tei­lung der Wel­ten spre­chen, und wir mei­nen, dass die­se Fra­ge auch nicht so eng in Ver­bin­dung mit Wer­ten betrach­tet wer­den soll­te – obwohl Effi­zi­enz als Leit­kri­te­ri­um ohne ein Wer­te­fun­da­ment nicht denk­bar ist und drin­gend eines ethi­schen Kor­rek­tivs bedarf. Viel­mehr zei­gen unse­re Erfah­run­gen, dass heu­ti­ge Orga­ni­sa­tio­nen eine gewis­se Fle­xi­bi­li­tät auf dem beschrie­be­nen Spek­trum brau­chen und mit den gegen­wär­ti­gen Ver­än­de­run­gen sehr bewusst umge­hen müs­sen, um das jeweils rich­ti­ge Gleich­ge­wicht zwi­schen Wand­lungs­ori­en­tie­rung und Inno­va­ti­ons­fä­hig­keit auf der einen und Effi­zi­enz­ori­en­tie­rung und Stan­dar­di­sie­rung auf der ande­ren Sei­te zu fin­den. Inso­fern ste­hen Füh­rungs­kräf­te vor para­do­xen Auf­ga­ben: Zu wenig Stan­dar­di­sie­rung ver­rin­gert die Mar­gen, sorgt aber für ein ver­än­de­rungs­freund­li­ches Kli­ma, in dem eine Um- oder Neu­ori­en­tie­rung mög­lich wird; zu viel Stan­dar­di­sie­rung hin­ge­gen sorgt zwar eine Zeit lang für opti­ma­le Pro­zes­se und ent­spre­chen­de Mar­gen, ver­rin­gert aber die Anpas­sungs- und Inno­va­ti­ons­fä­hig­keit, auch mit Blick auf die Nach­hal­tig­keit. Eine nach­hal­ti­ge Unter­neh­mens­ent­wick­lung „mäan­dert“ aus unse­rer Sicht zwi­schen Pha­sen der Stan­dar­di­sie­rung und Pha­sen der Offen­heit. Wan­del hat dem­entspre­chend weni­ger mit der Imple­men­tie­rung einer „rich­ti­gen“ Stra­te­gie zu tun,  mit der Fähig­keit, durch­gän­gig stra­te­gisch zu den­ken, die Zügel im rich­ti­gen Moment zu lockern und als Orga­ni­sa­ti­on zu ler­nen. 

Was wir hier sagen, bedeu­tet auch, dass sich nicht nur Unter­neh­men hin­sicht­lich des Gra­des ihrer Stan­dar­di­sie­rung und Hier­ar­chi­sie­rung von­ein­an­der unter­schei­den, son­dern dass es inner­halb eines Unter­neh­mens völ­lig unter­schied­lich orga­ni­sier­te bzw. geführ­te Berei­che geben kann – je nach Auf­ga­be, kul­tu­rel­ler Zusam­men­set­zung, Rele­vanz oder Eta­bliert­heit des Berei­ches. Bei­spie­le dafür stel­len Orga­ni­sa­ti­ons­mo­del­le wie „Unter­neh­men im Unter­neh­men“ oder „Busi­ness­u­nits“ dar. Auch man­che Post-Mer­ger-Anstren­gun­gen hin­ter­las­sen zuwei­len sehr hete­ro­ge­ne Organisationslandschaften.

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war selbst mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und weiteren Kolleginnen im Landkreis Görlitz einen Familienhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch sowie Russisch. Er ist an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt und an mehreren Universitäten und Hochschulen als Lehrbeauftragter tätig, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.