Zwei Welten der Arbeit – Warum populäre Führungs- und Motivationstheorien nicht überall funktionieren

In vie­len Trai­nings zu Füh­rung und Moti­va­ti­on wer­den Theo­rien und Kon­zep­te wie trans­for­ma­tio­na­le Füh­rung, Selbst­be­stim­mungs­theo­rie oder die Zwei-Fak­to­ren-Theo­rie der Moti­va­ti­on als „irgend­wie uni­ver­sel­le“ Ansät­ze prä­sen­tiert. Doch in der Pra­xis zeigt sich: Nicht jede Orga­ni­sa­ti­on bie­tet die struk­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen, um die­se Theo­rien erfolg­reich anzuwenden.

In die­sem Bei­trag geht es dar­um, dass die Anwend­bar­keit von Füh­rungs- und Moti­va­ti­ons­mo­del­len vom Orga­ni­sa­ti­ons­typ abhängt. Gezeigt wird das am Bei­spiel zwei­er grund­ver­schie­de­ner Typen von Orga­ni­sa­tio­nen — und zwar zum einen Orga­ni­sa­tio­nen mit hohem Gestal­tungs­spiel­raum und zum ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen mit einem hohen Routineanteil.

Organisationen mit hohem Gestaltungsspielraum

In Unter­neh­men, die viel Tätig­keits- und Ent­schei­dungs­spiel­raum ermög­li­chen, lässt sich das Modell der trans­for­ma­tio­na­len Füh­rung erfolg­reich anwen­den. Hier kön­nen Mit­ar­bei­ter Auf­ga­ben vom Anfang bis zum Ende durch­den­ken, gestal­ten und ausführen:

  • Die Pla­nung und Umset­zung von Auf­ga­ben, ggf. sogar bestimm­te Ent­schei­dun­gen oder auch die Bewer­tung der Ergeb­nis­se lie­gen in der Hand der Ausführenden.
  • Sie haben ggf. auch Auto­no­mie dar­über, wann, wie und mit wel­chen Res­sour­cen sie arbeiten.
  • Sie erle­ben Selbst­wirk­sam­keit, da sie Ergeb­nis­se unmit­tel­bar beein­flus­sen können.

Hier grei­fen Kon­zep­te wie die trans­for­ma­tio­na­le Füh­rung – weil Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter an und mit ihren Auf­ga­ben wach­sen kön­nen. Sie ent­wi­ckeln sich mit ihrer Ver­ant­wor­tung wei­ter, erle­ben Sinn in ihrer Tätig­keit und schöp­fen Moti­va­ti­on aus der Auf­ga­be, aus der Aner­ken­nung dafür und aus per­sön­li­chem Fortschritt.

Typi­sche Bei­spie­le für die­se Orga­ni­sa­ti­ons­welt: For­schungs­in­sti­tu­te, Start-ups, krea­ti­ve Beru­fe, wis­sens­in­ten­si­ve Branchen.

Organisationen mit starkem Routineanteil

Doch es gibt auch eine ande­re Welt – eine Welt, die in vie­len Füh­rungs­kon­zep­ten über­se­hen wird. In Unter­neh­men mit hohem Rou­ti­ne­an­teil ist der indi­vi­du­el­le Hand­lungs­spiel­raum stark begrenzt:

  • Die Auf­ga­ben sind klar defi­niert und wie­der­ho­len sich oft. Eine Pfle­ge­rin sieht jeden Mor­gen die glei­chen Leu­te und folgt jeden Mor­gen den glei­chen Abläufen
  • Der Ent­schei­dungs­raum ist klein – Regeln, Abläu­fe und Sicher­heits­vor­ga­ben bestim­men den Arbeitsalltag.
  • Wenig Selbst­wirk­sam­keits­er­fah­rung – Mit­ar­bei­ten­de kön­nen ihre Tätig­kei­ten kaum ver­än­dern oder gestalten.

Hier funk­tio­nie­ren vie­le heu­te popu­lä­re Füh­rungs- und Moti­va­ti­ons­kon­zep­te nicht. Das liegt nicht etwa an einer „schlech­ten Anwen­dung“ die­ser Kon­zep­te, son­dern an der Struk­tur der Arbeit selbst.

Bei­spie­le für die­se Orga­ni­sa­ti­ons­welt: Pfle­ge­hei­me, Fabri­ken mit repe­ti­ti­ven Abläu­fen, Callcenter.

Wäh­rend in „wis­sens­ge­trie­be­nen“ Orga­ni­sa­tio­nen die Füh­rungs­kraft eher als „Ermög­li­cher“, „Ent­wick­lungs­be­glei­ter“ oder „Coach“ fun­giert, ist die Füh­rungs­kraft in „rou­ti­n­ege­trie­be­nen“ Orga­ni­sa­tio­nen jemand, die oder der Zie­le vor­gibt, Pro­blem­lö­sun­gen mode­riert, Abläu­fe und Ergeb­nis­se über­wacht, Kon­flik­te bear­bei­tet, Erwar­tun­gen einer­seits erfragt und ande­rer­seits for­mu­liert, Min­der­leis­tun­gen the­ma­ti­siert und ggf. eska­liert usw. Das sind zwei völ­lig ver­schie­de­ne Rol­len. Die ent­fal­tungs­ori­en­tier­ten Moti­va­ti­ons­fak­to­ren der einen Welt gel­ten kaum in der ande­ren Welt. Dem­entspre­chend braucht man in der ande­ren, rou­ti­ne­ori­en­tier­te­ren Welt manch­mal auch ein „fes­te­res“ Füh­rungs­ver­ständ­nis. Die Grün­de, war­um man arbei­tet, unter­schei­den sich in bei­den Wel­ten erheblich.

Den­noch gibt es einen Fak­tor, der in bei­den Wel­ten wirk­sam ist, und der oft unter­schätzt wird.

Das unterschätzte Element: Bindung als Motivationsfaktor

Obwohl die­se bei­den Wel­ten auf den ers­ten Blick sehr unter­schied­lich sind, gibt es einen gemein­sa­men Moti­va­ti­ons­kern, der oft unter­schätzt wird: Bindung.

Egal, ob jemand in einem krea­ti­ven Start-up arbei­tet oder als Ope­ra­tor in einer Chip­fa­brik – ein ent­schei­den­der Fak­tor, war­um Men­schen sich enga­gie­ren, ist die sozia­le Ver­bun­den­heit mit Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen sowie mit der Führungskraft.

War­um ste­he ich nachts auf und gehe zur Schicht?
→ Weil das mein Job ist, mit dem ich Geld ver­die­ne, weil ich mei­ne Auf­ga­be viel­leicht mag, aber auch, weil ich eine Ver­bun­den­heit mei­nen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen gegen­über spü­re, aus der her­aus sich eine gewis­se Ver­pflich­tung ergibt, sie nicht im Stich zu lassen.

War­um blei­be ich in einem mono­to­nen Job?
→ Weil das Team­kli­ma stimmt und der Vor­ge­setz­te ein anstän­di­ger Mensch ist, viel­leicht auch, weil der Job sicher ist und zur Gewohn­heit gewor­den ist.

Gera­de in Orga­ni­sa­tio­nen mit hohem Rou­ti­ne­an­teil wer­de ich von Füh­rungs­kräf­ten oft nach Moti­va­ti­ons­stra­te­gien gefragt. Es wäre dann wenig hilf­reich, die heu­te ver­brei­te­ten Kon­zep­te anzu­füh­ren, denn deren Anwend­bar­keit ist begrenzt. Man hat in Rou­ti­ne­jobs nur weni­ge Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten – wenn es sie gibt, soll man sie auch in Anwen­dung brin­gen. Aber im Kern geht es viel häu­fi­ger um extrin­si­sche Moti­va­ti­ons­fak­to­ren: Geld, Arbeits­zeit­re­ge­lun­gen, Ver­läss­lich­keit des Dienst- oder Schicht­plans usw. Und es geht dar­um, Ver­ständ­nis zu zei­gen, auf die Belan­ge der Men­schen ein­zu­ge­hen, ein Kli­ma des Ver­trau­ens und Zusam­men­halts zu schaf­fen. Es geht dar­um, dass Men­schen sich öff­nen und Ver­trau­en ent­wi­ckeln. Das hat direkt mit dem Inter­es­se zu tun, das die Füh­rungs­kraft den Men­schen in ihrem Team ent­ge­gen­bringt. Das hat auch mit Trans­pa­renz, Klar­heit und Ver­läss­lich­keit zu tun. Das eigent­li­che, gemein­sa­me Fun­da­ment der Moti­va­ti­on ist der Zusam­men­halt. Wer sich mit sei­nem Team und sei­ner Füh­rungs­kraft ver­bun­den fühlt, bleibt enga­giert. Wer sich iso­liert fühlt, gibt inner­lich auf oder kündigt.

Zusam­men­fas­send bedeu­tet das für Führungskräfte:

  • In Orga­ni­sa­tio­nen mit hohem Ent­schei­dungs­spiel­raum soll­ten sie Auto­no­mie und Ent­wick­lung fördern.
  • In Orga­ni­sa­tio­nen mit hohem Rou­ti­ne­an­teil soll­ten sie beson­ders auf Team­kul­tur, Fair­ness und Zusam­men­halt achten.

Jörg Hei­dig

PS: Lesen Sie hier einen Bei­trag über die Rele­vanz der emo­tio­na­len Dimen­si­on der Mit­ar­bei­ter­bin­dung für Moti­va­ti­on, Zufrie­den­heit mit dem Arbeit­ge­ber, Zufrie­den­heit mit der Bezah­lung usw.

PPS: Das Bei­trags­bild wur­de mit Hil­fe künst­li­cher Intel­li­genz erzeugt.

Von Jörg Heidig

Dr. Jörg Heidig, Jahrgang 1974, ist Organisationspsychologe, spezialisiert vor allem auf Einsatzorganisationen (Feuerwehr: www.feuerwehrcoach.org, Rettungsdienst, Polizei) und weitere Organisationsformen, die unter 24-Stunden-Bedingungen funktionieren müssen (bspw. Pflegeheime, viele Fabriken). Er war mehrere Jahre im Auslandseinsatz auf dem Balkan und hat Ende der 90er Jahre in Görlitz bei Herbert Bock (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Bock) Kommunikationspsychologie studiert. Er schreibt regelmäßig über seine Arbeit (www.prozesspsychologen.de/blog/) und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter u.a. "Gesprächsführung im Jobcenter" oder "Die Kultur der Hinterfragung: Die Dekadenz unserer Kommunikation und ihre Folgen" (gemeinsam mit Dr. Benjamin Zips: www.kulturderhinterfragung.de). Dr. Heidig lebt in der Lausitz und begleitet den Strukturwandel in seiner Heimat gemeinsam mit Stefan Bischoff von MAS Partners mit dem Lausitz-Monitor, einer regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsbefragung (www.lausitz-monitor.de). In jüngster Zeit hat Jörg Heidig gemeinsam mit Viktoria Klemm und ihrem Team im Landkreis Görlitz einen Jugendhilfe-Träger aufgebaut. Dr. Heidig spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und Serbokroatisch sowie Russisch. Er ist häufig an der Landesfeuerwehrschule des Freistaates Sachsen in Nardt tätig und hat viele Jahre Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten und Hochschulen gehalten, darunter an der Hochschule der Sächsischen Polizei und an der Dresden International University. Sie erreichen Dr. Heidig unter der Rufnummer 0174 68 55 023.